#7/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie (VRUG)

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund befürwortet die Schaffung eines neuen Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetzes (VDuG) zur Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie (EU) 2020/1828 unter Integration der bisher in der ZPO enthaltenen Regelungen zur Musterfeststellungsklage.

Allerdings bestehen erhebliche Zweifel, ob der Gesetzesentwurf in der vorliegenden Form, insbesondere die konkrete Ausgestaltung der neu eingeführten Abhilfeklage, zu einer Entlastung der Zivilgerichte von Individualklagen führen wird.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

Angesichts der äußerst kurzen Frist zur Stellungnahme ist es für den Deutschen Richterbund zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, im Detail zu dem Inhalt des Entwurfs Position zu beziehen. Deshalb beschränkt sich die nachfolgende Stellungnahme auf eine erste Einschätzung zu den wichtigsten Neuregelungen des VDuG, des BGB und der ZPO unter Berücksichtigung der innerhalb der Bundesregierung noch diskutierten „offenen Punkte“ sowie insbesondere der zu erwartenden Auswirkungen auf die Belastung der Justiz.

 

1.  Anwendungsbereich des VDuG, § 1 VDuG-E

Der Deutsche Richterbund befürwortet den gegenüber Art. 2 (1) der Verbandsklagerichtlinie weiteren Anwendungsbereich von Verbandsklagen auf alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zur Geltendmachung von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen Verbrauchern und Unternehmern (§ 1 Abs. 1 VDuG-E). Diese Regelung entspricht dem weiten Anwendungsbereich der Musterfeststellungsklage gemäß § 606 Absatz 1 Satz 1 ZPO a.F. und damit dem bereits geltenden Verbraucherschutz-standard, der aufrechterhalten werden sollte. Auch die Möglichkeit, dass kleine Unternehmen sich der Verbandsklage anschließen können (§ 1 Abs. 2 VDuG), begegnet aus Sicht des Deutschen Richterbundes keinen Bedenken.

 

2. Klagebefugnis, § 2 VDuG-E

Der Deutsche Richterbund erachtet die eher enge Klagebefugnis für die Verbandsklage in Anlehnung an § 606 Abs. 1 ZPO a.F. betreffend die Musterfeststellungsklage für ausreichend und hält es nicht für notwendig, dass sich die Klagebefugnis an § 3 UKlaG a.F. orientiert. Eine Verschlechterung des bestehenden Verbraucherschutzniveaus ist damit nicht verbunden. Denn die qualifizierten Einrichtungen, die in der Liste nach § 4 Absatz 1 UKlaG eingetragen sind, können auch nach dem Inkrafttreten des VDuG weiterhin innerstaatliche Unterlassungsklagen im Sinne der Verbandsklagerichtlinie erheben, ohne dass sie zusätzliche Anforderungen erfüllen müssen. Die Geltendmachung von weitergehenden Ansprüchen auf Feststellung und Leistung (Abhilfe) sollte dem engeren Kreis des § 2 VDuG-E vorbehalten bleiben.

 

3. Gruppenklage?

Soweit innerhalb der Bundesregierung offenbar über die Vorgaben der Verbandsklagerichtlinie hinaus die Einführung einer „Gruppenklage“ diskutiert wird, mit der einzelne Geschädigte selbst im Wege eines echten auf Leistung gerichteten Gruppenverfahrens eine Entschädigung aller Gruppenmitglieder erwirken können, erachtet der Deutsche Richterbund dies jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt weder für erforderlich noch für sinnvoll. Vielmehr sollte zunächst die Entwicklung nach Inkrafttreten des VDuG abgewartet werden, bevor die Notwendigkeit der Einführung und gegebenenfalls der Anwendungsbereich einer weiteren Klageart zuverlässig beurteilt werden können.

 

4. Zuständigkeit, § 3 VDuG-E

Die einheitliche Zuweisung der Verbandsklagen zu den Oberlandesgerichten entspricht der bisher geltenden Regelung zum Musterfeststellungsverfahren und erscheint angesichts der erheblichen Bedeutung und umfassenden Auswirkungen dieser Verfahren sachgerecht.

Allerdings wird es in diesem Zusammenhang erforderlich sein, mit Inkrafttreten des Gesetzes ein neues PEBB§Y-Produkt für Verbandsklagen bei den Oberlandesgerichten mit einer zunächst zu schätzenden Basiszahl einzuführen, weil die bisher vorhandenen PEBB§Y-Produkte in keiner Weise den tatsächlichen Personalaufwand in den zu erwartenden sehr komplexen aufwändigen Verbandsklage- und insbesondere in den neuartigen Abhilfeverfahren abbilden können. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht (mehr) sachgerecht, sämtliche Verbandsklageverfahren – wie bisher die den Oberlandesgerichten nach § 119 Absatz 3 Satz 1 GVG zur erstinstanzlichen Verhandlung und Entscheidung zugewiesenen Musterfeststellungsverfahren – als Bezugsgröße jeweils den PEBB§Y-Produkten RO 012, GO 010 und MO 010 zuzuordnen.

 

5. Sperr- und Bindungswirkung, § 11 VDuG-E

Die Regelung über die Aussetzung der Individualklage bei Anmeldung des Verbrauchers zur Verbandsklage in § 11 Abs. 1 VDuG-E entspricht § 613 Abs. 2 ZPO a.F. und ist aus Sicht des Deutschen Richterbundes nicht nur sinnvoll, sondern zur Entlastung der Gerichte von Einzelklagen zwingend erforderlich.

Gleiches gilt für das Verbot der parallelen Individualklage in § 11 Abs. 2 VDuG-E.

Die in § 11 Abs. 3 VDuG-E vorgesehene Bindungswirkung der im Verbandsklageverfahren ergehenden rechtskräftigen Urteile für angemeldete Verbraucher ist wiederum angelehnt an § 613 Abs. 1 ZPO a.F. Die Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) sind hinreichend bekannt und auch vom Deutschen Richterbund bereits vor der Einführung der Musterfeststellungsklage erhoben worden (vgl. Fölsch, DRiZ 2018, S. 214 ff.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 613 Rn. 3; Röthemeyer, MDR 2019, S. 6 ff.). Andererseits würde eine lediglich einseitige Bindungswirkung zugunsten der Verbraucher dem Zweck des Verbandsklageverfahrens unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Waffengleichheit widersprechen sowie dem erklärten Gesetzesziel der Entlastung der Justiz entgegenstehen.

 

6. Zeitpunkt für den Anschluss an die Verbandsklage, § 46 Abs. 1 VDuG-E

Nach der Richtlinie können die Mitgliedstaaten bestimmen, ob sich die betroffenen Verbraucher ausdrücklich der Klage anschließen müssen (opt-in) oder auch ohne ausdrückliche Erklärung an der Klage beteiligt werden, wenn sie dies nicht ausdrücklich ablehnen (opt-out). Lediglich für Verbraucher, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, muss ein opt-in vorgesehen werden.

Der Deutsche Richterbund befürwortet die vom Entwurf vorgesehene Regelung, dass die Verbraucher sich der Verbandsklage bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung anschließen bzw. die Anmeldung wieder zurücknehmen müssen. Dies entspricht der Regelung in § 608 ZPO a.F., die sich für die Musterfeststellungsklage bewährt hat. Zwar können die Verbraucher nach der Anmeldung infolge der repräsentativen Wahrnehmung ihrer Interessen durch den klagenden Verband auf das Verfahren nur einen geringen Einfluss nehmen. Andererseits gehen sie selbst kein Kostenrisiko ein, weil die Anmeldung zum Verbandsklageregister gebührenfrei und ohne anwaltliche Vertretung möglich ist. Der Forderung nach einem späteren opt-in, bei dem der Einzelne vor seiner Entscheidung über den Verfahrensbeitritt zunächst den für ihn günstigen Ausgang der Verbandsklage abwarten kann, stehen auf der anderen Seite die Interessen der beklagten Unternehmer entgegen, die Sperr- und Bindungswirkung (auch) eines klageabweisenden Urteils auf alle angemeldeten Verbraucher zu erstrecken sowie bei den obligatorischen Vergleichsverhandlungen (dazu unten) einen Überblick über die Anzahl der Anspruchsberechtigten zu haben. Unabhängig von dieser Interessenabwägung kann aus Sicht des Deutschen Richterbundes das erklärte Ziel des Gesetzesentwurfs, die Justiz von massenhaften Individualklagen zu entlasten, allenfalls durch das frühe opt-in erreicht werden. Anderenfalls bestünde weder ein hinreichender Anreiz für die Verbraucher, mit einer Einzelklage – deren Verjährung ohne die Anmeldung nach dem vorliegenden Entwurf ohnehin nicht gehemmt wäre – abzuwarten, noch würde durch den Ausgang des Verbandsklageverfahrens Rechtssicherheit herbeigeführt, weil die einzelnen Verbraucher bei unliebsamem Ausgang des Verfahrens Individualklagen erheben können und werden. Unter diesen Umständen bliebe der Nutzen eines mit großem Aufwand geführten Verbandsklageprozesses bis zuletzt ungewiss und könnte u.U. bei Null liegen. Darüber hinaus stellte das Nebeneinander von kollektiver und individueller Rechtsverfolgung eine ineffiziente Mehrbelastung der Gerichte dar.

 

7. Reichweite der Verjährungshemmung, § 204a BGB-E

Vor dem Hintergrund der vorstehend befürworteten Systematik des frühen opt-ins bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung ist die unter Art. 7 des Gesetzesentwurfs vorgesehene Änderung des BGB (u.a.) durch Einfügung des § 204a zur Hemmung von Ansprüchen von angemeldeten Verbrauchern durch Verbandsklagen folgerichtig und sachgerecht.

Die innerhalb der Bundesregierung diskutierte Frage, ob eine weitergehende Verjährungshemmung auch für Ansprüche nicht angemeldeter Verbraucher erfolgen soll, steht ersichtlich im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt des opt-ins. Insofern ist lediglich der Vollständigkeit halber anzumerken, dass für den Fall einer – diesseits klar abgelehnten, s.o. – Verschiebung dieses Zeitpunkts nach hinten (bzw. gar bis nach Abschluss des Verfahrens) nach Auffassung des Deutschen Richterbundes zwingend auch eine entsprechende abweichende Regelung der Verjährungshemmung erfolgen müsste. Anderenfalls wären die den Ausgang des Verbandsklageverfahrens abwartenden Verbraucher gezwungen, zur Verjährungshemmung Einzelklagen zu erheben, die wiederum das Gericht mangels Anmeldung zur Verbandsklage nicht aussetzen könnte. Die beabsichtige Entlastung der Justiz würde damit ins Leere laufen.

 

8. Ausgestaltung der Abhilfeklage, §§ 14 ff. VDuG-E

Die vorgesehene Gliederung des gerichtlichen Abhilfeverfahrens in drei Phasen (Abhilfegrundurteil, Vergleichsphase, Umsetzungsverfahren) erscheint zwar auf den ersten Blick relativ kompliziert und langwierig, dürfte aber angesichts des Zwecks der Richtlinie und des Gesetzes, eine einheitliche Klärung gleichartiger Ansprüche herbeizuführen und dabei nach Möglichkeit vorrangig auf eine gütliche Einigung hinzuwirken, grundsätzlich sinnvoll sein. Allerdings erscheint zweifelhaft, ob die konkrete Ausgestaltung der Abhilfeklage zu einer spürbaren Entlastung der Zivilgerichte, insbesondere von sog. Massenverfahren, führen wird.

Im Einzelnen:

a) Gleichartigkeit der Ansprüche (§ 15 VDuG-E)

Der Deutsche Richterbund teilt die Auffassung des Entwurfs, dass die Gleichartigkeit der geltend gemachten Verbraucheransprüche für eine prozessökonomische und zügige Entscheidung des Rechtsstreits wie auch für die spätere Umsetzung der Abhilfeentscheidung zwingend erforderlich ist. Die Voraussetzungen hierfür und damit für die Zulässigkeit der Abhilfeklage müssen so eng gefasst werden, dass das Gericht die Gesamtheit aller Ansprüche, wie von der Entwurfsbegründung vorgesehen, „schablonenhaft“ prüfen und sich nicht mit dem Einzelfall beschäftigen muss. Anderenfalls ist eine Entlastung der Justiz von vornherein ausgeschlossen, wenn nämlich unter dem „Deckmantel“ der Abhilfeklage eine Vielzahl von Einzelfallprüfungen – wie bei Individualklagen – vorgenommen werden müsste.

b) „3-Phasen-Modell“

Die Intention des Entwurfs, das Bestehen der Verbraucheransprüche in einem ersten Schritt mit einem Abhilfegrundurteil (§ 16 VDuG-E) festzustellen – wenn nicht die Klage abgewiesen wird –, ist zu befürworten. So kann in einem ersten Schritt über das „Ob“ der Anspruchsberechtigung entschieden werden.

Gleiches gilt für die Regelungen zu den Bemühungen um einen Vergleich (§ 17 i.V.m. § 9 f. VDuG-E), die nach der Richtlinie in jedem Stadium des Verfahrens zu entfalten sind, also auch und erst recht nach dem Erlass eines Grundurteils. Zu diesem Zeitpunkt dürfte die Wahrscheinlichkeit eines Vergleichsschlusses auch am höchsten sein, sofern der Unternehmer – wie vorstehend ausgeführt – aufgrund des frühen opt-ins den Umfang seiner Inanspruchnahme zuverlässig abschätzen kann. Den angemeldeten Verbrauchern verbleibt das Recht, den Austritt aus dem Vergleich zu erklären (§ 10 Abs. 1 VDuG-E); sie sind dann auch an einer anschließenden Individualklage nicht gehindert (§ 10 Abs. 2 VDuG-E).

Das Abhilfeendurteil (§ 18 VDuG-E), das ergeht, wenn ein Vergleich nicht zustande kommt, stellt eine konsequente Weiterführung des Verfahrens dar. Ob und wie in der Praxis die der Umsetzung fähige Tenorierung und die Schätzung eines gegebenenfalls auszuurteilenden kollektiven Gesamtbetrages gelingt, bleibt abzuwarten.

c) Darlegungs- und Beweislast

Der Deutsche Richterbund sieht nicht die als „offene Frage“ innerhalb der Bundesregierung diskutierte Notwendigkeit der Aufnahme einer zusätzlichen Regelung im VDuG zur Darlegungs- und Beweislast, die klageberechtigten Stellen die Beweisführung erleichtert, wenn eine von Klägerseite zu beweisende Tatsache lediglich dem Unternehmer bekannt ist. Hierfür reichen die allgemeinen Regeln des Zivilprozesses zur sekundären Darlegungslast aus.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der grundsätzlich bestehende Gleichlauf zwischen Darlegungs- und Beweislast durch die Grundsätze der sekundären Darlegungslast modifiziert. Danach darf sich der Gegner der (primär) darlegungspflichtigen Partei nicht auf ein einfaches Bestreiten beschränken, wenn die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner diese Kenntnis hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind. In diesen Fällen kann vom Prozessgegner im Rahmen des Zumutbaren das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsache unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden. Genügt er dem (gegebenenfalls nach richterlichem Hinweis gemäß § 139 Abs. 2 ZPO) nicht, ist der gegnerische Vortrag als zugestanden anzusehen.

d) Umsetzungsverfahren (§ 22 ff. VDuG-E)

Gegen die grundlegende Ausgestaltung des anschließenden Umsetzungsverfahrens zur Verteilung des kollektiven Gesamtbetrages durch einen Sachwalter bestehen seitens des Deutschen Richterbundes keine Bedenken.

Insoweit könnte allerdings erwogen werden, das Umsetzungsverfahren dem Amtsgericht am Sitz des Unternehmers zuzuweisen. Hierfür könnte u.a. die praktische Erfahrung des Amtsgerichts mit der Verteilung von Vermögensmassen unter Einsatz eines Treuhänders sprechen, etwa in Insolvenzverfahren und in anderen Verteilungsverfahren (z.B. nach der SVertO, vgl. Bruns, Rechtsgutachten zur Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie in deutsches Recht, erstattet im Auftrag von 14 Verbänden der deutschen Wirtschaft, veröffentlicht unter bdi.eu/publikation/news/nationale-umsetzung-der-eu-verbandsklage.)

e) Widerspruchsverfahren und Verhältnis zur Individualklage

Bedenken bestehen allerdings gegen die vom Referentenentwurf vorgesehene Ausgestaltung des Widerspruchsverfahrens (§ 28 VDuG-E) und insbesondere der Folgen eines erfolglosen Widerspruchs des Verbrauchers gegen die Ablehnung seines Anspruchs im Umsetzungsverfahren. Der Entwurf sieht vor, dass die Entscheidung des Sachwalters über den Widerspruch unanfechtbar ist, dem Verbraucher jedoch danach ohne Weiteres die Möglichkeit verbleibt, seinen behaupteten (weitergehenden) Anspruch in einem individuell geführten Gerichtsverfahren durchzusetzen. Hier wird also trotz des bereits durchgeführten Abhilfeklageverfahrens und dessen vermeintlicher Bindungswirkung ein Einfallstor für nachträgliche Individualklagen eröffnet, was den im Gesetzesentwurf betonten Entlastungseffekt der Abhilfeklage deutlich schmälert.

Insofern erscheint auch fraglich, ob die Einschätzung der Entwurfsbegründung zutrifft, Artikel 9 (6) der Richtlinie stehe der geplanten Regelung nicht entgegen. Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher aufgrund einer Abhilfeentscheidung Anspruch darauf haben, dass ihnen die in diesen Abhilfeentscheidungen vorgesehene Abhilfe zugutekommt, ohne eine gesonderte Klage erheben zu müssen. Diesen Anforderungen könnte z.B. Genüge getan werden, indem die Entscheidung des Sachwalters über den Widerspruch innerhalb des Abhilfeverfahrens anfechtbar ausgestaltet wird bzw. das Gericht nach erfolglosem Widerspruch des Schuldners „nur“ über die Begründetheit des Widerspruchs bzw. Feststellung der Leistungsberechtigung des Schuldners entscheidet und die abschließende Entscheidung hierüber eine nachfolgende Individualklage ausschließt.

 

9. Erweiterte Möglichkeit der Aussetzung des (Individual-)Verfahrens, § 148 Abs. 2 ZPO-E

Der Deutsche Richterbund befürwortet die vorgeschlagene Neuregelung des § 148 Abs. 2 ZPO, nach der es ins Ermessen des Gerichts gestellt wird, das individuelle Zivilverfahren im Hinblick auf eine spätere Verwertung eines Gutachtens nach § 411a ZPO auszusetzen. Die Praxis der mit Massenverfahren befassten Gerichte erhofft sich hierdurch eine Entlastung bzw. verfahrensökonomische Synergieeffekte. Da Voraussetzung für die Aussetzung eine bereits begonnene Beweisaufnahme eines anderen Gerichts ist, droht keine Verfahrensverzögerung zu Lasten der Parteien, deren Rechte im späteren Verfahren nach § 411a ZPO auch im Übrigen gewahrt bleiben.

 

10. Fazit zur Entlastung der Justiz

Der vom Gesetzesentwurf an mehreren Stellen betonte Zweck der Entlastung der Justiz dürfte mit dem VDuG in der vorliegenden Form allenfalls teilweise erreicht werden. Verbraucher, die sich nicht auf den Ausgang einer womöglich langwierigen Verbandsklage verlassen wollen und sich ihr erst gar nicht anschließen, werden ohnehin wie bisher individuell klagen. Nach den Erfahrungen der Praxis, insbesondere in den sog. Dieselverfahren, lässt sich ein Großteil der Verbraucher nicht von einer Individualklage abhalten, weil die Kläger sich davon – regelmäßig auf Kosten einer Rechtsschutzversicherung und beraten durch entsprechend spezialisierte Rechtsanwälte – die Durchsetzung einer höheren Forderung versprechen. Aber auch den zum Verfahren angemeldeten Verbrauchern steht unter den vorgenannten Umständen noch die Individualklage nach Austritt aus dem Vergleich oder nach erfolglosem Widerspruch im Umsetzungsverfahren offen. Darüber hinaus bleiben auch Sammelinkassoklagen möglich, für die Verbraucher ihre Ansprüche abtreten.

Nach alledem bleibt es dabei, dass sich die weiterhin rollende Welle der Massenverfahren ohne deutlich weitergehende Gesetzesänderungen, wie sie der Deutsche Richterbund (vgl. DRB-Initiativstellungnahme Nr. 1/2022) und die Justizministerkonferenz fordern (vgl. DRiZ 2022, S. 238 ff.), kaum brechen lassen wird.