#6/2022

Stellungnahme zur Praxisumfrage „Massenverfahren im arbeitsgerichtlichen Verfahren effizienter gestalten und Rechtsschutzdefizite beseitigen“

 

Der Deutsche Richterbund begrüßt den Beschluss der Justizministerinnen und Justizminister vom November 2021 zur Bildung einer Arbeitsgruppe zur Prüfung der Einführung geeigneter Instrumente im arbeitsgerichtlichen Verfahren.

Im Herbst 2021 hat der Deutsche Richterbund eine Arbeitsgemeinschaft Massenverfahren eingerichtet, um Lösungsansätze zur besseren Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz zu erarbeiten. Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren Richterinnen und Richter mit eigenen praktischen Erfahrungen im Umgang mit Massenverfahren. Sämtliche von dieser Arbeitsgruppe entwickelten Lösungsvorschläge, die sich auch mit den
Massenverfahren im Arbeitsrecht befassen, haben am 29. April 2022 die einstimmige Zustimmung der Bundesvertreterversammlung des Deutschen Richterbundes gefunden. Sie sind im Mai 2022 als Initiativstellungnahme zur besseren Bewältigung von Massenverfahren in der Justiz veröffentlicht worden (DRB Stellungnahme Nr. 1/2022).

 

In Ergänzung zu der Initiativstellungnahme nimmt der Deutsche Richterbund zu den in der Praxisumfrage aufgeworfenen Fragen wie folgt Stellung:

 

1.a. Lassen sich bei der Partei, die in allen Verfahren der „Serie“ beteiligt ist, typische Merkmale feststellen (z.B.: im Hinblick auf die Unternehmensgröße oder Konzernzugehörigkeit)?

Nein, typische Merkmale lassen sich weder im Hinblick auf die Unternehmensgröße noch die Konzernzugehörigkeit feststellen.

 

1.b. Gibt es bei den „Serien“ rechtliche oder tatsächliche Fragestellungen, die in allen Verfahren gleich zu beantworten sind, sich also gewissermaßen „vor die Klammer“ ziehen lassen?

Als rechtliche Fragestellungen dieser Art kommen die Anwendbarkeit und Auslegung betrieblicher und/oder tariflicher Regelungen in Betracht. In tatsächlicher Hinsicht können in Massenverfahren, die z. B. Kündigungen infolge von Betriebsänderungen oder -schließungen betreffen, Fragen hinsichtlich der ordnungsgemäßen Betriebsratsbeteiligung und der ordnungsgemäßen Einbindung der Arbeitsagenturen sowie der sozialen Rechtfertigung der Kündigung für alle Verfahren der Serie gleich zu beantworten sein. Dies ist aber nicht zwingend, weil die tatsächlichen Voraussetzungen im Einzelfall auch divergieren können, z. B. bei der Sozialauswahl. Erschwerend kann hinzukommen, dass insbesondere die klagenden Parteien durch unterschiedliche Prozessbevollmächtigte oder (in der ersten Instanz) gar nicht vertreten werden und der Sachvortrag unterschiedlich sein kann.

 

1.c. Welche Streitgegenstände liegen den „Serien“ zu Grunde und welche Anspruchsziele werden verfolgt?

Die aufgetretenen Serien hatten folgende Streitgegenstände:

  • Betriebliche Altersversorgungsansprüche (Zahlung, Anpassung,
    Ablösung)

  • Kündigungsschutzverfahren (Massenentlassungen in Folge Betriebsänderungen oder -schließungen)

  • Zahlungsklagen (z. B. tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge)

  • Streitigkeiten im Zusammenhang mit Betriebsübergängen

 

1.d. Lassen sich typische Lebenssachverhalte feststellen, die den „Serien“ zu Grunde liegen?

Eine Verallgemeinerung lässt sich nicht feststellen. Einige Serien könnten im Zusammenhang mit dem Strukturwandel und den damit einhergehenden Branchenniedergängen stehen.

 

1.e. Sind die Interessen der Parteien auf der Klägerseite typischerweise gleichläufig oder gibt es typische Fälle, in denen die verschiedenen Kläger gegenläufige Interessen haben können?

Das Parteiinteresse auf Klägerseite ist höchst individuell und abhängig vom Streitgegenstand. Während in Streitigkeiten über Zahlungsansprüche die Interessen überwiegend gleichläufig sind, unterscheiden sie sich in Kündigungsschutzverfahren zum Teil elementar, nämlich dass eine klagende Partei den Erhalt des Arbeitsverhältnisses anstrebt und die andere klagende Partei an einer möglichst schnellen Beendigung mit Abfindung interessiert ist.

(Ziffer 2 ist in der Praxisumfrage nicht vorhanden)

 

3.a. Wurden die den identifizierten „Serien“ zugehörigen Gerichtsverfahren überwiegend über mehrere Instanzen geführt?

Nach den hier vorliegenden Informationen wurden solche Gerichtsverfahren nicht überwiegend über mehrere Instanzen geführt. Es scheint so zu sein, dass überwiegend Serien, die größere Unternehmen betreffen, insbesondere solche mit Konzernbezug, über mehrere Instanzen geführt werden.

 

3.b. Gab es – soweit bekannt – in den identifizierten „Serien“ widersprechende Instanzurteile?

Widersprechende Instanzurteile gibt es in sehr geringem Umfang.

 

3.c. Sind Fälle bekannt, in denen nach einer höchstrichterlichen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts weitere, der „Serie“ zugehörige Verfahren über mehrere Instanzen geführt wurden?  Wenn ja, lassen sich gemeinsame Begründungsstränge derjenigen Partei, zu deren Lasten die höchstrichterliche Rechtsprechung ausgefallen war und die in weiteren Verfahren eine andere Entscheidung erstrebte, erkennen? Insbesondere: Waren in diesem Fall in den weiteren Verfahren anders gelagerte zusätzliche Rechts- und/oder Tatsachenfragen von Bedeutung?

Vereinzelt sind solche Fälle aufgetreten, aber über die zusätzliche Rechts- und/oder Tatsachenfragen ist nichts bekannt.

 

4.a. Wird (ggf. im Einverständnis mit den Parteien bzw. auf Initiative der Parteien) von Aussetzungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht?

Eine Aussetzung nach § 148 ZPO kommt i.d.R. nicht in Betracht. Eine „Quasi-Aussetzung“, d.h. die Verfahren terminlos zu stellen, bedarf dem Einverständnis der Parteien. Dies ist abhängig vom Streitgegenstand. Wie oben bereits dargestellt, sind auf Seiten der klagenden Parteien oft eine Vielzahl unterschiedlicher Prozessbevollmächtigter beteiligt, deren Sachvortrag sich unterscheidet, was sich auch auf die Bereitschaft auswirkt, einer solchen Vorgehensweise zuzustimmen. Generell lässt sich feststellen, dass dies bei Zahlungsklagen häufiger vorkommt als z. B. in Kündigungsschutzverfahren.

 

4.b. Gibt es sonstige Koordinierungen, oder werden parallel gelagerte Verfahren „unkoordiniert“ und jeweils für sich geführt?

Im Rahmen der Möglichkeiten versuchen sich die Vorsitzenden der Kammern insbesondere hinsichtlich der Terminierungen, ggfs. auch instanzübergreifend, abzustimmen.

 

4.c. Lassen sich hier Unterschiede etwa im Hinblick auf beteiligte Parteien oder Verfahrensgegenstände feststellen?

Je mehr Prozessbevollmächtigte auf Seiten der klagenden Parteien an den Verfahren beteiligt sind, desto mehr Unterschiede können auftreten.

 

4.d. Wie wird die derzeitige Praxis des Umgangs mit „Serien“ bewertet?

Die Vorsitzenden nutzen die vorhandenen Möglichkeiten, um die auftretenden Serien möglichst effizient zu bearbeiten.

 

4.e. Lassen sich Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Insbesondere: Gibt es Vorschläge für verfahrensrechtliche Regelungen zur Aussetzung oder Verbindung von Verfahren?

Der Deutsche Richterbund hat sich bereits in seiner Stellungnahme Nr. 1/22 ausdrücklich dafür ausgesprochen, die Möglichkeit der Aussetzung nach § 148 ZPO im Hinblick auf ein beim Revisionsgericht anhängiges Vorabentscheidungs- oder Revisionsverfahren einzuführen (vgl. Ziff. 5.1.2. der Stellungnahme). Zu berücksichtigen ist hierbei, dass durch die im Arbeitsrecht vorgesehene Einbeziehung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter praktische Probleme bei der Bewältigung von Massenverfahren entstehen können (vgl. Ziff. 5.2. der Stellungnahme). Der Deutsche Richterbund spricht sich deshalb außerdem dafür aus, dass eine Aussetzungsentscheidung in allen Instanzen ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter möglich ist (vgl. Ziff. 5.2.2. der Stellungnahme). Darüber hinaus sollte die Möglichkeit der Entscheidung im schriftlichen Verfahren eröffnet sowie strukturelle Vorgaben hinsichtlich des Parteivortrages geschaffen werden (s. auch die Anmerkungen unter Ziff. 7.).

 

5.a. Lassen sich aus den bereits identifizierten „Serien“ Anhaltspunkte für konkrete Rechtsdurchsetzungsdefizite ableiten?

Insbesondere wäre es hilfreich, wenn eine Einschätzung zu folgenden Punkten erfolgt:

1. Lässt sich feststellen, dass in den identifizierten „Serien“ Parteien die weitere Rechtsverfolgung aufgeben, bevor die Rechtslage (höchstrichterlich) geklärt ist?

Insbesondere in Serien, die auf Zahlung gerichtet sind, geben die Parteien die weitere Rechtsverfolgung vor einer höchstrichterlichen Klärung nicht auf.

2. Wenn ja, lassen sich Aussagen dazu treffen, in welchem Prozessstand dies typischerweise geschieht?

Typisierende Angaben hierzu sind nicht möglich.

3. Lassen sich Aussagen dazu treffen, ob diesem Umstand Vergleichsabschlüsse zu Grunde liegen oder ob die Rechtsverfolgung insgesamt aufgegeben wird?

Ein Aufgeben der Rechtsverfolgung erfolgt in der Regel durch Vergleichsabschluss.

 

5.b. Lassen sich in der Praxis Fallgestaltungen identifizieren, in denen „Serien“ im oben genannten Sinne aufgrund der Gesamtumstände zu erwarten wären, diese jedoch ausbleiben? Bejahendenfalls wird gebeten, näher darzulegen, auf welche Erkenntnisse die Auskunft gestützt wird. 

Nein, solche Fallgestaltungen können nach den hier vorliegenden Informationen nicht identifiziert werden.

 

5.c. Wenn ja, lassen sich Aussagen über gemeinsame Charakteristika solcher ausbleibenden „Serien“ feststellen, etwa:

1. Bestimmte Branchen,

2. „Prekäre“ bzw. atypische Arbeitsverhältnisse (Befristungen, Niedriglohnsektor o.ä.),

3. Gewerkschaftlicher Organisationsgrad sowie Bestehen oder Fehlen eines Betriebsrats,

4. Außergerichtliche Einigung der übrigen Betroffenen,

5. Anspruchshöhe und Anspruchsgegenstand,

6. Sonstige Gründe (z. B. mangelnde Ressourcen der möglichen Anspruchssteller, fehlende Rechtskenntnis, mangelnde deutsche Sprachkenntnisse, hohes Lebensalter)?

Entfällt, siehe 5.b.

 

5.d. Gibt es Erkenntnisse, ob „Serien“ in den vorgenannten Fallgestaltungen (auch) deshalb ausbleiben, weil es zu umfassenden Einigungen kommt? Wenn ja, auf welcher Ebene (innerbetrieblich, zwischen den Tarifparteien?) und in welchem Verfahrensstadium (vor-, inner-, außerprozessual)?

Entfällt, siehe 5.b.

 

5.e. Sind außerhalb einer „Serie“ im oben genannten Sinne in der Praxis Rechtsdurchsetzungsdefizite zu beobachten, die daraus resultieren, dass die Auslegung von Klauseln in Formularverträgen in einem Individualrechtsstreit jeweils nur inter partes wirkt? Wenn ja, lassen sich diese näher beschreiben (z. B. unterschiedliche Auslegung der Klauseln durch verschiedene Instanzgerichte, mangelnde Publizität einzelner Entscheidungen)?

Nein, solche Rechtsdurchsetzungsdefizite sind nach den hiesigen Informationen nicht zu beobachten.

 

5.f. Könnten die ggf. identifizierten Rechtsdurchsetzungsdefizite durch prozessrechtliche Regelungen beseitigt werden bzw. wird anderweitiger Handlungsbedarf gesehen?

Entfällt, siehe 5.e.

 

6.a. Sind Rechtsstreitigkeiten bekannt geworden, die im Zeitraum von 1. Januar 2018 bis zum 31. Dezember 2019 anhängig waren und in denen eine Entscheidung gemäß § 9 TVG Bindungswirkung über die Prozessparteien hinaus entfaltet? Falls möglich, wird außerdem um eine Einschätzung zur Anzahl solcher Streitigkeiten gebeten.

Nach hiesigem Kenntnisstand sind keine solchen Rechtsstreitigkeiten bekannt.

 

6.b. Gibt es Erkenntnisse dazu, ob und ggf. wie gegenwärtig die Erfüllung von durch das Musterverfahren geklärten Individualansprüchen sichergestellt wird?

Nein.

 

6.c. Gibt es Erkenntnisse zur Effektivität der Mitteilung der Entscheidung nach § 63 ArbGG an die zuständigen Behörden?

Nein.

 

6.d. Wie wird die Umsetzung der Regelung in der Praxis insgesamt bewertet?

Entfällt, s. 6.a.

 

7. Sonstige Anmerkungen

Wie in der Stellungnahme des Deutschen Richterbundes von Mai 2022 bereits ausgeführt, werden zur Erleichterung der Bearbeitung arbeitsrechtlicher Massenverfahren mehrere Änderungen des Arbeitsgerichtsgesetzes vorgeschlagen. Hierbei handelt es sich insbesondere um die Eröffnung der Möglichkeit der Entscheidung im schriftlichen Verfahren, der Aussetzungsmöglichkeit sowie der Ausnahme von der Bindung gem. § 72 Abs. 3 ArbGG. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen in der Stellungnahme Nr. 1/22, dort unter Ziff. 5.2 verwiesen. Außerdem hält der Deutsche Richterbund Vorgaben zu Struktur, Umfang und Zeitpunkt des Parteivortrags für sinnvoll. Hierzu wird ebenfalls auf die Aufführungen in der Stellungnahme Nr. 1/22 Bezug genommen.