#9/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund hält an der grundlegenden Kritik an der vorgesehenen digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung fest. Auch im Gewand eines „Optionsmodells“ führt eine Videoaufzeichnung des Strafprozesses zu einer erheblichen Mehrbelastung der Justiz, verstößt gegen die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten, droht im Einzelfall die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu beeinträchtigen und den Opferschutz massiv zu schwächen. Eine optionale audiovisuelle Dokumentation ist daher nur eine Scheinlösung, die einen „Video-Dokumentations-Flickenteppich“ in der Strafjustiz befürchten lässt.

Darüber hinaus droht auch eine Tonaufzeichnung die Bereitschaft von Zeugen zu beeinträchtigen, vor einem Gericht wahrheitsgemäß auszusagen, insbesondere im Bereich von organisierter Kriminalität oder in Staatsschutzverfahren.

Schließlich ist unabhängig davon, in welcher Weise eine Hauptverhandlung aufgezeichnet wird, eine erhebliche Mehrbelastung der ohnehin schon an der Grenze der Belastbarkeit arbeitenden Justiz, insbesondere in der Revisionsinstanz, zu erwarten. Wenn sich der Gesetzgeber zu einem derart folgenreichen Schritt entschließt, muss er auch die dafür erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stellen, will er nicht die Justiz weiter schwächen.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Die audiovisuelle Hauptverhandlung verstößt auch in Form eines „Optionsmodells“ gegen die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und droht, die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu beeinträchtigen

 

Wie der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme Nr. 2/23 im Einzelnen ausgeführt hat, verletzt eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und droht, die Wahrheitsfindung im Strafverfahren zu beeinträchtigen sowie den Opferschutz zu schwächen, ohne dass diesen schwerwiegenden Folgen ein diese Gefahren überwiegender Mehrwert gegenübersteht.

Allein durch eine Herabstufung auf eine Art Optionsmodell (vgl. § 19 Abs. 1 EGStPO-E) wird den aufgezeigten Gefahren für das Strafverfahren insgesamt nicht ausreichend entgegengewirkt. Wenngleich durch eine nur vereinzelte Einführung einer Videodokumentation quantitativ weniger Beeinträchtigungen zu besorgen sind als im Fall einer flächendeckenden Einführung, ist die Belastung insbesondere für Zeugen im Strafverfahren qualitativ völlig unabhängig davon, ob sie aufgrund einer Verpflichtung oder aber optional videografiert werden. Die einzig sicher zu erwartende Folge eines Optionsmodells wird sein, dass die Justiz und mit ihr die Verfahrensbeteiligten je nach Gericht unterschiedlich weitreichende Dokumentationsmodelle vorfinden werden. Bundesweit einheitliche Schutzniveaus für die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und den Opferschutz existierten bei einem solchen „Video-Dokumentations-Flickenteppich“ nicht. Die Frage der Inhaltsdokumentation ist für die Rechtssphären der Verfahrensbeteiligten aber von besonderer Bedeutung und bedarf folgerichtig einer bundesweit einheitlichen Regelung in der Strafprozessordnung.

 

II. Die Bereitschaft von Zeugen, vor einem Gericht wahrheitsgemäß auszusagen, wird insbesondere im Bereich von organisierter Kriminalität oder in Staatsschutzverfahren auch bei einer reinen Tonaufzeichnung herabgesetzt sein.

 

Zwar ist anzuerkennen, dass der Regierungsentwurf in größerem Maße bemüht ist, den bestehenden Gefahren für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren entgegenzuwirken. Die hierzu vorgesehenen Schutzmaßnahmen sind jedoch weiterhin unzureichend.

 

1. Ein Absehen von der Dokumentation nur in Fällen des Ausschlusses der Öffentlichkeit greift zu kurz

Der Regierungsentwurf sieht nunmehr vor, von der Aufzeichnung und deren Transkription abzusehen, solange die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit wegen einer Gefährdung der Staatssicherheit (§ 172 Nr. 1 GVG) oder einer Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person (§ 172 Nr. 1a GVG) vorliegen. Die systematische Verknüpfung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht überzeugt jedoch nicht.

Die in § 169 GVG festgeschriebene Öffentlichkeitsmaxime im Strafverfahren ist revisionsrechtlich durch die Vorschrift in § 338 Nr. 6 StPO geschützt, die in der Regel eine Urteilsaufhebung anordnet, wenn die Öffentlichkeit unzulässig beschränkt worden ist. Dies führt dazu, dass der Beschluss, von der Aufzeichnung und deren Transkription abzusehen, zwar für sich genommen nicht angefochten werden kann (§ 273 Abs. 2 a.E. StPO-E). Entscheidend ist aber, dass der zwingend damit verknüpfte Öffentlichkeitsausschluss einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Eine Koppelung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht führt daher in der praktischen Anwendung zu einer zu hohen Anwendungsschwelle. Es steht zu befürchten, dass Gerichte zu zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch machen werden, im Einzelfall von der Dokumentation der Beweisaufnahme abzusehen, um den Bestand des Urteils insgesamt nicht zu gefährden.

Überdies besteht die praktische Gefahr auch einer Tonaufzeichnung nicht zwingend bereits darin, dass ein Zeuge einmalig (und damit flüchtig) öffentlich aussagt, sondern, dass der vollständige Inhalt seiner Aussage über die Gerichtsöffentlichkeit hinaus beliebig weit verbreitet und beliebig oft von Dritten wahrgenommen werden kann. Zeugen werden sich daher auch unterhalb der Gefährdungsschwelle in § 172 Nr. 1 und 1a GVG einer Art Kontrollverlust über ihre Angaben ausgesetzt sehen, der Einfluss auf ihre Bereitschaft haben kann, wahrheitsgemäß Angaben zu machen.

 

2. Der (nachgebesserte) strafrechtliche Verbreitungsschutz reicht weiterhin nicht aus

Auf die Gefahr eines unzureichenden strafrechtlichen Verbreitungsschutzes hat der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme 2/23 hingewiesen. Ungeachtet der Frage, inwieweit eine (zudem im Vergleich mit anderen Straftatbeständen weiterhin geringe) Strafdrohung abschreckend wirkt, bleibt es dabei, dass die strafrechtliche Verfolgung der Weitergabe von Aufzeichnungen insgesamt, insbesondere aber auch an die Medien, in der Praxis nur wenig effektiv sein wird. Auch in Fällen staatlich gesteuerter Kriminalität (z. B. Völkerstraftaten oder auch der sogenannte Tiergartenmord) wird der Weg von Aufzeichnungen, die zur Einschüchterung von Zeugen genutzt werden, kaum je zu ermitteln sein, so dass der strafrechtliche Weitergabeschutz nicht wirksam sein wird.

 

III. Auch im Falle einer Tonaufzeichnung sind erhebliche Mehrbelastungen im Erkenntnisverfahren zu erwarten

 

Wie bereits in der Stellungnahme 2/23 des Deutschen Richterbundes dargelegt, lässt eine Inhaltsdokumentation erhebliche Mehrbelastungen der Tatgerichte erwarten. Dies gilt in gleicher Weise für den Fall einer Audioaufzeichnung wie für die Videodokumentation. Zwar enthält der Regierungsentwurf die Klarstellung, dass die Aufzeichnung und Transkription in dem Verfahren, in dem sie erstellt werden, keine Strengbeweismittel darstellen (§ 273 Abs. 2 S. 4 StPO-E). Zur Frage des Umgangs mit Vorhalten (Stellungnahme S. 23 f.), zu erwartenden Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren (Stellungnahme S. 24) sowie zu der Bindung erheblicher Ressourcen für Verletzte und andere nach § 403 StPO antragsberechtigte Personen (nunmehr § 273b Abs. 2 StPO-E; Stellungnahme S. 24 f.) aber schweigen auch die neuerlichen Regelungen.

Überdies bildet auch der Regierungsentwurf die zu erwartenden praktischen und finanziellen Anforderungen, die mit der Einführung einer reinen Tonaufzeichnung von Hauptverhandlungen einhergehen, nicht hinreichend ab. Hinzu kommt, dass zusätzliches Personal erforderlich wäre, um diese umfangreiche IT-Infrastruktur aufzubauen und zu warten sowie um digitale Dokumentationen herzustellen, sie zu verwalten und gegebenenfalls zu archivieren.

 

IV. Den zu erwartenden personellen Auswirkungen auf Revisionsgerichte und Staatsanwaltschaften wird weiterhin nicht hinreichend Rechnung getragen.

 

Der Deutsche Richterbund begrüßt es, dass der Regierungsentwurf – wie in der Stellungnahme Nr. 2/23 gefordert – nunmehr klarstellt, dass einerseits Verfahrensrügen, die sich auf einen Eingriff des Revisionsgerichts in Wertungs- und Beurteilungsspielräume des Tatgerichts richten, unzulässig sind (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO-E) und andererseits, dass ein Beweismittel einen Verfahrensfehler nur begründen kann, wenn dieser ohne weiteres erkennbar und ausgeschlossen ist, dass weitere Beweiserhebungen ihm maßgebliche Bedeutung für die Beweiswürdigung genommen haben können (§ 352 Abs. 3 StPO-E).

Allerdings hat der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme Nr. 2/23 darauf hingewiesen, dass sich auch durch eine solche Klarstellung – unabhängig davon, ob es sich um eine Video- oder eine Audioaufzeichnung handelt – eine erhebliche Mehrbelastung der Revisionsinstanz durch einen Anstieg umfangreicher Verfahrensrügen auf der Grundlage von § 261 StPO nicht verhindern lässt, womit zudem erhebliche Mehrarbeit der Staatsanwaltschaften bei der Gegenerklärung einhergeht. Hinzu kommt, dass die auf unabsehbare Zeit bestehende Fehleranfälligkeit des Transkripts Staatsanwaltschaften und Revisionsgerichte zu einem zeitaufwändigen Abgleich zwischen Audiodokument und Transkript im Revisionsverfahren zwingen wird, um z. B. die Vollständigkeit des Sachvortrags (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO) zu einer fehlerhaft gewürdigten Zeugenaussage zu überprüfen. Den damit verbundenen personellen Belastungen der Justiz trägt der Regierungsentwurf nicht ansatzweise Rechnung, indem lediglich von einem „nicht bezifferbaren Erfüllungsaufwand für mögliche zusätzliche Personalbelastungen“ in diesem Bereich die Rede ist (RegE S. 4).