#8/2022

Stellungnahme zu dem erweiterten Prüfauftrag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes für die Amtsgerichte“ betreffend die Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Landgerichten und Amtsgerichten

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der an die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes gerichtete erweiterte Untersuchungsauftrag, ob sich bestimmte Sachgebiete zur Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten eignen, ist grundsätzlich zu begrüßen.  Auch der Deutsche Richterbund hat in seiner Stellungnahme vom Juli 2022 angeregt, eine entsprechende Prüfung der Einführung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten in Betracht zu ziehen.

Das Meinungsbild hierzu ist allerdings sehr heterogen. Im Zuge der zunehmend gewünschten Spezialisierung erscheint es durchaus sinnvoll, weitere streitwertunabhängige Zuständigkeiten einzuführen. Bei den Landgerichten bietet es sich an, die in dem Katalog des § 72 a Abs. 1 Nr. 1-7 GVG angeführten Rechtsgebiete einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Für die grundsätzliche Eignung dieser Materien zur Einführung einer streitwertunabhängigen Zuständigkeit sprechen das Fachwissen und die Expertise, die durch die Einrichtung entsprechend spezialisierter Kammern bei den Landgerichten bereits vorhanden sind. Zu bedenken ist indes, dass die Landgerichte in weniger komplexen Verfahren mit niedrigen Streitwerten zuständig wären, die kostengünstiger und ortsnäher am Amtsgericht bearbeitet werden könnten.

Auch zur Frage der Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Amtsgerichten ist das Meinungsbild ausgesprochen heterogen. Die angeführten Rechtsgebiete, nämlich Verkehrsunfallsachen, Streitigkeiten in Mietsachen über Gewerberaum und bewegliche Gegenstände sowie Nachbarschaftssachen, erscheinen auf den ersten Blick grundsätzlich geeignet. Allerdings wird bei komplexeren Verfahren mit hohen Streitwerten eine Ausweitung der ausschließlichen Zuständigkeit bei den Amtsgerichten äußerst kritisch gesehen. Gleiches gilt für die befürchteten Auswirkungen auf die personelle und räumliche Belastung der Amtsgerichte sowie die durch die Verlagerung der Eingänge von den Landgerichten zu den Amtsgerichten massiven Veränderungen im Instanzengefüge bis hin zum Oberlandesgericht. Es wird weder eine Notwendigkeit noch ein sachlicher Grund für die Einführung weitergehender streitwertunabhängiger Zuweisungen gesehen, da sich das bisherige System der Zuständigkeitsbestimmung über den Streitwert in der Praxis bewährt habe.

Misslich ist, dass bisher keine validen Zahlen zu den zu erwartenden personalwirtschaftlichen Auswirkungen einer Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes vorliegen. Insbesondere ist unklar, zu welchen zahlenmäßigen Verschiebungen es bei den Eingängen kommt. Gleiches gilt auch für die Anzahl der Verfahren, die zu den in § 72 a GVG angeführten Sachgebieten gehören und die derzeit unterhalb des – alten und neuen – Zuständigkeitsstreitwertes der Landgerichte liegen. Die Beurteilung und die Entscheidung darüber, ob eine Anpassung des Zuständigkeitsstreitwertes zwischen Amts- und Landgericht – auch unter Berücksichtigung der Einführung etwaiger wechselseitiger streitwertunabhängiger Zuständigkeiten - sinnvoll ist, kann nur auf der Grundlage zuverlässig ermittelter Daten und nicht auf der Grundlage bloßer Schätzungen erfolgen. Ohne Kenntnis der tatsächlichen Auswirkungen lassen sich die angesprochenen Fragen nicht zielführend beantworten.

Zu beachten ist, dass Veränderungen in jedem Fall eine Anpassung der PEBB§Y-Zahlen erfordern, da die Basiszahlen an der derzeitigen Struktur ausgerichtet sind.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

1. Eignung der in § 72 a Abs.1 Nr. 1-7 GVG angeführten Rechtsgebiete zur Einführung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Landgerichten 

Die Befürworter der Einführung weitergehender streitwertunabhängiger Zuständigkeiten beim Landgericht halten eine solche im Zuge der durch § 72 a GVG ohnehin vorgegebenen Spezialisierung für sinnvoll. Auf die zunehmend spezialisierte Anwaltschaft könne mit einer entsprechend spezialisierten Richterschaft reagiert werden. Im Hinblick auf die bei den Landgerichten eingerichteten Spezialkammern und der damit ohnehin schon vorhandenen Expertise werden die in § 72 a Abs. 1 Nr. 1-7 GVG angeführten Sachgebiete als grundsätzlich geeignet angesehen zur Einführung weiterer ausschließlicher Zuständigkeiten. Eine solche Stärkung der Landgerichte dürfte im Hinblick darauf, dass durch die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes bei den Amtsgerichten die Spezialisierungsbestrebungen unterlaufen werden, durchaus geboten sein.

Ob dies allerdings zu nennenswerten Verfahrenseingängen bei den Landgerichten führt und die im Zuge der Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes zu erwartende Verschiebung von den Landgerichten zu den Amtsgerichten kompensieren könnte, erscheint fraglich und bedarf genauer Prüfung.

Als besonders geeignet werden von den Befürwortern der Ausweitung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten die in § 72 a Abs. 1 GVG unter Nr. 3 angeführten Heilbehandlungen angesehen. Aufgrund der Komplexität der Sachverhalte und der Besonderheit der Materie wird eine Zuweisung an die Landgerichte auch für Verfahren unterhalb eines Streitwertes von 5.000 € für sinnvoll erachtet.

Als gut geeignet werden von den Befürwortern auch die Bank- und Finanzgeschäfte, die Pressesachen und die insolvenzrechtlichen Streitigkeiten angesehen. Bei erbrechtlichen Streitigkeiten wird die Eignung für eine streitwertunabhängige Zuständigkeit kritischer gesehen, weil das ortsnähere Amtsgericht für die Parteien besser erreichbar sei und insoweit auch bereits eine Kompetenz der Amtsgerichte als Nachlassgerichte bestehe. Gleiches gilt für die Beurteilung der Geeignetheit der Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen und den Versicherungsvertragsverhältnissen im Hinblick auf die in diesen Sachgebieten eher anzutreffende relative Häufigkeit einfach gelagerter Fälle. Nicht jede Handwerkerrechnung in einer Bausache müsse dem Landgericht zugewiesen werden. Als weiteres Sachgebiet außerhalb des Katalogs des § 72 a GVG bieten sich grundsätzlich auch die Urheberrechtssachen an. Ferner werden Honorarklagen von Personen, für die eine besonderen Honorarordnung gilt (z.B. Rechtsanwälte, Ärzte, Notare, Architekten) als geeignet vorgeschlagen.

Gegen die Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten wird angeführt, dass in weniger komplexen Verfahren mit geringeren Streitwerten für die Parteien der Zugang zum Gericht erschwert werde. Bei größeren Landgerichtsbezirken müssten längere Fahrtwege in Kauf genommen werden. Hinzu kommt der Anwaltszwang bei den Landgerichten. Dies bedeute für Verfahren mit niedrigen Streitwerten eine erhebliche Kostensteigerung, so dass deren Führung noch unwirtschaftlicher zu werden droht. Eingewandt wird auch, dass sich das bisherige System der Zuständigkeitsbestimmung nach dem Streitwert bewährt habe und nach wie vor ein einfaches und praktikables Instrument zur Abgrenzung darstelle. Verfahrensverzögerungen durch Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Amts- und Landgericht sollten vermieden werden.

 

2. Einführung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den   Amtsgerichten

Die Befürworter sehen in der Einführung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Amtsgerichten eine Stärkung der Amtsgerichte in der Fläche.  Die angeführten Rechtsgebiete (Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verkehrsunfallsachen und Mietsachen über gewerbliche Mieträume und Miete beweglicher Sachen) werden hierfür als grundsätzlich geeignet angesehen, insbesondere im Hinblick auf die Ortsnähe und die schon vorhandene Sachkunde in mietrechtlichen Sachverhalten. 

Nicht alle der angesprochenen Sachgebiete werden jedoch in gleicher Weise als geeignet angesehen. Mietsachen über Gewerberäume können im Einzelfall durchaus einen Umfang erreichen, der die Bearbeitung im Rahmen eines amtsrichterlichen Dezernates als nicht mehr angemessen erscheinen lässt. Bei Nachbarschaftsstreitigkeiten werden Abgrenzungsschwierigkeiten befürchtet.

Die meisten Bedenken werden jedoch gegen die Einführung einer streitwertunabhängigen Zuständigkeit bei den Verkehrsunfallsachen erhoben. Bei Verfahren mit schweren Personenschäden handelt es sich in der Regel um besonders aufwändige Verfahren, die - neben den Bezügen zum Sozial- und Steuerrecht - auch die Einholung mehrfacher und langwieriger Gutachten erfordern, wie beispielsweise die Einholung versicherungsmathematischer Gutachten zur Ermittlung eines Erwerbsschaden und/oder Rentenzahlungen. Die Bearbeitung dieser Verfahren durch eine Kammer bei den Landgerichten erscheint wegen der Bedeutung und des Umfangs der Sache deutlich angemessener.

Vor diesem Hintergrund gibt es eine beachtliche Zahl von Stimmen, die sich grundsätzlich gegen die Einführung weitergehender streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Amtsgerichten aussprechen. Dagegen spreche, dass schon für den Fall einer nur maßvollen, rein inflationsbedingten Anhebung des Streitwertes mit einer nicht unerheblichen Zahl von Verfahrenseingängen bei den Amtsgerichten zu rechnen sei. Es bestehe die Sorge, dass dies für die Amtsgerichte zu einer nicht mehr vertretbaren personellen Belastung führen könnte, abgesehen davon, dass es bei vielen Amtsgerichten an einer ausreichenden räumlichen Ausstattung fehlt. Dies gilt nicht nur für die Gerichte, bei denen die Verfahrenseingänge mit Rücksicht auf Massenverfahren derzeit wieder deutlich ansteigen. 

Die Verlagerung von Zuständigkeiten von den Land- zu den Amtsgerichten bedeute zudem einen massiven Eingriff in den Instanzenzug und tangiere damit auch die Bedeutung der Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz. Der damit verbundene Wegfall von Beförderungsstellen wird sich negativ auf die Motivation und die Attraktivität des richterlichen Berufes auswirken.

 

3. Erforderlichkeit der Erhebung valider Zahlen

Eine Diskussion über die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes und die Einführung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten kann nach Auffassung des Deutschen Richterbundes nur sinnvoll geführt werden, wenn konkrete statistische Daten vorliegen, die etwaige Verschiebungen rechtfertigen. Insbesondere sollte geklärt werden, welchen Anteil die Verfahren bis zu einem bestimmten Streitwert bei den Landgerichten ausmachen, um auch die personalwirtschaftlichen Folgen erkennen zu können. Gleiches gilt auch für die Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten. Ohne eine zuverlässige Datenbasis sind eine Beantwortung der gestellten Fragen und eine Beurteilung der möglichen Auswirkungen nicht zielführend.

Die Ankündigung der Bund-Länder Arbeitsgruppe, sich mit den konkreten Auswirkungen noch näher zu befassen, kann daher nur begrüßt werden.

 

4. Weitere Auswirkungen

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in jedem Fall auf die mit einer Zuständigkeitsverlagerung einhergehenden Weiterungen im Personalbereich, auch unter Einschluss der nachgeordneten Bereiche, und bezüglich der PEBB§Y-Zahlen zu achten ist. Die Basiszahlen sind ausgerichtet an der bisherigen Struktur. Eine Verlagerung von Verfahren erfordert insbesondere bei den Amtsgerichten eine entsprechende Anpassung. Denn höhere Streitwerte oder die Zuweisung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bedeuten eine höhere Komplexität und Bedeutung der Verfahren und damit wesentlich mehr Aufwand.

Die im Falle der Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes und der Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten bei den Amtsgerichten zu erwartende erhebliche Verlagerung der Verfahrenseingänge von den Land- zu den Amtsgerichten bedeuten einen massiven Eingriff in den Instanzenzug. Abgesehen von dem damit verbundenen Wegfall von Beförderungsstellen, der sich auf die Motivation und die Attraktivität des richterlichen Berufes negativ auswirken dürfte, betreffen diese Auswirkungen auch die Bedeutung der Oberlandesgerichte als Berufungsinstanz.