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Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur Unabhängigkeit der Justiz und zur Situation in Polen

A. Tenor der Stellungnahme

Der Deutsche Richterbund fordert alle Mitgliedstaten auf, den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Beschluss des Rates „zur Feststel­lung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen“ zu unterstützen.

Darüber hinaus sieht der Deutsche Richterbund die Notwendigkeit, die Vorgaben des Art. 2 EUV zur Rechtsstaatlichkeit zu konkretisieren, um den Mitgliedstaaten klare Vorgaben an die Hand zu geben. Dies sollte über eine öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Richterverbände erfolgen.

B. Bewertung im Einzelnen

In seiner Entscheidung zu den Associação Sindical dos Juízes Portuguese vom 27.Februar 2018 (C-64/16) hat der Europäische Gerichtshof erneut die Rolle der nationalen Gerichte bei der Umsetzung und der Wahrung europäischen Rechts in den Mitgliedsstaaten hervorgehoben. Er hat dabei in erfreulicher Klarheit die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte als wesentlich für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit identifiziert und deren Notwendigkeit klargestellt. Unabhängigkeit setzt dabei voraus, so der EuGH, „dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten“ (Rdnr. 44).

Der Deutsche Richterbund sieht diese Entscheidung als erneute Bestätigung der Bemühungen aller europäischen Institutionen, unerlässlich für die Unabhängigkeit der Justiz in den Mitgliedstaaten und deren Funktionsfähigkeit als Grundlage der europäischen Rechtsordnung einzutreten. 

I. Notwendigkeit einer „Rule of Law Checkliste“ der Europäischen Union

Es ist für den Fortbestand der Europäischen Union unabdingbar, dass eine unabhängige, ausschließlich rechtsstaatlichen Vorgaben verpflichtete Justiz in allen Mitgliedstaaten vorhanden ist. Dies wird in Art. 2 EUV vorausgesetzt und kann über Art. 7 EUV von der Union gegenüber einem Mitgliedstaat sanktionsbewehrt eingefordert werden.

Der Deutsche Richterbund sieht die Gefahr, dass die allgemeinen Vorgaben des Art. 2 EUV von Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten unter angeblichem Bezug auf die Tradition eines Landes in den einzelnen Mitgliedstaaten unzutreffend ausgelegt und daher missachtet werden können. Er sieht daher die Notwendigkeit, die Grenzen der Eingriffe von Exekutive und Legislative in die Unabhängigkeit der Justiz noch klarer aufzuzeigen, um eine verlässliche Grundlage für Interventionen der europäischen Institutionen zu bieten. Er begrüßt die in verschiedenen Medien, so auch in Euractiv am 23.01.2018 wiedergegebene Absicht von EU-Justizkommissarin Vera Jourová, einen unionsweiten Katalog für Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln und Art. 2 EUV zu konkretisieren. 

Dabei müssen diese Vorgaben inhaltlich über das hinausgehen, was die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung zur Stärkung der Rule of Law vom 19.3.2014 (COM(2014)158) festgeschrieben hat. Bei der Ausarbeitung der rechtsstaatlichen Grundsätze, welche von den Mitgliedstaaten zur Ausfüllung ihrer Pflichten aus Art. 2 EUV einzuhalten sind, sollten die Vorgaben des Europarates vom 17. November 2010 in der Recommendation 12 (2010) zur Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Justiz und die Inhalte der Rule of Law Checklist der Venice Commission vom 11.03.2016 (CDL-AD (2016)007) Grundlage sein. In diesen, jeweils vom Ministerrat des Council of Europe verabschiedeten bzw. angenommenen Vorgaben zur Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit der Justiz werden die einzelnen Aspekte der inneren und äußeren Unabhängigkeit der Justiz und die Rolle eines Justizrates konkretisiert. Auf diesen Vorgaben sollten die Arbeiten der Kommission aufbauen.

Die Beratungen zu einer „Rule of Law Checkliste“ der Europäischen Kommission sollten, auch wenn auf den oben genannten Vorgaben aufgebaut werden kann, öffentlich geführt werden. Der Gedanke, der dem Forum der „Assises de la Justice“ 2013 zu Grunde lag, könnte hier wieder aufgegriffen werden. Über eine breit angelegte Diskussion kann sichergestellt werden, dass die Bedeutung einer unabhängigen Justiz in das Bewusstsein der europäischen Bürger gerückt wird und die Rule of Law wieder ausreichend Beachtung finden kann.

Bei dieser Diskussion sind die nationalen Richterverbände als Vertreter der Richterschaft ausreichend zu beteiligen. So ist sicherzustellen, dass die Checkliste auf den Erfahrungen in der Richterschaft mit Eingriffen in ihre Unabhängigkeit aufbauen kann und so auf breite Zustimmung in der dritten Gewalt und bei der europäischen Bürgerschaft stößt.

II. Notwendigkeit, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen weiter fortzuführen

Am 20.12.2017 hat die Europäische Kommission dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen (COM (2017) 835) vorgelegt. Der Deutsche Richterbund fordert den Rat auf, diesen Beschluss anzunehmen und sicherzustellen, dass die in Art. 2 des Beschlusses vorgesehenen Maßnahmen durch die Republik Polen umgesetzt werden.

Die Unabhängigkeit der Justiz in den Mitgliedstaaten ist, wie der EuGH in seiner oben zitierten Entscheidung erneut unterstrichen hat, Wesenselement der Europäischen Union. Ohne unabhängige Justiz ist die gegenseitige Anerkennung von Justizentscheidungen nicht möglich. Maßstäbe und Kriterien zur Überprüfung, ob Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz erfolgt sind, liegen vor. Solche Eingriffe können auch festgestellt werden, solange eine „Rule of Law Checkliste“ der Europäischen Union noch nicht existiert. Die Entscheidungen der Venice Commission zeigen dies deutlich.

In ihrem Beschlussvorschlag vom 20.12.2017 hat die Europäische Kommission überzeugend detailliert dargelegt, welche Eingriffe der polnischen Exekutive und Legislative in die richterliche Unabhängigkeit der Justiz eine Reaktion der Europäischen Union erfordern. Die Vielzahl der Eingriffe in die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und deren Eingriffstiefe auf allen Ebenen – vom Verfassungsgericht über das Oberste Gericht und den Präsidenten der Instanzgerichte bis zum Justizrat – ist erschütternd.  Wegen dieser Eingriffe sieht die Kommission die Notwendigkeit, folgende Änderungen in der Republik Polen durchzuführen, um dort zu einer unabhängigen Justiz zurückzukehren, zu Recht:

  • das Gesetz über das Oberste Gericht dahin gehend zu ändern, dass das Pensionsalter amtierender Richter nicht gesenkt wird und die Ermessensbefugnis des Präsidenten zur Verlängerung der Amtszeit von Richtern am Obersten Gericht sowie das außerordentliche Rechtsmittelverfahren, mit dem vor Jahren abgeschlossene Verfahren wieder aufgenommen werden können, aufgehoben werden;

  • das Gesetz über den nationalen Justizrat dahin gehend zu ändern, dass die Amtszeit der Mitglieder aus der Richterschaft nicht beendet wird und das neue Ernennungsverfahren weiterhin die Wahl von Richtern aus den eigenen Reihen garantiert;

  • das Gesetz über die ordentlichen Gerichte zu ändern oder zurückzuziehen, insbesondere um die neue Pensionsregelung für Richter und die Ermessensbefugnis des Justizministers zur Verlängerung ihrer Amtszeit und zur Ernennung und Entlassung der Gerichtspräsidenten aufzuheben;

  • die Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichtshofs wiederherzustellen und sicherzustellen, dass seine Richter, Vizepräsidenten und sein Präsident rechtmäßig gewählt und alle Urteile veröffentlicht und vollumfänglich vollstreckt werden;

  • sich Maßnahmen und öffentlichen Äußerungen zu enthalten, die die Legitimität der Justiz weiter untergraben können.

Sichergestellt werden muss auch, dass die Mitglieder des Justizrates die polnische Richterschaft in ihrer gesamten Breite vertreten und es sich nicht um Richter handelt, welche dem Justizministerium eng verbunden sind.

Darüber hinaus muss die Existenz und die freie Betätigung von Richterverbänden, insbesondere auch von IUSTITIA, durch die polnische Regierung sichergestellt werden.

Der Deutsche Richterbund schließt sich den Forderungen der Europäischen Kommission  vollumfänglich an und fordert die Bundesregierung auf, den Beschluss anzunehmen und für dessen Umsetzung einzutreten.

Dabei steht nicht nur die Zukunft des polnischen Rechtsstaats in Zweifel, sondern auch die rechtliche Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Die Vorlage des irischen High Court vom 12.03.2018 in der Auslieferungssache Minister of Justice vs Celmer (Record No. 2017 EXT 291), in welcher das Gericht den EuGH fragt, ob ein Bruch der gemeinsamen in Art. 2 EUV niedergelegten Werte durch Polen vorliegt und zu erkennen gibt, dass ein solcher Bruch einer Auslieferung entgegenstehen könnte, zeigt dies deutlich. Das Vorgehen der polnischen Regierung gegen ihre eigene Justiz bringt das gegenseitige Vertrauen, den mutual trust, als Grundlage der gegenseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen, auf welcher das europäische Rechtssystem beruht, in Gefahr.