Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2023/1544 und zur Durchführung der Verordnung (EU) 2023/1543 über die grenzüberschreitende Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel im Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union
A. Tenor der Stellungnahme
Der Deutsche Richterbund begrüßt die Bemühungen, die Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel im Strafverfahren unionsweit zu regeln. Sie tragen dem Bedürfnis der Strafverfolgungspraxis Rechnung, möglichst schnell grenzüberschreitend Erkenntnisse über Telekommunikationsbeteiligte, -daten und -inhalte zu erlangen.
Allerdings fehlt es in Ermangelung eines nationalen Ermittlungsinstruments an der Umsetzung eines wichtigen Bestandteils der Verordnung (EU) 2023/1543, der Europäischen Sicherungsanordnung. Erst diese ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten, Datenverlust zu vermeiden und später die Herausgabe der gesicherten Daten als Beweismittel zu bewirken. Eine entsprechende gesetzliche Regelung ist dringend geboten, um deutschen Strafverfolgungsbehörden die grenzüberschreitende Datensicherung zu ermöglichen.
Auf die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung (#23/2024) wird Bezug genommen. Mit Blick auf nicht hinnehmbare Verfolgungslücken sollten das für die Praxis unverzichtbare Ermittlungsinstrument der Verkehrsdatenspeicherung erneut aufgegriffen und die bestehenden europarechtlichen Spielräume für eine Speicherung von IP-Adressen genutzt werden.
B. Bewertung im Einzelnen
1. Eine effektive Strafverfolgung ist in Zeiten elektronischer Kommunikationsmittel und immer mobilerer Straftäter auf grenzüberschreitende Möglichkeiten der Beweisgewinnung angewiesen. Der Deutsche Richterbund begrüßt daher die Bemühungen, die Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel im Strafverfahren unionsweit zu regeln.
Wichtiger Bestandteil der Verordnung (EU) 2023/1543 ist die Europäische Sicherungsanordnung, die es den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten ermöglichen soll, bei einem in einem anderem EU-Mitgliedstaat ansässigen Diensteanbieter gespeicherte Teilnehmer-, Verkehrs- und Inhaltsdaten vorläufig sichern zu lassen, um Datenverlust zu vermeiden und später die Herausgabe dieser elektronischen Beweismittel zu bewirken. Eine vergleichbare nationale Regelung existiert nicht. Die Einführung ist dringend geboten, um den deutschen Ermittlungsbehörden dieselben Befugnisse und Möglichkeiten zu eröffnen, die in anderen europäischen Ländern bereits vorhanden sind.
Das in der letzten Legislaturperiode beabsichtigte „Quick-Freeze-Verfahren“ würde dieser Forderung nicht gerecht. Der Deutsche Richterbund hat mit seiner Stellungnahme #23/2024 bereits nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das strafprozessuale „Quick-Freeze-Verfahren“, wie es im Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung vorgesehen war, ins Leere läuft, wenn die individuelle Speicherdauer der Telekommunikationsanbieter abgelaufen ist.
2. Die deutschen Regelungen bleiben auch ansonsten hinter den Möglichkeiten zurück, die der Europäische Rechtsrahmen bietet. Nach Art. 5 Abs. 4 a) der Verordnung (EU) 2023/1543 können durch eine Europäische Herausgabeanordnung Verkehrsdaten erhoben werden, wenn die Ermittlungen wegen einer Straftat geführt werden, die im Anordnungsstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren geahndet werden.
Demgegenüber verlangt § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO für die Erhebung von Verkehrsdaten den Verdacht einer Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung; auf den Katalog des § 100a Abs. 2 StPO wird verwiesen. Unter vergleichbaren Voraussetzungen ist die Erhebung von Nutzungsdaten bei digitalen Diensten möglich, § 100k Abs. 1 und 2 StPO.
Diese Diskrepanz führt dazu, dass ausländischen Strafverfolgungsbehörden in Deutschland weiterreichende Eingriffsbefugnisse zustehen können als den deutschen Justizbehörden. Eine Anpassung der durch die Strafprozessordnung gewährten Eingriffsbefugnisse an die EU-rechtlichen Regelungen ist im Sinne einer Harmonisierung angezeigt.
3. Eine einheitliche Regelung innerhalb des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) erscheint aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit geboten.
Der Rechtshilfeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch mit Drittstaaten und internationalen Einrichtungen, ist von fundamentaler praktischer Bedeutung. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit ist daher eine einheitliche Regelung aller der Rechtshilfe zuzuordnenden Vorschriften geboten. In seiner jetzigen Fassung stellt das IRG eine Art „Regelungs-Patchwork“ dar, das für den Rechtsanwender nur schwer zu durchdringen ist. Die gesonderte Regelung der unionsweiten Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel im Strafverfahren verstärkt diese Unübersichtlichkeit weiter. Die Vorschriften des Artikels 1 des Referentenentwurfs könnten dementsprechend in eine Neufassung des IRG integriert werden. Insoweit wird auf die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (IRG¬-E) verwiesen (#21/2024).
4. Die Streichung der in der Vorfassung des Referentenentwurfs noch enthaltenen Rechtsbehelfe – die auch durch die 96. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister angemahnt wurde – wird begrüßt. Diese dient aus Sicht des Richterbundes der Funktionsfähigkeit des Instrumentariums.
5. Dagegen ist die in Art. 14 Abs. 2 des Entwurfs enthaltene Löschungsverpflichtung im Interesse einer effektiven Strafverfolgung kritisch zu sehen. Die Verordnung (EU) 2023/1543 sieht eine allgemeine Löschungsverpflichtung nicht vor. Sie legt in Art. 4 Abs. 5 und Art. 10 Abs. 4 lediglich die Rechtsfolgen fest, wenn – in Notfällen – die Ex-Post-Validierung einer Sicherungs- oder Herausgabeanordnung betreffend Teilnehmerdaten und Daten ausschließlich zur Identifizierung versagt wird bzw. die Vollstreckungsbehörde bei einer Herausgabeanordnung von Verkehrs- oder Inhaltsdaten einen Ablehnungsgrund geltend macht. Die Anordnungsbehörde muss in diesen Fällen bereits übermittelte Daten löschen oder deren Verwendung anderweitig beschränken.
Auch die Strafprozessordnung kennt keine allgemeine Pflicht zur Löschung rechtswidrig erlangter Daten. Diese stellt vielmehr eine Ausnahme dar. Die vorgeschlagene Regelung geht daher ohne Not nicht nur über die Regelungen der Verordnung (EU) 2023/1543, sondern auch über die bestehende nationale Rechtslage und die durch die Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe hinaus.
6. Auch die durch den Deutschen Richterbund immer wieder aufgegriffene Problematik der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften kann in diesem Zusammenhang weitere Bedeutung gewinnen: Nachdem der EuGH deutschen Staatsanwaltschaften aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit (§§ 146 f. GVG) den Charakter einer Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses Europäischer Haftbefehl abgesprochen hat, ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft auch für den vorliegenden Bereich fordern wird.
Denn insoweit ist zu bedenken, dass die Verordnung (EU) 2023/1543 auf Art. 82 Abs. 1 AEUV (Grundsatz gegenseitiger Anerkennung) gestützt ist und Datensicherungen in anderen Staaten der Union erlaubt, die zunächst ohne deren unmittelbare Beteiligung stattfindet. Es erscheint naheliegend, dass dies nur durch ministeriell einzelweisungsfreie Staatsanwaltschaften geschehen kann. Die Staatsanwaltschaften müssen daher zwingend von externen Einzelfallweisungen ausgenommen werden, um politische Durchgriffe auf die Strafverfolgung auszuschließen und die deutschen Staatsanwaltschaften für den Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU in vollem Umfang handlungsfähig zu machen.
7. Die durch Art. 28 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2023/1543 statuierten Statistikpflichten werden zu einem erheblichen Mehraufwand bei den Staatsanwaltschaften führen, die durch Berichts- und Statistikpflichten ohnehin schon stark belastet sind.
Noch unklar ist, inwieweit der beabsichtigte automatisierte Datenaustausch bei der Erfüllung der Statistikpflichten herangezogen werden kann. Selbst bei dessen voller Funktionsfähigkeit wird personeller Mehraufwand wie auch Sachaufwand durch die erforderlich werdende IT-Konfiguration und Administration entstehen. Zudem ist eine separate Datenerhebung durch die zuständigen Behörden notwendig, soweit die Informationen nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Datenübertragungs-vorgängen entstehen (Rechtsbehelfe, ausbleibende Ex-Post-Validierungen und Kostenerstattungen, Artikel 28 Absatz 2 Buchstaben h bis j).
