Stellungnahme zur Anfrage der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur „Anhebung des Zuständigkeitsstreitwerts für die Amtsgerichte"
A. Tenor der Stellungnahme
Die von den Justizministerinnen und Justizministern eingesetzte
Bund-Länder-Arbeitsgruppe untersucht die Anhebung der Zuständigkeitsstreitwerte für die Amtsgerichte und die Erhöhung der Wertgrenzen für das vereinfachte Verfahren in § 495a ZPO sowie der Berufungs- und Beschwerdewertgrenzen. Für den Deutschen Richterbund sind diese Überlegungen angesichts der Preisentwicklung seit der letzten Änderung in 1993 und der jüngsten Inflationsentwicklung durchaus nachvollziehbar und erwägenswert. Die Auswirkungen auf die Gerichte bedürfen allerdings einer genaueren Betrachtung.
So setzt eine Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes zwingend eine angemessene personelle Aufstockung der Amtsgerichte und eine höhere Bewertung der amtsgerichtlichen PEBB§Y-Produkte voraus. Unter den derzeit gegebenen personellen und bewertungstechnischen Bedingungen können Verfahren mit größeren Streitwerten bei den Amtsgerichten nicht geführt werden.
Darüber hinaus lässt eine mit der Erhöhung des Zuständigkeitsstreitwerts verbundene Verlagerung der Zuständigkeiten auf die Amtsgerichte zugleich eine Steigerung der Berufungsquote und damit wiederum eine zweitinstanzliche Mehrbelastung der Landgerichte erwarten.
Schließlich wird die erst durch § 72a Abs. 1 GVG eingeführte Spezialisierung durch die Einrichtung von Kammern für bestimmte Sachgebiete bei den Landgerichten in den Fällen, die den landgerichtlichen Zuständigkeitsstreitwert nicht erreichen, unterlaufen.
Der Deutsche Richterbund regt daher die Erweiterung streitwertunabhängiger sachlicher Zuständigkeiten sowohl bei den Amtsgerichten als auch bei den Landgerichten an. Dies dürfte gegenüber einer bloßen Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes zu einer besseren Aufgabenverteilung zwischen den Amts- und Landgerichten führen und die Effizienz der Rechtsprechung insgesamt steigern.
B. Bewertung im Einzelnen
Die Justizministerinnen und Justizminister haben im Rahmen ihrer Herbstkonferenz 2021 beschlossen, den Zuständigkeitsstreitwert für die Amtsgerichte einer Überprüfung zu unterziehen und dabei auch die personalwirtschaftlichen und gerichtsorganisatorischen Folgen in den Blick zu nehmen. Eine zu diesem Zweck eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe prüft neben der Anhebung des Zuständigkeitswertes nach § 23 Nr. 1 GVG auch die Erhöhung der Wertgrenze für das Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO sowie der Berufungs- und Beschwerdewertgrenzen.
Die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe untersuchte Anhebung des Zuständigkeitsstreitwerts für die Amtsgerichte in Zivilsachen erscheint angesichts der bisherigen und erst recht seit der sich ab Februar 2022 abzeichnenden Preis- bzw. Inflationsentwicklung durchaus erwägenswert. Gleiches gilt für eine moderate Anhebung der weiteren Wertgrenzen.
Die verbandsinterne Diskussion zu diesem Thema ist uneinheitlich. Befürworter einer moderaten Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes sehen darin eine Aufwertung und Stärkung der Amtsgerichte. Viele Mitglieder stehen einer Anhebung jedoch auch kritisch gegenüber. Es besteht die Sorge, dass eine erhebliche Mehrbelastung für die Amtsgerichte entsteht, ohne dass der mit einer Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes notwendigerweise verbundene Personalbedarf angemessen ausgeglichen wird. Denn der Streitwert eines Verfahrens stellt allein kein geeignetes Kriterium dar, die Komplexität, die Bedeutung und den mit der Führung eines Verfahrens verbundenen Aufwand zutreffend zu bewerten.
Nach Auffassung des Deutschen Richterbundes sollen daher bei den weiteren Überlegungen zur Anhebung des Zuständigkeitswertes die nachfolgenden Auswirkungen für die Gerichte bedacht und die Anregungen zur Erweiterung streitwertunabhängiger sachlicher Zuständigkeiten berücksichtigt werden.
a. Personalmehrbedarf
Bei den Amtsgerichten entsteht durch die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes zwangsläufig ein erhöhter Personalbedarf, der angemessen abgedeckt werden muss. Da sich die betreffenden landgerichtlichen Verfahren statistisch ermitteln lassen, bestehen ausreichende Anhaltspunkte für die Ermittlung des Personalmehrbedarfs, dem dann auch gleichzeitig - und nicht erst nachträglich - mit einer möglichen Gesetzesänderung Rechnung getragen werden kann.
b. Neubewertung der PEBB§Y-Produkte bei den Amtsgerichten
Eine Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes erfordert zwingend auch eine Neubewertung der amtsgerichtlichen PEBB§Y-Produkte. Die bisherige Bewertung wird nicht ausreichen. Es wird insbesondere mit einer Zunahme von Verfahren mit anwaltlich nicht vertretenen Parteien zu rechnen sein. Die gegenüber der nicht rechtskundigen Partei gesteigerten richterlichen Hinweispflichten werden sowohl in komplexeren Verfahren, aber auch besonders in Verfahren mit höheren Streitwerten zu erheblich mehr Aufwand führen.
In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass sich die im Zuge der Einführung des FamFG zum 1.9.2009 gemachten Erfahrungen nicht wiederholen sollten. Damals verloren die vorher von den Landgerichten bearbeiteten Verfahren auf dem Weg zu den Familiengerichten einen erheblichen Teil ihrer Bearbeitungszeiten. Dem ist erst mit der im Zuge der Jahre später erfolgten PEBB§Y-Erhebung angemessen Rechnung getragen worden.
c. Mehrbelastung durch Anstieg der Berufungen
Eine Verlagerung von Verfahren mit höheren Streitwerten an die Amtsgerichte wird dazu führen, dass auch die Berufungsverfahren bei den Landgerichten ansteigen. Dies führt dort zu einer Mehrbelastung. Eine Einsparung durch die Verlagerung von Verfahren mit niedrigeren Streitwerten an die Amtsgerichte wird daher nicht zu erwarten sein. Es dürfte sogar eine Neubewertung der PEBB§Y-Produkte bei den Landgerichten veranlasst sein, da von der Möglichkeit zur Übertragung eines Verfahrens auf den Einzelrichter bei höheren Streitwerten in wesentlich geringerem Umfang Gebrauch gemacht wird.
d. Einführung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten
Durch eine Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes für die Amtsgerichte werden die durch § 72a Abs. 1 GVG veranlasste Einrichtung von Spezialkammern für besondere Sachgebiete bei den Landgerichten und die dadurch bezweckte Förderung von Spezialisierungen teilweise wieder unterlaufen. Seit 2018 sind die Landgerichte verpflichtet, besondere Kammern für Bank-,
Bau-, Arzthaftungs-, Versicherungs-, Presse, Erb- und Insolvenzsachen zu bilden. Nach § 348 Abs. 1 Nr. 2 ZPO ist in diesen Verfahren originär die Kammer und nicht der Einzelrichter zuständig. Mit einer Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes fallen diese Verfahren, soweit sie den Wert nicht übersteigen, in die Zuständigkeit des Amtsrichters. Vor diesem Hintergrund und zur Förderung der gesetzlich gewollten Spezialisierung könnte eine bessere und effektivere Aufgabenverteilung zwischen Amts- und Landgericht eher durch die Erweiterung streitwertunabhängiger Zuständigkeiten erreicht werden als durch eine bloße Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes.
Mit den in § 23 Nr. 2 GVG für die Amtsgerichte und den in § 71 Abs. 2 GVG für die Landgerichte geregelten streitwertunabhängigen Zuweisungen wurden bisher gute Erfahrungen gemacht. Es erscheint daher sinnvoll, die bestehenden Regelungen auszuweiten. Den Amtsgerichten könnten streitwertunabhängig die Verfahren zugewiesen werden, bei denen die Ortsnähe besonders sinnvoll erscheint. Hierfür bieten sich die Verkehrsunfallsachen, Nachbarschaftsstreitigkeiten sowie die Verfahren an, die sich auf die Anmietung von Gewerberaum beziehen. Umgekehrt könnten beispielsweise Arzthaftungssachen oder auch weitere der in § 72a Abs 1 GVG genannten Sachgebiete streitwertunabhängig von den hierfür eingerichteten Spezialkammern der Landgerichte bearbeitet werden.
Diese zeitgemäßen und vom Gesetzgeber in den angeführten Vorschriften schon zum Ausdruck gebrachten Spezialisierungsbestrebungen sind geeignet, die Aufgabenverteilung zwischen Amts- und Landgericht zu verbessern, die Bedeutung der Amtsgerichte zu heben und insgesamt die Effizienz der Rechtsprechung zu steigern.