Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz für ein Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2024/1069 über den Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offensichtlich unbegründeten Klagen oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren
A. Tenor der Stellungnahme
Der Deutsche Richterbund hat erhebliche Bedenken gegen den vorgelegten Gesetzentwurf. Würde der Entwurf in dieser Form Gesetz, hätte dies verheerende Auswirkungen für Rechtsuchende, die gerichtlichen Schutz gegen persönlichkeitsrechtsverletzende Äußerungen suchen. In der vorliegenden Form würde das Gesetz Missbrauch nicht verhindern, sondern erst ermöglichen. Dies beruht auch darauf, dass der Gesetzentwurf an mehreren Stellen über die Anforderungen der Anti-SLAPP-Richtlinie hinausgeht, ohne dass dies erforderlich wäre.
B. Bewertung im Einzelnen
Der Deutsche Richterbund hat erhebliche Bedenken gegen den Gesetzentwurf, mit dem die Regelungen der Anti-SLAPP-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden sollen.
1. Zu weitgehende Definition des „missbräuchlichen Gerichtsverfahrens“
Der Anwendungsbereich der neuen Regelungen, die als §§ 615-619 in die ZPO eingefügt werden sollen, ist nach dem Gesetzentwurf für Rechtsstreitigkeiten eröffnet, die aufgrund der „öffentlichen Beteiligung“ des Beklagten „missbräuchlich geführt“ werden. Beide Begriffe werden im Entwurf legaldefiniert. Öffentliche Beteiligung ist – insoweit wird auf die Definition der Richtlinie verwiesen – jede Meinungsäußerung, die zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse erfolgt. Wann ein Rechtsstreit aufgrund der öffentlichen Beteiligung „missbräuchlich geführt“ wird, definiert der Entwurf indes ohne Verweis auf die Richtlinie.
Diese eigenständige Definition ist nun – und darin liegt ein Kernproblem des Gesetzentwurfs – viel zu weit gefasst. Nach der Regelung in § 615 Abs. 2 ZPO-E wird ein Rechtsstreit dann missbräuchlich geführt, wenn (1.) der Hauptzweck des Rechtsstreits darin besteht, öffentliche Beteiligung zu verhindern oder einzuschränken und (2.) mit dem Rechtsstreit ganz oder teilweise unbegründete Ansprüche verfolgt werden.
Mit dieser Definition wäre beinahe jedes presse- und äußerungsrechtliche Verfahren ein missbräuchliches Gerichtsverfahren. Jede Person, die sich gegen eine persönlichkeitsrechtsverletzende Äußerung wehrt, begehrt die zukünftige Unterlassung dieser Äußerung. Damit liegt der „Hauptzweck“ jedes äußerungsrechtlichen Verfahrens darin, öffentliche Äußerungen zu verhindern – eben darauf ist notwendigerweise bereits die Antragsfassung gerichtet. Jedes äußerungsrechtliche Verfahren, mit dem eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend gemacht wird, erfordert zudem eine umfassende Güter- und Interessenabwägung. Damit geht sehr häufig einher, dass sich Ansprüche als ganz oder teilweise unbegründet erweisen. Die in § 615 Abs. 3 ZPO-E beispielhaft aufgeführten Umstände haben dabei nicht die beabsichtigte begrenzende Wirkung, weil dieser nicht abschließende Katalog nichts daran ändert, dass die in Abs. 2 niedergelegten Kriterien – wie dargelegt – in beinahe jedem äußerungsrechtlichen Verfahren erfüllt sind.
2. Gravierende Konsequenzen
Die Konsequenzen aus dieser viel zu weit gefassten Definition sind gravierend. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn man beispielhaft nicht einen Fall zugrunde legt, auf den die SLAPP-Richtlinie maßgeblich abzielt – ein Investigativjournalist deckt organisierte Kriminalität oder Korruption auf und wird deswegen von machtvoller Seite unter Druck gesetzt (vgl. Erwägungsgrund 10 der Richtlinie) –, sondern einen Fall, in dem die Kräfteverhältnisse umgekehrt sind, wie etwa in folgender Konstellation: Ein reichweitenstarkes Online-Medium benennt eine Person, möglicherweise zu Unrecht, als Täter eines Kapitalverbrechens. Die betroffene Person möchte sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die Berichterstattung wehren. Auch diese Konstellation wäre von der vorliegenden Definition eines missbräuchlichen Gerichtsverfahrens erfasst, da der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ganz oder teilweise unbegründet sein könnte, etwa wenn sich die Berichterstattung als rechtmäßig erweist.
Wird der Antrag auf Eilrechtsschutz zurückgewiesen, weil die Berichterstattung sich beispielsweise als zulässige Verdachtsberichterstattung darstellt, müsste die Person gemäß § 618 Abs. 3 ZPO-E der Beklagten die Kosten ihrer Rechtsvertretung auch über die
RVG-Sätze hinaus erstatten. War für das Online-Medium eine Großkanzlei tätig, müsste die Person somit das übliche Stundenhonorar einer Großkanzlei erstatten. Zudem müsste die Person gemäß § 618 Abs. 2 ZPO-E eine zusätzliche gerichtliche Missbrauchsgebühr zahlen. Eine solche Potenzierung des Prozessrisikos hätte eine derart abschreckende Wirkung, dass kaum jemand mehr wagen würde, sich wegen einer möglichen Verletzung von Persönlichkeitsrechten gegen eine Berichterstattung zur Wehr zu setzen.
Gemäß § 617 ZPO-E müsste die betroffene Person auf Verlangen des Online-Mediums – nach dem Referentenentwurf auch bei einem rein nationalen Sachverhalt und auch im einstweiligen Rechtsschutz – Prozesskostensicherheit leisten. Dadurch würde ein Eilverfahren um Wochen ausgebremst und effektiver Rechtsschutz verhindert.
Hieraus wird deutlich, dass die an sich auf den Schutz von Investigativjournalisten oder anderen besonders schutzbedürftigen Personen oder Gruppierungen abzielenden Regelungen zweckentfremdet werden können und dadurch Missbrauch überhaupt erst ermöglichen. Denn denkbar wäre, dass sich, wie dargestellt, ein machtvolles Unternehmen auf die SLAPP-Regelungen beruft, um ein gerichtliches Vorgehen einer Einzelperson gegen potentiell existenzvernichtende Äußerungen zu verhindern oder zu erschweren.
3. Lösung
a) Die Definition eines missbräuchlichen Gerichtsverfahrens muss enger gefasst werden, so dass wirklich nur missbräuchlich geführte Prozesse in den Anwendungsbereich der Regelungen fallen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass es dem angerufenen Gericht ermöglicht werden muss, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob eine Missbräuchlichkeit vorliegt. Eine abschließende Aufzählung von lediglich zwei Kriterien, die bei äußerungsrechtlichen Prozessen beide regelhaft vorliegen und die vom Entwurf selbst für nötig befundene Berücksichtigung weiterer Umstände (§ 516 Abs. 3 ZPO-E) regelungstechnisch verhindern, ist verfehlt.
Denkbar wäre beispielsweise, sich für die Definition des missbräuchlichen Gerichtsverfahrens an die wettbewerbsrechtliche Rechtsprechung zur missbräuchlichen Geltendmachung von Ansprüchen anzulehnen. Danach liegt ein Missbrauch dann vor, wenn der Anspruchsberechtigte mit der Geltendmachung des Anspruchs überwiegend sachfremde, für sich gesehen nicht schutzfähige Interessen verfolgt und diese als die eigentliche Triebfeder und das beherrschende Motiv der Verfahrenseinleitung erscheinen (Feddersen: in Köhler/Feddersen, UWG, 43. Aufl. 2025, § 8c Rn. 11, m.w.N.). Ob eine missbräuchliche Geltendmachung vorliegt, muss dabei unter Berücksichtigung der gesamten Umstände gewürdigt werden, vgl. § 8c Abs. 1 UWG.
§ 615 Abs. 2 ZPO-E könnte danach wie folgt neu gefasst werden:
„Ein Rechtsstreit aufgrund der öffentlichen Beteiligung des Beklagten wird missbräuchlich geführt, wenn mit dem Rechtsstreit überwiegend sachfremde, für sich gesehen nicht schutzfähige Interessen verfolgt werden und diese das beherrschende Motiv für die Verfahrenseinleitung sind.“
(Erst) mit dieser Definition erweist sich auch der in § 615 Abs. 3 ZPO-E enthaltene Katalog als sinnvoll, weil die dort genannten Umstände zur Ausfüllung der nunmehr in der Definition enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe herangezogen werden können. In den Katalog des § 615 Abs. 3 ZPO-E sollte ergänzend der Aspekt der Ausnutzung eines Machtungleichgewichts aufgenommen werden, vgl. Art. 4 Nr. 3 S. 1 und Erwägungsgründe 15 und 42 der Richtlinie.
In § 615 Abs. 1 ZPO-E könnten die Worte „unter Berücksichtigung der gesamten Umstände“ vor „missbräuchlich geführt“ eingefügt werden.
Die hier vorgeschlagene Fassung von § 615 Abs. 2 ZPO-E stünde auch im Einklang mit den Vorgaben der SLAPP-Richtlinie. Nach deren Art. 4 Nr. 3 S. 1 sind missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung definiert als Gerichtsverfahren, „die nicht angestrengt werden, um tatsächlich ein Recht geltend zu machen oder auszuüben, sondern deren Hauptzweck darin besteht, öffentliche Beteiligung zu verhindern, einzuschränken oder zu sanktionieren, mit denen häufig ein Machtungleichgewicht zwischen den Parteien ausgenutzt wird und mit denen unbegründete Ansprüche verfolgt werden“. Die hier vorgeschlagene Formulierung der sachfremden, nicht schutzfähigen Interessen als beherrschendes Motiv dient der Umsetzung der in der Richtlinie verwendeten Wortwahl eines Gerichtsverfahrens, „das nicht angestrengt wird, um tatsächlich ein Recht geltend zu machen“. Die vorgeschlagene Formulierung sollte inhaltlich das Gleiche wie die Definition der Richtlinie bedeuten, verwendet dabei aber Begrifflichkeiten, die der deutschen Rechtspraxis geläufiger sind.
Die im Referentenentwurf enthaltene Definition eines missbräuchlichen Gerichtsverfahrens lehnt sich hingegen an eine frühere Fassung der Richtlinie an. So wurden missbräuchliche Gerichtsverfahren im ursprünglichen Richtlinienentwurf (COM (2022) 177) noch definiert als „Gerichtsverfahren, die im Zusammenhang mit der öffentlichen Beteiligung angestrengt werden, die ganz oder teilweise unbegründet sind und deren Hauptzweck darin besteht, die öffentliche Beteiligung zu verhindern, einzuschränken oder zu sanktionieren“. Auf diese zu weite Definition hat der Deutsche Richterbund bereits mit seiner Stellungnahme Nr. 8/23 hingewiesen. Daraufhin wurde die Definition in der endgültigen Fassung der Richtlinie um die Worte „die nicht angestrengt werden, um tatsächlich ein Recht geltend zu machen oder auszuüben“ ergänzt.
b) Unabhängig von der Definition eines missbräuchlichen Gerichtsverfahrens sollte auch die nach § 618 Abs. 3 ZPO-E vorgesehene Regelung, wonach dem Beklagten die Kosten seines Rechtsanwalts auch über die gesetzlichen Gebühren hinaus zu erstatten sind, soweit diese Kosten üblich und angemessen sind, entfallen.
Eine solche Regelung stellt einen Fremdkörper im Gefüge der zivilprozessualen Kostenregelungen dar. § 618 Abs. 3 ZPO-E ist in der ZPO sachfremd und systematisch verfehlt, weil es sich um einen materiell-rechtlichen Anspruch handelt. In Rechtsprechung und Literatur wird fast einhellig davon ausgegangen, dass der prozessuale Kostenerstattungsanspruch nur die Regelsätze nach dem RVG erfasst (vgl. BGH NJW 2018, 1477 Rn. 20 m.w.N.). Die Gerichte würden überlastet, wenn Rechtspfleger im Rahmen eines Kostenfestsetzungsverfahrens prüfen müssten, ob individuell vereinbarte Rechtsanwaltsgebühren, etwa Stundenhonorare, noch angemessen sind und damit erstattungsfähig wären.
Die EU-Richtlinie zwingt den deutschen Gesetzgeber auch keineswegs zu einer solchen Regelung. Vielmehr geht der Gesetzentwurf auch an dieser Stelle über die Vorgaben der Richtlinie hinaus. Die Richtlinie sieht in Art. 14 Abs. 2 ausdrücklich vor, dass für den Fall, dass nach nationalem Recht nicht gewährleistet ist, dass die Kosten der Rechtsvertretung über das in gesetzlichen Honorartabellen Festgelegte hinaus zur Gänze erstattet werden, von den Mitgliedstaaten sichergestellt werden soll, „dass diese Kosten in vollem Umfang durch andere nach nationalem Recht verfügbare Instrumente abgedeckt werden“, vgl. auch Erwägungsgrund 41. Danach ist es ausreichend, wenn solche Kosten nicht im Rahmen der Kostenerstattung des missbräuchlich geführten Gerichtsverfahrens selbst, sondern als Schadensersatz in einem gesonderten Prozess geltend gemacht werden können. Als Schadensersatz können aber schon nach geltendem Recht unter bestimmten Bedingungen Kosten erstattet werden, die über die gesetzlichen Gebührensätze hinausgehen (vgl. BGH NJW 2015, 3447 Rn. 58).
c) Auch die in § 618 Abs. 2 ZPO-E vorgesehene gerichtliche Missbrauchsgebühr stellt einen Fremdkörper dar und sollte entfallen. Eine solche Missbrauchsgebühr, wie sie etwa aus § 34 Abs. 2 BVerfGG bekannt ist, erscheint allenfalls bei Verfahren sinnvoll, die im Ausgangspunkt kostenfrei betrieben werden können. Soweit die Richtlinie in Art. 15 verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollen, dass Gerichte bei einem missbräuchlichen Verfahren verhältnismäßige Sanktionen verhängen können, ist dies schon nach geltendem Recht dadurch gewährleistet, dass die unterlegene Partei ohnehin die Gerichtskosten tragen muss.
d) Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen sollten nach alledem über die bereits strengen Regelungen der Richtlinie insbesondere deswegen nicht auch noch hinausgehen, weil SLAPP-Verfahren vor deutschen Gerichten so gut wie unbekannt sind. Die Studie „Offene SLAPP-Klagen 2022 und 2023“, die vom Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben wurde, hat im Untersuchungszeitraum kein einziges SLAPP-Verfahren in Deutschland identifizieren können (bei europaweit 47 Fällen, davon die meisten in Italien, Spanien und Griechenland). Auch dem Verfasser der Stellungnahme ist aus mehrjähriger Tätigkeit in der Pressekammer des Landgerichts Hamburg nicht ein Verfahren bekannt, das die Kriterien eines missbräuchlichen Gerichtsverfahrens erfüllen würde.
