#3/2022

Stellungnahme zur Verlängerung der bis 29. Juni 2022 befristeten Regelung in § 10 EGStPO über die Hemmung der Unterbrechungsfristen wegen Infektionsschutzmaßnahmen

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund spricht sich für eine Verlängerung von § 10 EGStPO in der geltenden Fassung aus. In der Praxis der Strafgerichte hat sich diese Hemmungsregelung bewährt.

Sie ermöglicht vor allem, im Strafverfahren angemessen auf die Quarantäne eines Verfahrensbeteiligten zu reagieren und verhindert, dass allein deswegen ein Verfahren völlig neu beginnen muss. Dies ist – auch bei weitgehender Normalisierung der Lage – weiterhin nötig, solange die Pandemie nicht endgültig überwunden ist. Auf diese Weise trägt die Regelung zur Beschleunigung von Strafverfahren bei, vermeidet eine Mehrbelastung der ohnehin knappen Ressourcen in der Justiz mit pandemiebedingt auszusetzenden und damit zu wiederholenden Hauptverhandlungen und schützt so die Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt.

Durch die Vermeidung aussetzungsbedingt zu wiederholender Beweiserhebungen trägt sie zudem Aspekten des Opferschutzes Rechnung.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

Seit dem 28. März 2020 gilt die seither mehrfach, derzeit bis zum 29. Juni 2022 verlängerte Regelung in § 10 EGStPO, der zufolge der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung für die Dauer von längstens zwei Monaten gehemmt ist, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Covid-19-Pandemie nicht durchgeführt werden kann. Anders als die in § 229 Abs. 3 StPO vorgesehene Hemmung der vorgenannten Unterbrechungsfristen muss damit insbesondere weder ein Angeklagter oder eine zur Urteilsfindung berufene Person erkrankt sein – eine bloße Quarantäne reicht nicht aus (BGH, Beschluss vom 11. März 2021, 1 StR 458/20) – noch muss die Hauptverhandlung bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden haben.

In der Praxis der Strafgerichte ist die Regelung in § 10 EGStPO von großer praktischer Bedeutung. Sie trägt zur Beschleunigung von Strafverfahren bei, vermeidet eine Mehrbelastung der ohnehin knappen Ressourcen in der Justiz mit pandemiebedingt auszusetzenden und damit zu wiederholenden Hauptverhandlungen und schützt so die Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Justiz insgesamt. Durch die Vermeidung aussetzungsbedingt zu wiederholender Beweiserhebungen trägt sie zudem Aspekten des Opferschutzes Rechnung. Angesichts der hohen Praxisrelevanz bestehen durchgreifende Bedenken, die Regelung erst im Herbst zu verlängern und ihren Anwendungsbereich inhaltlich oder auch zeitlich zu beschränken.

 

I.       Zur Praxisrelevanz von § 10 EGStPO

Die in § 10 EGStPO geregelte Corona-bedingte Hemmung der Unterbrechungsfrist bei strafgerichtlichen Hauptverhandlungen hat sich in der strafgerichtlichen Praxis bewährt.

Das bisherige Pandemiegeschehen war nicht nur durch eine Vielzahl von Coronavirus-Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten geprägt, sondern gerade auch durch Verdachtsfälle und zum Teil zeitversetzte präventive Quarantänemaßnahmen, die der Ausbreitung des Infektionsgeschehens entgegenwirken sollten. Insbesondere Justizvollzugsanstalten waren gezwungen, frühzeitig und umfassend Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Ketten-Ansteckungen und damit die Entstehung unkontrollierter Hotspots zu vermeiden. Dass die Notwendigkeit solcher Maßnahmen in naher Zukunft entfallen könnte, ist angesichts des fortbestehenden Pandemiegeschehens nicht absehbar.

Diesen der Durchführung eines Strafverfahrens entgegenstehenden Hindernissen trägt die bereits in § 229 Abs. 3 StPO vorgesehene Hemmung der Unterbrechungsfrist in mehrfacher Hinsicht nicht ausreichend Rechnung. Denn sie ist auf Fälle einer tatsächlich eingetretenen Erkrankung beschränkt, erfasst lediglich den Angeklagten oder eine zur Urteilsfindung berufene Person, und sie ist nur auf eine Hauptverhandlung anwendbar, die bereits an mindestens zehn Verhandlungstagen stattgefunden hat. Auf diese Beschränkungen hat die bislang geltende Regelung des § 10 EGStPO zu Recht verzichtet.

Die praktische Regelungsnotwendigkeit zeigt sich anschaulich in einem aktuell anhängigen, derzeit bis einschließlich 2023 terminierten Staatsschutzverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart mit allein sieben Berufsrichtern, zwölf Angeklagten, 25 Verteidigern, den Sitzungsvertretern des Generalbundesanwalts und zahlreichen Justizbediensteten, in dem bereits zweimal auf die Regelung des § 10 EGStPO zurückgegriffen werden musste. Gerade in solchen Umfangsverfahren hat sich diese Regelung als ein unverzichtbares Instrument zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung erwiesen. Anderenfalls drohte ein unter den Gesichtspunkten von Ressourceneinsatz und Verfahrensbeschleunigung nicht hinnehmbarer Neubeginn der Hauptverhandlung. Besonders schwer wiegt dies in Haftsachen, in denen die Freiheitsentziehung zu Zwecken der Untersuchungshaft das Gericht zu größtmöglicher Beschleunigung des Strafverfahrens verpflichtet.

Dies gilt ungeachtet der Verfahrensdauer und somit auch für kürzere Hauptverhandlungen, die noch nicht an mindestens zehn Verhandlungstagen stattgefunden haben und daher auch aus diesem Grund aus dem Anwendungsbereich von § 229 Abs. 3 StPO herausfallen. Auch in diesen Verfahren, die die Praxis aufgrund der Masse der Strafverfahren prägen, hat sich die Regelung des § 10 EGStPO bewährt. Denn auch kürzere Strafverfahren zeichnen sich vielfach durch einen hohen Arbeitsaufwand, eine intensive Einarbeitung der Verfahrensbeteiligten und durch aufwändige Terminabsprachen z.B. mit Verteidigung oder auch Sachverständigen aus. Ein im Einzelfall notwendiger und gegebenenfalls sogar wiederholter Neubeginn der Hauptverhandlung führte daher vielfach zu einer mehrmonatigen Verfahrensverzögerung und liefe gerade in Haftsachen dem geltenden Beschleunigungsgebot zuwider. Eine Verfahrensaussetzung hätte zudem zur Folge, dass die Bearbeitung weniger prioritärer Strafverfahren zurückstehen müsste und sich so ein Verfahrensstau bei den ohnehin stark belasteten Gerichten aufbaute.

Auch unter dem Aspekt des Opferschutzes hat sich § 10 EGStPO in der geltenden Fassung bewährt. Denn es ist – auch dies gilt ungeachtet der Anzahl der bereits durchgeführten Hauptverhandlungstage – schwer hinnehmbar, das Opfer einer Gewalttat mehrfach einer im Einzelfall extrem belastenden Aussage- und Befragungssituation auszusetzen, weil es an der Möglichkeit fehlt, den Lauf der Unterbrechungsfrist im Falle einer unvermeidbaren Corona-Schutzmaßnahme zu hemmen.

Schließlich hat sich die Möglichkeit der Hemmung nach § 10 EGStPO auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten des Strafverfahrens als hilfreich erwiesen. Denn bei Hauptverhandlungen – auch solchen von kürzerer Dauer – fallen im Einzelfall erhebliche Verfahrenskosten (Zeugenentgelt, Pflichtverteidigergebühren, Sachverständigenkosten) an, die im Falle eines Neubeginns der Hauptverhandlung mehrfach zu erheben wären.

 

II.      Keine Beschränkung auf Verfahren von mindestens zehn Tagen   VerhandlungsdauerI

Aus den gewonnen Erfahrungen im Umgang mit Pandemie-Schutzmaßnahmen ergibt sich ein von der Anzahl bereits durchgeführter Hauptverhandlungstage unabhängiges Bedürfnis, den unter Umständen sogar wiederholten Neubeginn der Hauptverhandlung im Fall einer Corona-Schutzmaßnahme zu vermeiden. Denn der bisherige Pandemieverlauf hat gezeigt, dass auch eine Vielzahl kürzerer Strafverfahren von Corona-Verdachtsfällen und Quarantänemaßnahmen betroffen waren.

Eine Einschränkung der Regelung in § 10 EGStPO auf Fälle, in denen an bereits mindestens zehn Tagen verhandelt worden ist, kann daher angesichts der Masse kürzerer Verfahren zu einer erheblichen Mehrbelastung der ohnehin stark belasteten Justiz führen. Zudem erfordern auch kürzere Strafverfahren im Einzelfall einen hohen Arbeitsaufwand und mitunter aufwändige Terminabsprachen mit Verteidigung oder auch Sachverständigen, so dass eine Aussetzung der Hauptverhandlung zu einer mehrmonatigen Verfahrensverzögerung führen kann. Dies gilt es insbesondere in Haftsachen zu vermeiden.

Auch Gesichtspunkte des Opferschutzes stehen einer Beschränkung der pandemiebedingten Hemmung der Unterbrechungsfrist entgegen. Denn gerade für Opfer von Gewalttaten stellt die Konfrontation mit dem Angeklagten in der Hauptverhandlung eine erhebliche, im Einzelfall retraumatisierende Belastung dar, die völlig unabhängig von der Dauer der Strafverfahrens besteht. Eine Wiederholung dieser Aussage- und Befragungssituation aufgrund einer pandemiebedingten Aussetzung der Hauptverhandlung gilt es zu vermeiden.

 

III.     Keine Verkürzung der zweimonatigen Hemmung

Auch eine Verkürzung der bislang höchstens zweimonatigen Hemmung der Unterbrechungsfrist ist nicht sachgerecht. Zwar waren Infektionsschutzmaßnahmen in der Vergangenheit oftmals von kürzerer Dauer, so dass die Frist zur Unterbrechung der Hauptverhandlung im Einzelfall kürzer gefasst werden konnte. Andererseits erforderten gerade Quarantäne-Schutzmaßnahmen in den Justizvollzugsanstalten im Einzelfall länger währende Verhandlungspausen. Insgesamt betrachtet haben die Gerichte aus Eigeninteresse, Strafverfahren durchführen und abschließen zu können, nur im erforderlichen Umfang von der Hemmungsmöglichkeit Gebrauch gemacht, so dass die maximale Hemmungsfrist von zwei Monaten, wie bei Erkrankungen (§ 229 Abs. 3 Satz 1 StPO), beibehalten werden sollte.