Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (IRG-E)
A. Tenor der Stellungnahme
Der Rechtshilfeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch mit Drittstaaten und internationalen Einrichtungen, ist von fundamentaler praktischer Bedeutung. In seiner jetzigen Fassung stellt das IRG eine Art „Regelungs-Patchwork“ dar, das für den Rechtsanwender nur schwer zu durchdringen ist. Es ist daher ausdrücklich zu begrüßen, dass mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (im Folgenden IRG-E) ein Regelungswerk geschaffen werden soll, das durch mehr Systematisierung und Vereinfachung auch zu mehr Praxistauglichkeit führen soll. Positiv hervorzuheben ist auch, dass dem mit über 300 Einzelvorschriften sehr umfangreichen Gesetzgebungsvorhaben eine intensive Beteiligung der Praxis vorausging, die sich so bereits frühzeitig in Reformüberlegungen einbringen konnte.
In ganz entscheidenden Punkten aber trägt der Referentenentwurf den Belangen der Justiz nicht ausreichend Rechnung.
Die geplante Ausweitung der Anhörungs- und Informationspflichten sowie die Überprüfungs-, Rechtsbehelfs- und Beistandsmöglichkeiten der „betroffenen Personen“ werden unausweichlich zu Verfahrensverzögerungen und weitergehenden Belastungen der Justiz führen. Wenngleich der Referentenentwurf an einigen Stellen noch Prüfvorbehalte enthält, ist nicht zu erwarten, dass Mehrbelastungen adäquat ausgeglichen werden. Auch die Anrufung des BGH im Auslieferungsverfahren dürfte zu Verfahrensverzögerungen beitragen, zumal die zugrundeliegende Regelung das Vorlageverfahren nur unzureichend regelt.
Zu bedauern ist auch, dass der Entwurf für ein zentrales, die Justizpraxis erheblich belastendes Problem im europäischen Rechtshilfeverkehr keine angemessene Lösung enthält: Nachdem der EuGH deutschen Staatsanwaltschaften aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit (§§ 146 f. GVG) den Charakter einer Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses Europäischer Haftbefehl abgesprochen hat, hätte die Neuregelung des IRG Anlass geboten, sie zumindest für den Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU von Einzelfallweisungen auszunehmen, um sie im Rechtshilfeverkehr wieder handlungsfähig zu machen. Dass dies nicht beabsichtigt ist, ist rechtspolitisch mutlos und nicht nachvollziehbar.
Nicht nachvollziehbar ist auch die angesichts des Regelungsumfangs zu kurze Stellungnahmefrist, die nur eine eingeschränkte Prüfung des Referentenentwurfs ermöglicht. Gleichwohl sind folgende Anmerkungen veranlasst:
B. Bewertung im Einzelnen
I. Die Stärkung des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes ist dem Grunde nach zu begrüßen, sie geht allerdings auch mit Mehrbelastungen der Justiz und erwartbaren Verfahrensverzögerungen einher
Ein für sich genommen begrüßenswertes Kernanliegen des Entwurfs ist es, der wachsenden Bedeutung der internationalen strafrechtlichen Zusammenarbeit einen stärkeren grenzüberschreitenden Rechtsschutz für die Betroffenen gegenüberzustellen, insbesondere durch das Institut der Rechtsbeistandschaft (§§ 5 ff. IRG-E), durch Regelungen zur Akteneinsicht (§§ 16, 46 IRG-E) und zu einzelnen Rechtsbehelfen (§§ 83, 118, 145, 161, 273 IRG-E) oder aber durch die Möglichkeit, im Auslieferungsverfahren den BGH anzurufen (§ 92 IRG-E). Mit dieser Stärkung der subjektiven Rechte des Einzelnen gehen allerdings auch erhebliche Mehrbelastungen und erwartbare Verfahrensverzögerungen einher, deren Berücksichtigung der Entwurf bislang nicht hinreichend erkennen lässt.
1. Mehrere Anhörungen im Auslieferungsverfahren stellen im Regelfall keinen „Gehörsgewinn“ dar, belasten aber die Justiz
So trägt insbesondere das vorgesehene Recht auf mündliche Anhörung vor dem Oberlandesgericht vielfach geäußerten rechtsstaatlichen Bedenken gegen das bislang fast ausschließlich schriftlich geführte Verfahren Rechnung. Gleichwohl ist die vorgesehene mehrfache Gewährung rechtlichen Gehörs mit Blick auf die beschränkten gerichtlichen Ressourcen und den im Einzelfall beschränkten „Gehörsgewinn“ nicht nachvollziehbar.
So sieht der Referentenentwurf für die Auslieferungsverfahren auf Antrag der verfolgten Person gleich mehrere mündliche Anhörungen durch das Oberlandesgericht vor: die erste gemäß § 73 IRG-E über Einwendungen der verfolgten Person gegen den Auslieferungshaftbefehl, sodann im Rahmen der Haftprüfung gemäß § 76 IRG-E und schließlich auch im Rahmen der Zulässigkeitsentscheidung, § 79 IRG-E.
Diese mehrfachen Anhörungen im Auslieferungsverfahren sind geeignet, das Verfahren insgesamt zu erschweren und zu verzögern, ohne jedoch zu einer wirklichen Verbesserung des Rechtsschutzes zu führen. Denn Haftentscheidungen im Auslieferungsverfahren hängen regelmäßig nicht vom persönlichen Eindruck der betroffenen Person ab, sondern ganz maßgeblich davon, ob rechtsstaatliche Standards im ersuchenden Staat eingehalten wurden und werden. Hinzu kommt, dass sich die Einwendungen im Laufe des Auslieferungsverfahrens erfahrungsgemäß selten verändern. Dementsprechend ist es im Regelfall völlig ausreichend, lediglich eine einmalige mündliche Anhörung zwingend vorzusehen. Für alle weiteren Einwendungen im Laufe des Verfahrens könnte eine erneute mündliche Anhörung in das Ermessen des Oberlandesgerichts gestellt werden, um dem Gesichtspunkt rechtlichen Gehörs ausreichend Rechnung zu tragen. Sofern sich neue Einwendungen im Laufe des Verfahrens ergeben haben, für die ein persönlicher Eindruck vom Verfolgten erforderlich ist, kann dann immer noch, aber eben nicht zwingend, eine mündliche Anhörung durchgeführt werden.
2. Die Möglichkeit der Anhörung über Bild- und Tonübertragung sollte auch bei fehlendem Einverständnis der verfolgten Person möglich sein
Nicht nachvollziehbar ist auch, warum zur Vorbereitung einer Auslieferungsentscheidung (§ 80 Abs. 3 IRG-E) die Möglichkeit der Anhörung über Bild- und Tonübertragung nur mit Einverständnis der verfolgten Person möglich sein soll. In § 463e StPO besteht eine vergleichbare Regelung im Vollstreckungsverfahren nach der StPO, und dort ist das Einverständnis der verurteilten Person nicht erforderlich. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern sich die Situation der verfolgten Person im Auslieferungsverfahren von der des in Strafhaft inhaftierten Gefangenen wesentlich unterscheiden sollte. Auch der Unterschied zu § 80 Abs. 4, § 81 Abs. 2 IRG-E, in dem das Gericht nach Ermessen auch ohne Einverständnis der verfolgten Person eine mündliche Verhandlung in Form einer Bild- und Tonübertragung durchführen kann, erklärt sich nicht.
3. Die Neuregelungen werden Mehrkosten verursachen, die der Entwurf nicht ausreichend in den Blick nimmt
Die Ausweitung der Anhörungs-, Informationspflichten, der Überprüfungs-, Rechtsmittel- sowie der Beistandsmöglichkeiten sämtlicher „betroffenen Personen“ wird zwangsläufig zu einem ganz erheblichen Mehraufwand bei den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof sowie den Generalstaatsanwaltschaften und dem Generalbundesanwalt führen.
Im Entwurf heißt es hierzu auf den Seiten 3 und 205, dass die Mehrbelastung beim GBA und BGH in der weiteren Abstimmung mit dem Geschäftsbereich des BMJ noch konkretisiert werde. Hinsichtlich der Belastung der Landesjustiz wird auf Seite 4 des Entwurfs angeführt, dass die Länder durch die Neustrukturierung und Modernisierung bei den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten mit moderaten Mehrkosten belastet werden, die durch „Vorschläge zur Steigerung der Verfahrenseffizienz kompensiert werden“ können. Auf Seite 210 des Entwurfs ist vorgesehen, dass nach der Länder- und Verbändebeteiligung die Gesetzesbegründung bezüglich der Mehrbelastung bei den Oberlandesgerichten durch das Recht auf mündliche Anhörung im Auslieferungsverfahren und durch die Einführung der erneuten Entscheidung durch den Fünfer-Senat noch ergänzt werden soll. Gleiches gilt hinsichtlich der in Aussicht gestellten Entlastung bei den Oberlandesgerichten durch den Wegfall der Sonderzuweisung im Rahmen der sonstigen Rechtshilfe.
Inwieweit die im Entwurf angebrachten Prüfvorbehalte zu einer Berücksichtigung der absehbaren Mehrbelastung führen werden, bleibt abzuwarten. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass die vorgesehene Anrufung des BGH (§ 92 IRG-E) angesichts des damit verbundenen Suspensiveffektes eine erhebliche Anreizwirkung darstellen dürfte, zumal die betroffenen Personen regelmäßig ein erhebliches Interesse an einer Verzögerung des Verfahrens und ihrer Übergabe an den ersuchenden Staat haben. Der Regelungsvorschlag könnte daher allzu leicht auch für dysfunktionale Vorlageanträge der verfolgten Person genutzt werden, insbesondere angesichts einer für eine Verfassungsbeschwerde erforderlichen Rechtswegerschöpfung.
Auch an den Entlastungseffekten auf der Ebene der Landesjustiz bestehen erhebliche Zweifel. Denn bisherige Verfahren im Rahmen der sonstigen Rechtshilfe gemäß § 61 IRG sind die Ausnahme, nicht die Regel. Demgegenüber entsteht die Pflicht zur mündlichen Anhörung, in manchen Auslieferungsfällen möglicherweise dreimal, die das bislang nahezu ausschließlich schriftlich geführte Auslieferungsverfahren in seinem Charakter völlig ändern wird. Dass dies zu einer erheblichen Mehrbelastung der mit Auslieferungssachen befassten OLG-Senate führt, ist offensichtlich. Hinzu kommen selbstverständlich die Mehrbelastungen durch die erforderlichen Vorführungen bei den Wachtmeistern und in den Justizvollzugsanstalten.
Eine zusätzliche und spürbare Mehrbelastung wird überdies von dem neu vorgesehenen Rechtsbehelf in § 47 IRG-E (dort fälschlich bezeichnet als Rechtsmittel) und der Entscheidungszuständigkeit der Oberlandesgerichte ausgehen, wenn nunmehr ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligungsentscheidungen im Auslieferungsverkehr mit Ländern außerhalb der Europäischen Union vorgesehen ist. Bei so manchen Auslieferungsverfahren, speziell mit der Türkei, in denen erfahrungsgemäß jeder mögliche Einwand geltend gemacht wird, ist sicher damit zu rechnen, dass auch dieser Rechtsbehelf zahlreich eingelegt wird.
II. Die Regelungen zum Vorlageverfahren an den BGH sind unklar
Im Hinblick auf eine Stärkung der Verfahrensrechte ist im Referentenentwurf ebenfalls die Möglichkeit geschaffen worden, dass eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem BGH auf Antrag des Verfolgten vorgelegt werden muss, § 92 Abs. 2 IRG-E. Die dafür vorgesehene Regelung ist jedoch unverständlich und dürfte in der jetzigen Form geeignet sein, das Auslieferungsverfahren zu verzögern sowie GBA und BGH erheblich zu belasten.
Nach dem Wortlaut in § 92 Abs. 2 IRG-E ist für eine Vorlage an den BGH allein ein Antrag der verfolgten Person Voraussetzung. Der Begründung des Gesetzentwurfs ist jedoch zu entnehmen, dass das Oberlandesgericht vor einer solchen Vorlage offenbar prüfen soll, ob der Antrag nicht offensichtlich ungeeignet ist. Eine solche Prüfungspflicht des Oberlandesgerichts ergibt sich jedoch nicht aus dem vorgesehenen Wortlaut in § 92
Abs. 2 und 3 IRG-E. Darin (Abs. 3) heißt es lediglich: „In dem Antrag ist anzugeben, aus welchen Gründen die in Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Seitens der verfolgten Person kann dies nur in einer von dem Rechtsbeistand unterzeichneten Schrift geschehen.“ Ob eine Entscheidung über die Zulässigkeit hingegen durch das erstinstanzliche OLG (vergleichbar einer verspätet oder formwidrig eingelegten Revision, § 346 StPO) oder den BGH erfolgt, ist nicht geregelt. In Betracht kommen etwa Tatsachenfragen (gegebenenfalls im Gewand einer vorgeblichen Rechtsfrage) oder auch Rechtsfragen, die nicht die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung betreffen, vgl. § 92 Abs. 1 IRG-E.
Wenn also alle Verfahren, in denen ein entsprechender Antrag gestellt wird, vorgelegt werden müssten, ohne dass eine entsprechende Vorprüfung bezüglich einer etwaigen offensichtlichen Ungeeignetheit des Antrags durch das Oberlandesgericht erfolgt, wären dysfunktionale Vorlageanträge, erhebliche Verzögerungen des Auslieferungsverfahrens sowie Mehrbelastungen des BGH vorhersehbar.
III. Eine Gelegenheit, deutsche Staatsanwaltschaften zumindest im Rechtshilfeverkehr mit Mitgliedstaaten der EU vom Weisungsrecht auszunehmen, wird verpasst
Es ist zu bedauern, dass der Entwurf keine Regelungen zur Weisungsfreiheit der Staatsanwaltschaft im europäischen Rechtshilfeverkehr enthält. Nachdem der EuGH deutschen Staatsanwaltschaften aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit (§§ 146 f. GVG) den Charakter einer Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses Europäischer Haftbefehl absprach, hat der DRB immer wieder darauf gedrungen, dass der Gesetzgeber – dem Beispiel der meisten EU-Mitgliedstaaten folgend – die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland abschafft. Die Neuregelung des IRG hätte Anlass geboten, sie zumindest (als Minimallösung) für den Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten der EU von Weisungen auszunehmen. Dass dies nicht beabsichtigt ist, ist rechtspolitisch mutlos und nicht nachvollziehbar.