#2/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Gesetzentwurf zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung

 

Tenor der Stellungnahme

 

Die vom Deutschen Richterbund vertretene Justizpraxis steht einer Digitalisierung und damit einhergehenden Erwartungen, Verfahrensabläufe zu verbessern und zu vereinfachen, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stets müssen jedoch die bezweckten Vorteile und zu erwartende nachteilige Folgen sorgsam abgewogen werden. Das vorgeschlagene Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz (DokHVG) lässt eine solche Abwägung vermissen und berücksichtigt den tiefen Eingriff in Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten, entstehende erhebliche Gefahren für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren sowie drohende Mehrbelastungen für die Tatgerichte und das Revisionsverfahren nicht. Zugleich weckt es zu hohe Erwartungen an die technische Machbarkeit einer digitalen Inhaltsdokumentation.

Der Deutsche Richterbund sieht die vorgeschlagene audiovisuelle Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung daher mit großer Sorge. Das DokHVG geht über die Vorschläge der eigens vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe weit hinaus. Warnungen der Praxis, dass gerade eine Videodokumentation der Hauptverhandlung besonders tief in Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten eingreift, nicht beherrschbare Missbrauchsrisiken birgt und sich auf die Aussagebereitschaft von Zeugen nachteilig auswirken kann, bleiben ungehört. Regelungen, die der Referentenentwurf zum Persönlichkeitsschutz vorsieht, sind absolut unzureichend. Zudem überlässt es der Gesetzesentwurf der Rechtsprechung, den zwangsläufig zunehmenden Belastungen für das Revisionsverfahren entgegenzuwirken.

Insgesamt drohen der Praxis durch eine audiovisuelle Inhaltsdokumentation unübersehbare Gefahren für die Wahrheitsfindung zu Lasten der ohnehin knappen Ressourcen in der Justiz. Eine den deutschen Strafprozess derart prägende Entscheidung des Gesetzgebers muss auch von dem bislang nicht erkennbaren Willen getragen sein, Auswirkungen auf die ohnehin hohe personelle Belastung der Justiz angemessen Rechnung zu tragen.

 

Bewertung im Einzelnen

 

A.     Einführung: Die rechtspolitische Debatte über eine Inhaltsdokumentation des deutschen Strafprozesses

 

Dem Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz (DokHVG) geht eine Jahrzehnte währende justizpolitische Debatte über Nutzen und Risiken einer Inhaltsdokumentation im Strafprozess voraus.

Eine 1964 eingeführte inhaltliche Protokollierung der Hauptverhandlung vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten wurde bereits 1974 wieder abgeschafft, weil gegenüber dem bedeutenden Mehraufwand seinerzeit ein nur geringer praktischer Nutzen erkannt wurde. Im Jahr 2004 sah der Gesetzgeber im Rahmen des Opferrechtsreformgesetzes nach eingehender Prüfung davon ab, vor den Land- und Oberlandesgerichten eine gesetzliche Regelung für Tonbandaufnahmen zu schaffen. In den Jahren 2014/2015 befasste sich sodann die Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens mit der Frage der audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung. Sie kam zu dem Schluss, dass die Einführung der audiovisuellen Dokumentation erstinstanzlicher Hauptverhandlungen vor Land- und Oberlandesgerichten näher geprüft werden solle. Dabei seien insbesondere der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und die Auswirkungen auf das Revisionsverfahren zu berücksichtigen. Daraufhin setzte die damalige Bundesjustizministerin Lambrecht im Herbst 2019 eine Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung ein, die in insgesamt fünf Unterarbeitsgruppen die für und gegen eine Einführung der audiovisuellen Dokumentation vorgetragenen Argumente beleuchtete. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen fasste das Bundesministerium der Justiz in einem im Juni 2021 veröffentlichten Bericht (im folgenden Expertenbericht) zusammen.

Eines wird durch die intensiv geführte Debatte deutlich: Die Forderung nach einer Inhaltsdokumentation im Strafprozess steht in einem Spannungsfeld zum Gebot der Wahrheitsfindung im Strafprozess, zu Aspekten des Schutzes der Persönlichkeitsrechte von Zeugen und weiteren Verfahrensbeteiligten sowie nicht zuletzt auch zur Belastung der Justiz, insbesondere der Revisionsinstanz. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Entscheidung, anlässlich des Opferrechtsreformgesetzes im Jahr 2004 nach eingehender Prüfung davon abzusehen, für Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten eine gesetzliche Regelung für Tonbandaufnahmen zu schaffen. Diese Entscheidung hatte sich der Gesetzgeber seinerzeit ersichtlich nicht leicht gemacht. Nachdem das Bundesministerium der Justiz eigens ein Gutachten des Max-Planck-Instituts in Auftrag gegeben hatte, setzte sich die Gesetzesbegründung ausführlich mit der erwogenen und schließlich verworfenen Möglichkeit der erweiterten Dokumentation der Hauptverhandlung vor den Land- und Oberlandesgerichten auseinander. In der entsprechenden Drucksache des Bundesrats heißt es u.a.:

„Für das Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht wird von einer gesetzlichen Regelung für Tonbandaufnahmen abgesehen. Es ist zu befürchten, dass der Einsatz moderner Kommunikationstechnologien in erstinstanzlichen Verhandlungen vor dem Land- und Oberlandesgericht im Revisionsverfahren zu einer Zunahme von Verfahrensrügen nach § 261 StPO führen würde. Zwar kann grundsätzlich die Revision nicht darauf gestützt werden, ein Zeuge habe in der Hauptverhandlung etwas anderes bekundet, als im Urteil festgestellt wurde, oder das Tatgericht habe sich mit einer im Urteil nicht enthaltenen Aussage einer Beweisperson nicht auseinander gesetzt. Von diesem Grundsatz macht jedoch die Rechtsprechung eine Ausnahme, wenn eine Aussage wörtlich niedergeschrieben und nach § 273 Abs. 3 StPO genehmigt worden ist (BGHSt 38, 14) oder wenn Vernehmungsniederschriften oder Urkunden verlesen worden sind (BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 7, 22 ), weil dann ohne Rekonstruk-tion der Beweisaufnahme allein aufgrund der Aktenlage der Nachweis geführt werden kann, dass die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung benutzten Beweismittel gewonnen werden konnten oder das Gericht Beweismittel unbeachtet gelassen habe.

Überträgt man diese Rechtsprechung auf Bild- und Tonaufnahmen, deren weitgehende Gleichstellung mit Vernehmungsniederschriften über § 255a StPO angestrebt ist, wäre zu erwarten, dass auch Tonbandaufzeichnungen im landgerichtlichen Verfahren eine Verfahrensrüge nach § 261 StPO begründen können. Dies würde zu einer erheblichen Erschwernis für das Revisionsverfahren führen, weil es regelmäßig der vollständigen Durchsicht der Tonbandaufnahmen bedürfte, damit sich etwaige Lücken schließen oder behauptete Widersprüche auflösen ließen. Zudem würde das Revisionsgericht in Fällen, in denen verschiedene Dolmetscher unterschiedliche Übersetzungen einer Aussage geliefert haben, die alle durch Tonband festgehalten wurden, sprachwissenschaftliche Studien anstellen müssen, um den behaupteten Inhalt der Aussage auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Eine derartige Wiederholung der tatrichterlichen Beweisaufnahme würde nicht nur zu zeitlichen Verzögerungen im Revisionsverfahren führen, sondern auch zu einer Vermischung der Verantwortungsbereiche von Tatrichter und Rechtsmittelgericht.

Sofern Tonaufzeichnungen nur dem Gericht intern als Gedächtnisstütze dienen sollen und nicht an Dritte herausgegeben werden, werden sie – ebenso wie handschriftliche Notizen des Richters während der Hauptverhandlung – nicht zum Bestandteil der Akten. Solche internen Tonaufzeichnungen sind mit Zustimmung der Betroffenen bereits nach geltendem Recht möglich (BGHSt 19,193).

Auch aufgrund der Probleme, die in einer im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz erstellten Studie (Albrecht/Kilchling u.a.: „Der Einsatz akustischer und visueller Dokumentationsverfahren im Strafverfahren“, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. 2002) angesprochen werden, ergibt sich, dass die Nachteile die möglichen Vorteile einer Aufzeichnung der Hauptverhandlung des Land- oder Oberlandesgerichts überwiegen.

Nach dieser Studie kommt bei der Verwendung von Audio- bzw. Videoaufzeichnungen in der Hauptverhandlung zu Protokollierungszwecken Praktikabilitätserwägungen eine besondere Bedeutung zu: Die vollständige Aufnahme der Hauptverhandlung produziert eine Vielfalt und Menge von Informationen, die die Staatsanwaltschaft und insbesondere die Strafverteidigung vor das Problem stellt, Komplexität reduzieren zu müssen (Albrecht a.a.O. S. 502). Daher wird gegen die audiovisuelle Protokollführung von anwaltlicher und staatsanwaltlicher Seite eingewendet, dass das Studium von schriftlichen Protokollen wesentlich einfacher sei als das Anschauen von zumeist stundenlangen Videoaufzeichnungen, etwa bei der Vorbereitung von Plädoyers und Rechtsmittelbegründungen (Kilchling a.a.O. S. XIII mwN.). In den USA wurde gerügt, dass die Rechtsstaatlichkeit des Strafprozesses verletzt werde, da das Erfordernis der Gesamtdurchsicht der Videobänder eine zeitlich ökonomische Vorbereitung, insbesondere auch die Einhaltung gesetzter Fristen nicht ermögliche (Silverman a.a.O. S. 299). Gleichzeitig wird der von der Revisionsinstanz unüberprüfbare Spielraum des Tatrichters durch die Einführung dieser Aufzeichnungen enger, denn die Aufzeichnungen sind stets Teil der Akten und werden somit für die Beurteilung der Frage herangezogen, ob Verfahrensfehler oder materielle Fehler vorliegen (Albrecht a.a.O. S. 494; Diemer, NStZ 2002, 19). Damit wird die Angriffsfläche für die Revision größer (Albrecht a.a.O. S. 495). Hier werden auch Probleme der Gleichbehandlung sichtbar: Wenn eine audiovisuell aufgezeichnete Vernehmung eine bessere Überprüfung durch die Revision zulässt, dann kann dies nicht nur in Fällen ermöglicht werden, die durch besondere Erfordernisse des Opfer/Zeugenschutzes charakterisiert sind (Albrecht a.a.O. S. 495). Letztlich bleibt offen, welchen Nutzen die Verwertung der Aufzeichnungen in einer reinen Revisionsrechtsmittelinstanz hat. Hierzu scheinen in den meisten Ländern kaum Erfahrungen vorzuliegen.“ (BR-Drucksache 829/03, S. 27 ff.)

 

B. Bewertung des Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes (DokHVG)

 

Es steht außer Frage, dass sich die technischen Rahmenbedingungen seit 2004 erheblich geändert haben. Die Befundtatsachen, die der sorgsam begründeten Entscheidung, damals von einer Inhaltsdokumentation der Hauptverhandlung abzusehen, zugrunde lagen, sind jedoch gleich geblieben. Auch eine künftige Regelung muss sich an ihren Auswirkungen auf den Strafprozess, insbesondere auch auf die Trennung zwischen Erkenntnis- und Revisionsverfahren, messen lassen.

Dem wird der vorgelegte Referentenentwurf nicht gerecht. Das DokHVG zeigt keinen Regelungsbedarf auf (nachfolgend I.) und schützt die Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten unzureichend (nachfolgend II.). Es droht, die Wahrheitsfindung im Strafverfahren zu beeinträchtigen (nachfolgend III.) und führt zu erheblichen Mehrbelastungen der Tatgerichte (nachfolgend IV.) sowie der Revisionsinstanz (nachfolgend V.). Insgesamt ist eine weitergehende Belastung der ohnehin schon knappen Ressourcen in der Justiz zu erwarten (nachfolgend VI.) und es bestehen erhebliche Zweifel, dass die dem DokHVG zugrunde liegenden Erwartungen an die technische Umsetzbarkeit einer digitalen Inhaltsdokumentation realisiert werden können (nachfolgend VII.). Diesem Umstand trägt auch die vorgeschlagene Pilotierung nicht ausreichend Rechnung (nachfolgend VIII.).

 

I. Es besteht kein Regelungsbedarf

Das DokHVG identifiziert als Problemstellung, dass derzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zur Verfügung stehe. Die Verfahrensbeteiligten müssten sich eigene Notizen als Gedächtnisstütze machen und könnten sich daher nicht immer vollumfänglich auf das Geschehen der Hauptverhandlung konzentrieren. Zudem könnten Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung entstehen (Referentenentwurf – Ref-E –, S. 1). Abhilfe schaffe eine digitale Inhaltsdokumentation, deren Hauptfunktion darin bestehe, den Verfahrensbeteiligten ein verlässliches, objektives und einheitliches Hilfsmittel für die Aufbereitung des Hauptverhandlungsgeschehens zur Verfügung zu stellen.

In der weiteren Begründung beruft sich der Referentenentwurf ausdrücklich auf die Ergebnisse der im Herbst 2019 eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe, die er wie folgt zusammenfasst: „Nach den Ergebnissen der Expertinnen- und Expertengruppe steht fest, dass die Einführung einer technischen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sowohl rechtlich als auch technisch-organisatorisch möglich ist und erhebliche Chancen für eine noch bessere Wahrheitsfindung im Strafverfahren bietet.“ (Ref-E, S. 11).

 

1. Kein Expertenvotum für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafverfahren

Diese Deutung bedarf jedoch schon im Ausgangspunkt einer klarstellenden Einordnung: Der – zwischen den Expertinnen und Experten nicht abschließend abgestimmte, sondern aus den Berichten der Unterarbeitsgruppen seitens des Bundesministeriums der Justiz zusammengefasste – Bericht schlägt die Einführung einer digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung gerade nicht vor. Vielmehr heißt es darin als eine Art Fazit: „Eine technische Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung bietet für den Fall ihrer Einführung nach den in den Unterarbeitsgruppen gefundenen Ergebnissen Chancen, mit ihr sind aber auch Risiken verbunden. Die Notwendigkeit der Einführung einer technischen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung wird von den Mitgliedern der Expertinnen- und Expertengruppe allerdings unterschiedlich beurteilt.“ (Expertenbericht, S. 15)

Insoweit haben sich die Fachleute gerade nicht für einen derart folgenschweren Eingriff in das Strafverfahren ausgesprochen.

 

2. Keine empirisch belegten Defizite

Weitere Argumente, die geeignet wären, die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Regelungen zu belegen, enthält der Referentenentwurf nicht. Zwar unterstellt die Entwurfsbegründung nicht, dass die Gerichte in der Vergangenheit bei ihrer Überzeugungsbildung Inhalte von Zeugenaussagen zugrunde gelegt hätten, welche von den tatsächlichen Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung abgewichen wären. Andererseits aber werden auch keine Fälle aus der Praxis benannt, die als Referenzbeispiele für die Notwendigkeit einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung dienen könnten, insbesondere keine empirischen Belege für eine Diskrepanz zwischen Urteilsfeststellungen und Zeugenaussagen im Strafprozess.

 

3. Warnungen der Expertinnen- und Expertengruppe vor einer
audiovisuellen Dokumentation bleiben ungehört

Der Verweis auf die Expertinnen- und Expertengruppe bedarf darüber hinaus einer weiteren Klarstellung: Der Referentenentwurf beruft sich darauf, sich in wesentlichen Teilen auf die in ihrem Abschlussbericht zusammengefassten Erkenntnisse zu stützen (Ref-E, S. 11). Unerwähnt aber bleibt, dass sich die Praktiker für den Fall, dass sich der Gesetzgeber für eine technische Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung entscheidet, für eine Tonaufzeichnung, die mittels Transkriptionssoftware verschriftlicht werden sollte, ausgesprochen haben und ausdrücklich gegen eine Bild-Ton-Aufzeichnung (Expertenbericht, S. 16, dort unter laufender Nummer 1).

Die Unterarbeitsgruppe „Prozessverhalten und Protokoll“ gelangt zu dem Schluss, dass die Tonaufzeichnung verbunden mit einer Transkription der Bild-Ton-Aufzeichnung nicht nachstehe, aber deren Risiken und Nachteile vermeide (Expertenbericht, S. 24). Zu Auswirkungen auf die Aussagebereitschaft von Angeklagten und Zeugen führt die Unterarbeitsgruppe aus, dass von einer reinen Tonaufnahme erheblich geringere Auswirkungen auf die Bereitschaft zur (wahrheitsgemäßen) Aussage zu erwarten seien. Auch stelle sie einen erheblich geringeren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar (Expertenbericht, S. 27). Eine audiovisuelle Aufzeichnung dürfte nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand ferner nicht dazu geeignet sein, auf ihrer Grundlage eine verlässliche Glaubhaftigkeits- und Glaubwürdigkeitsbeurteilung vorzunehmen (Expertenbericht, S. 27). Würde sich der Gesetzgeber für eine Aufzeichnung von Hauptverhandlungen entscheiden, könnte dies die Wahrheitsfindung in der Tatsacheninstanz (mittelbar) verbessern. In der Gesamtschau werde der Abwägung zwischen der (mittelbaren) Verbesserung der Wahrheitsfindung in der Tatsacheninstanz auf der einen und dem Beschleunigungsgrundsatz sowie dem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten auf der anderen Seite eine Aufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung mittels eines durch Transkription einer Tonaufzeichnung erstellten Protokolls am besten gerecht (Expertenbericht, S. 48 f.). Gegenüber einem Wortprotokoll, dass auf der Transkription einer Tonaufzeichnung beruhe, vermag die Verfügbarkeit einer Video- oder Audioaufzeichnung nach wissenschaftlichem Stand in der Rechtspsychologie allenfalls in geringem Umfang die Wahrheitsfindung zu fördern. Forschungsergebnisse sprächen zudem dafür, dass das über eine Videoaufzeichnung wahrnehmbare Begleitverhalten für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung allenfalls von geringer Relevanz sei. Die Videoaufzeichnung sei daher wegen ihrer weitergehenden Auswirkung auf die Persönlichkeitsrechte als unverhältnismäßig abzulehnen (Expertenbericht, S. 50).

Weiter heißt es in dem Bericht der Unterarbeitsgruppe (Expertenbericht, S. 54 f.): „Es bleibt mithin festzustellen, dass gegen eine obligatorische Aufzeichnung strafgerichtlicher Hauptverhandlungen gewichtige Argumente streiten, die den Gesetzgeber in der Vergangenheit durchaus sachlich begründet zu einer entsprechenden Zurückhaltung motiviert haben und denen in einer zukünftigen Regelung Rechnung getragen werden müsste. Möchte man trotz der erheblichen Bedenken, die hiergegen nicht nur die Justizpraxis hat, sondern noch 2004 auch der Gesetzgeber hatte, dem Gedanken einer Dokumentation der Hauptverhandlung vor den Land- und Oberlandesgerichten näher treten, so sollte eine Tonaufzeichnung eingeführt werden. Eine zusätzliche visuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung verschafft gegenüber einer reinen Audioaufzeichnung keinen rechtlichen oder tatsächlichen Mehrwert und ist mit einem zusätzlichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten sowie erheblichen Kosten verbunden. Insbesondere ist eine Videoaufzeichnung für eine hinreichend verlässliche Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ungeeignet.“

Eine Auseinandersetzung mit diesem mahnenden Votum der Expertinnen und Experten ist dem Referentenentwurf zum DokHVG nicht zu entnehmen. Gleiches gilt für die gebotene Abwägung zwischen gesteigertem Risiko für Persönlichkeitsrechte (Expertenbericht, S. 95) und den Vorteilen einer audiovisuellen Aufzeichnung. Zur Begründung der Aufzeichnung in Ton und Bild heißt es lediglich, dass durch eine audiovisuelle Aufzeichnung die Informationen am umfänglichsten festgehalten werden. Sie sei, so der Referentenentwurf recht apodiktisch, gegenüber einer reinen Tonaufzeichnung die überlegene Methode. Ein Eindruck der Hauptverhandlung in Bild und Ton könne den Ablauf des Verfahrensgeschehens im Einzelfall besser vor Augen führen, als eine reine Tonaufzeichnung (Ref-E, S. 19).

 

4. Keine vergleichbare und vor allem keine überlegene Praxis im Ausland

Ferner verweist der Referentenentwurf darauf, dass die Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung in Bild und Ton oder nur Ton in verschiedenen anderen europäischen Staaten inzwischen gängige Praxis sei (Ref-E, S. 10).

Dabei bleibt jedoch außer Acht, dass dort andere Justizsysteme installiert sind, die der klaren Trennung zwischen Tatsacheninstanz und Rechtsüberprüfung durch das Revisionsgericht im deutschen Strafprozessrecht nicht entsprechen. Die im Expertenbericht zutage geförderten Erkenntnisse zu diesen Unterschieden und den im Ausland gemachten (auch negativen) Erfahrungen lässt der Referentenentwurf unberücksichtigt; sie sollen in der Folge lediglich beispielhaft hervorgehoben werden.

So sind in Schweden im dreigliedrigen Instanzenzug alle Folgeinstanzen Tatsacheninstanzen. Die Videoaufzeichnung dient hier der Vermeidung von wiederholten Vernehmungen (vorrangig) zu Beweiszwecken in den Folgeinstanzen (vgl. Expertenbericht – Anlagenband –, S. 137 mwN).

Beim Internationalen Strafgerichtshof dient die audiovisuelle Aufzeichnung allein der Herstellung von Öffentlichkeit; nicht hingegen der Dokumentation der Hauptverhandlung, etwa als Grundlage für Urteilsberatungen oder zur Vorbereitung der Revision. Für die Dokumentation der Hauptverhandlung ist allein das verschriftete Wortprotokoll vorgesehen (vgl. Expertenbericht – Anlagenband – , S. 133 mwN).

Eine spanische Kollegin schilderte im Rahmen eines Berichts für die Expertinnen- und Expertengruppe, dass Richter und Staatsanwälte sich über die Arbeit mit den Videoprotokollen beklagten, da dadurch ihre Arbeit verlangsamt würde. Stattdessen sei die Forderung nach einer schriftlichen Transkription erhoben worden. Eine automatisierte Transkription als bloßes Hilfsmittel – nicht als Dokumentationsersatz – werde vom Justizministerium gegenwärtig in zwei Bezirken pilotiert. Zudem würden Richter in Spanien trotz der audiovisuellen Aufzeichnung weiterhin den Inhalt der Hauptverhandlung selbst mitschreiben. Die spanische Kollegin berichtete, auch sie selbst fertige gewissermaßen ein eigenes Protokoll, zumal sie dadurch ihre Entscheidungen viel schneller absetzen könne (vgl. zu alledem Expertenbericht – Anlagenband –, S. 136). Damit wird zwei verbreiteten Thesen der Boden entzogen: zum einen machen Videoaufzeichnungen das Fertigen eigener Mitschriften nicht entbehrlich, zum anderen dürfte die Urteilsabsetzung in längeren Verfahren durch die Aufzeichnung nicht beschleunigt werden.

Dem Expertenbericht lässt sich darüber hinaus entnehmen, „dass der Weg hin zu einem reinen Videoprotokoll in den USA bereits früh beschritten wurde, (…) seine ausschließliche Nutzung bis heute allerdings die seltene Ausnahme“ geblieben ist (Expertenbericht – Anlagenband –, S. 138). Videoaufzeichnungen würden – sofern sie denn erstellt werden – zumeist in ein schriftliches Wortprotokoll übertragen. Videoprotokoll bzw. videobasierte Protokollerstellung sind ausweislich des Expertenberichts bis heute nicht gängige Praxis, obwohl in den USA bereits vor mehreren Jahrzehnten die rechtlichen Grundlagen hierfür geschaffen worden seien (Expertenbericht – Anlagenband –, S. 139).

Diese Beispiele zeigen, dass die Dokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen in anderen Staaten durch Aufzeichnung in Bild und Ton oder nur in Ton für sich genommen kein belastbares und vor allem kein qualitativ aussagekräftiges Argument für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafprozess darstellt. Die Verfahrensordnungen der anderen europäischen Länder und des ICC unterscheiden sich von der StPO teilweise erheblich, insbesondere hinsichtlich der Ausgestaltungen des Unmittelbarkeitsprinzips und der Möglichkeiten zum Schutz der Zeugen etwa durch Anonymisierungen (vgl. etwa die „protective measures“ nach Rule 87 der rules of procedure and evidence des ICC) sowie der Strenge des Öffentlichkeitsprinzips („closed sessions“ des ICC). Es gilt die Besonderheiten des deutschen Strafprozessrechts ebenso in den Blick zu nehmen wie etwaige negative Erfahrungen in anderen Rechtsordnungen.

 

II. Unzureichender Persönlichkeitsschutz

Eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung greift im Vergleich zu den übrigen denkbaren Formen der Dokumentation am intensivsten in die Grundrechte der Zeugen und sonstigen Verfahrensbeteiligten ein.


Diesem Umstand trägt das DokHVG nicht hinreichend Rechnung.

 

1. Intensiver Grundrechtseingriff durch Aufzeichnung in Bild und Ton

Betroffen ist das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort sowie das Verfügungsrecht über Darstellungen der eigenen Person umfasst. Eine Videodokumentation berührt das allgemeine Persönlichkeitsrecht ganz erheblich, weil neben dem Wortlaut des Bekundeten die Persönlichkeit und mitunter auch die Intimsphäre offenbart werden. In besonderer Weise gilt dies, wenn eine Kamera direkt auf einen Verfahrensbeteiligten ausgerichtet würde und zusätzlich die Möglichkeit bestünde, mittels Zoom einen noch genaueren Blick auf Gestus und Habitus des jeweiligen Verfahrensbeteiligten zu erlangen.

In erster Linie für Aussagepersonen dürften die mit einer Videodokumentation einhergehenden Belastungen schwer wiegen. Opfer sexueller Gewalt z.B. müssen im Rahmen ihrer Aussage regelmäßig sehr persönliche Angaben machen und tiefe Einblicke in ihre Intimsphäre gewähren. Gerade solche Zeugen, die sich zudem vielfach einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ausgesetzt sehen, drohen durch laufende Kameras zusätzlich belastet zu werden und zwar auch dann, wenn im Ermittlungsverfahren bereits eine videodokumentierte Vernehmung stattgefunden hat.

Darüber hinaus kann eine Videodokumentation die Erinnerung einer Aussageperson an Traumata herbeiführen. Zu denken ist dabei insbesondere an Opfer sexueller Gewalt, die bei der Tat fotografiert oder gefilmt wurden; eine Fallkonstellation, die in der Praxis nicht selten vorkommt (Buckow, ZIS 2012, S. 551 (554); Krauß, Die Videodokumentation der Hauptverhandlung, Stellungnahme für die Expertenkommission des BMJV zur effektiven und praxistauglichen Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, Anlagenband I, S. 547 (558)).

Besondere Belastungen durch eine Videodokumentation der Hauptverhandlung sind auch in Bezug auf den Angeklagten denkbar. Der Prozessauftakt und die Urteilsverkündung etwa stellen für Angeklagte psychische Ausnahmesituationen dar. Nicht selten reagieren sie körperlich stark auf die Verlesung der Anklageschrift, einzelne Zeugenaussagen und den Urteilsspruch. Ungeachtet dessen beeinträchtigt eine Videodokumentation der Einlassung eines Angeklagten – ganz besonders in Fällen schwerer Gewaltstraftaten oder in Fällen sexueller Gewalt zum Nachteil von Kindern – den Anspruch des Angeklagten auf Achtung der Unschuldsvermutung sowie seine spätere Resozialisierung. Die Verbreitung von Videoaufzeichnungen der vorbezeichneten Art könnte zu einer Prangerwirkung ungeahnten Ausmaßes für den Angeklagten führen.

Ferner dürfen in diesem Zusammenhang die Persönlichkeitsrechte der professionellen Verfahrensbeteiligten nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte nicht im gleichen Maße Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre genießen wie von dem Verfahren betroffene Privatpersonen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der Regelung in § 169 S. 2 GVG grundsätzliche Ausführungen zu der Eingriffstiefe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten im Falle von Videoaufzeichnungen im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung sowie deren Verbreitung gemacht und die damit verbundenen Folgen anschaulich skizziert (Bundesverfassungsgericht, NJW 2001, S. 1633 (1636)):

„In Gerichtsverfahren gewinnt der Persönlichkeitsschutz eine über den allgemein in der Rechtsordnung anerkannten Schutzbedarf hinausgehende Bedeutung. Dies gilt nicht nur, aber mit besonderer Intensität für den Schutz der Angeklagten und Zeugen im Strafverfahren, die sich unfreiwillig der emotional nicht selten angespannten Situation der Verhandlung und damit auch der Öffentlichkeit stellen müssen. Informationen werden mit Hilfe staatlicher Gerichte und gegebenenfalls auch unter Zwang erhoben. Werden sie in Ton und Bild fixiert und dadurch von der flüchtigen Wahrnehmung der im Gerichtssaal Anwesenden gelöst und werden die Aufnahmen insgesamt oder in Teilen in den Kontext einer Fernsehsendung gebracht, so wird der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht verstärkt. Die Verbreitung der Aufnahmen kann abgelöst von dem Verfahren erhebliche Folgen bewirken, etwa auf Grund der Prangerwirkung der öffentlichen Darstellung des Verhaltens vor Gericht oder wegen der nachhaltigen Erinnerung eines großen Teils der Öffentlichkeit an das Verfahren, die beispielsweise eine spätere Resozialisierung erschweren können (vgl. BVerfGE 35, 202 [219 ff., 226 ff.] = NJW 1973, 1226). Auch besteht ein hohes Risiko der Veränderung des Aussagegehalts, wenn die Aufnahmen geschnitten oder sonst wie bearbeitet, mit anderen zusammengestellt oder gar später in anderen inhaltlichen Zusammenhängen wiederverwendet werden. Der Abwehr solcher Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (zu ihm vgl. BVerfGE 65, 1= NJW 1984, 419) dient der generelle Ausschluss von Aufnahmen und deren Verbreitung.“

 

2. Keine hinreichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte

Der aufgezeigte Grundrechtseingriff vor allem in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entbehrt einer verfassungsrechtlichen Legitimation. Ein solcher Eingriff kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn er geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Insbesondere an der Erforderlichkeit bestehen aber erhebliche Zweifel. Denn das mit der Gesetzesänderung bezweckte Ziel, eine Inhaltsdokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen zu ermöglichen, kann in gleicher Weise durch eine rein akustische Aufzeichnung erreicht werden. Die zusätzlich vorgesehene Videoaufzeichnung erbringt demgegenüber keinen relevanten Mehrwert, hat aber einen deutlich tieferen Grundrechtseingriff zur Folge (so auch Expertenbericht, S. 16, 24, 55).

Insbesondere ist eine audiovisuelle Aufzeichnung nicht geeignet, die Wahrheitsfindung zu fördern. Die im Rahmen der Unterarbeitsgruppe „Prozessverhalten und Protokoll“ angehörten renommierten rechtspsychologischen Sachverständigen haben diese Annahme widerlegt (vgl. dazu Expertenbericht – Anlagenband –, S. 39 f., 66 f. sowie das Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020).

Prof. Dr. Köhnken etwa führte aus, dass es keine Lügensymptome gebe. Untersuchungen zeigten keine bedeutsamen Unterschiede in der Auftretenshäufigkeit von Verhaltensweisen bei wahren und falschen Aussagen. Bei der Bewertung von Zeugenaussagen gebe es keine verlässlichen, optisch wahrnehmbaren Lügensignale (Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 25 f.). Prof. Dr. Volbert zufolge kommen Begleitgesten, mit denen beispielsweise das Tatgeschehen demonstriert werden soll, ebenso bei erfundenen Aussagen vor. Menschliches Verhalten vor, während und nach einer Aussage – wie etwa Kopfnicken, Schulterzucken, Mimik oder sonstige Körpersprache – könne auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sein und müsse nicht unbedingt etwas bedeuten. Verhaltensweisen könnten auch schlicht in der Nervosität begründet liegen (Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 26). Ob jemand lügt oder nicht, lässt sich anhand von nonverbalen Elementen einer Aussage, etwa der Körpersprache, folglich nicht erkennen. Optisch wahrnehmbares Verhalten wird in seiner Aussagekraft gemeinhin überschätzt. Die Trefferquote bei Personen, die aufgrund ihres Eindrucks vom Verhalten ein Urteil darüber abgeben sollten, ob jemand die Wahrheit oder Unwahrheit gesagt habe, liege nach rund 200 Studien bei knapp 50 %. Beurteilungen aus dem Bauch heraus führten lediglich zu Zufallsergebnissen. All dies gelte auch für das Verhalten vor und nach Aussagen (vgl. Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 25 ff.). Die Aufnahme von Bildern leistet damit keinen Beitrag zur Verbesserung der Wahrheitsfindung.

Die Betrachtung einer audiovisuellen Aufzeichnung bringe auch sonst keinen nennenswerten Mehrwert gegenüber einer Audioaufzeichnung. Denn diejenigen, die an der Hauptverhandlung teilgenommen haben, hätten die Bilder ohnehin gesehen und würden sich an diese in der Regel auch beim Anhören einer Tonaufnahme wieder erinnern (Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 30).

Darüber hinaus sei es bedenklich, die audiovisuelle Aufzeichnung zum Zwecke des Vorhalts einzusetzen. Denn eine audiovisuelle Aufzeichnung vermittele einen lebhafteren Eindruck. Dies wiederum könne den Prozess der Überlagerung von Erinnerungen beschleunigen (Protokoll der Sitzung der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 31).

Eine Videoaufzeichnung kann nach alledem nicht dazu genutzt werden, die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage beziehungsweise der Glaubwürdigkeit eines Zeugen auf eine verlässlichere Grundlage zu stellen. Sie ist zur Förderung der Wahrheitsfindung nicht geeignet, teilweise sogar kontraproduktiv und mithin nicht erforderlich.

 

3. Das Ausmaß des Grundrechtseingriffs wird in wesentlichen Teilen normativ nicht eingehegt

Darüber hinaus hegt der Entwurf des DokHVG das Ausmaß des Grundrechtseingriffs in wesentlichen Teilen normativ nicht ein und überlässt dies stattdessen der Praxis. Ein bundesweit einheitliches Schutzniveau wird mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen dadurch nicht gewährleistet.

In § 273 Abs. 1 StPO-E heißt es hierzu, dass die Aufzeichnung in Bild und Ton unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte der aufgezeichneten Personen zu erfolgen habe. In der Gesetzesbegründung wird erläuternd ausgeführt, dass dem Persönlichkeitsrechtsschutz z.B. durch die Wahl von Kamera- und Aufnahmeperspektiven oder auch durch eine Verpixelung Rechnung getragen werden könne. Detailliertere gesetzliche Vorgaben seien nicht angezeigt, um den Spielraum der Länder bei der technischen Umsetzung nicht zu sehr einzuschränken (Ref-E, S. 21).

Diese generalklauselartige Regelung ist zu unbestimmt, weil sie die Eingriffsintensität in Persönlichkeitsrechte, die z.B. durch die Kameraperspektive (Einsatz mehrerer Kameras, Frontalaufnahmen, Übersichtsaufnahmen usw.) oder auch durch die Frage des Einsatzes von Kamerazoom ganz maßgeblich mitbestimmt wird, letztlich nicht begrenzt. Der Gesetzgeber ist aber aus verfassungsrechtlichen Gründen dazu angehalten, einen Grundrechtseingriff so gering wie möglich zu halten, was konkrete Regelungen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der aufgezeichneten Personen erfordert.

 

4. Hohe mediale Anziehungskraft von Bild-Ton-Aufzeichnungen

Dem intensiven Eingriff in Persönlichkeitsrechte steht zudem eine erhebliche mediale Anziehungskraft von Bild-Ton-Aufzeichnungen gegenüber. Im Zeitalter des Internets sind Bildaufnahmen besonders wirkmächtig. Soziale Medien sind omnipräsent. Der sich auf Plattformen breit machende, kaum zu stillende Informationshunger sowie die Sensationslust der Nutzer sind immens. Aus einer Vielzahl von Gerichtsverfahren – vor allem gegen Prominente – ist bekannt, dass Bestandteile der Ermittlungsakte an die Öffentlichkeit gelangt sind. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, Tonträger oder Videos könnten nicht den Weg in das Internet oder die Medien finden, realitätsfern.

Als Musterbeispiel für die medialen Wirkmechanismen dient die Veröffentlichung von Inhalten aus dem Verfahren gegen Stephan E., der vom 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Lübcke schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die im Ermittlungsverfahren durchgeführten Vernehmungen von Stephan E. waren gemäß § 136 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO aufgezeichnet worden. Noch vor Ende der Hauptverhandlung wurden die videodokumentierten Vernehmungen Dritten zugänglich gemacht. Eine Sendung aus dem Jugendangebot von ARD und ZDF veröffentlichte in der Folge ein Video, das einzelne Ausschnitte dieser Vernehmungen zeigte. Dieses Video ist noch heute auf YouTube abrufbar. Damit ist Stephan E. durch eine staatlich angeordnete Ermittlungsmaßnahme nicht nur für die Gerichtsöffentlichkeit, sondern für jeden Interessierten im heimischen Wohnzimmer erlebbar geworden und mit ihm auch sein Opfer, dessen Tötung er geschildert hat.

Die im Vergleich zu den Schutzvorkehrungen im Referentenentwurf deutlich engere Regelung des § 58a Abs. 2 Satz 1 StPO hat in diesem Fall keine ausreichende Schutzwirkung entfalten können. Gerade in medienrelevanten Staatsschutzsachen ist es keine Seltenheit, dass Akteninhalte den Weg in die Öffentlichkeit finden. Dieser Befund wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass mittlerweile die vollständigen Ermittlungsakten im NSU-Komplex im Internet veröffentlicht sind.

Der Anreiz, Inhalte aus einer Hauptverhandlung zu veröffentlichen, dürfte in dieser Form allerdings nur bei einer Videodokumentation bestehen. Bildaufnahmen erregen grundsätzlich mehr Interesse, binden mehr Aufmerksamkeit und haben folgerichtig eine größere Reichweite. Das Abhören von Tonbandaufzeichnungen hingegen ist mühsam und daher die Verbreitung in den sozialen Medien vergleichsweise unattraktiv.

Der Expertenbericht sieht diese Gefahren, indem er zutreffend ausführt: „Ein vollkommener Schutz der Dokumentation ist nicht möglich. Daher ist es unter dem Gesichtspunkt des Verbreitungsschutzes besonders wichtig, Aufzeichnungen möglichst persönlichkeitsrechtsschonend zu gestalten und auf das für das Verfahren nötige Maß zu begrenzen.“ (Expertenbericht, S. 87)

 

5. Kein ausreichender strafrechtlicher Schutz von Persönlichkeitsrechten

Der Referentenentwurf zum DokHVG sieht diese Gefahr durchaus und schlägt daher u.a. eine Ergänzung von § 353d StGB um eine neue Nummer 4 vor. Diese Strafvorschrift aber ist aus mehreren Gründen nicht geeignet, der medialen Anziehungskraft von Bild-Ton-Aufzeichnungen wirksam entgegenzutreten.

Denn abgesehen davon, dass eine abstrakte Strafandrohung ihre konkrete Wirkung zu spät, nämlich erst nach erfolgter Weitergabe der Aufzeichnung und damit einhergehender Zeugengefährdung entfaltet, würde sie in der praktischen Anwendung vielfach leerlaufen. An den Vorgängen der Aufzeichnung, Übertragung, Übermittlung und Überlassung der Dokumentation der Hauptverhandlung werden unweigerlich eine Vielzahl von Personen beteiligt sein. Für einige der damit befassten Personen könnten die geldwerten Vorteile, die mit einer rechtswidrigen Weitergabe der Aufzeichnungen erzielt werden können, im Hinblick auf die geringe Strafbewehrung des § 353d StGB-E einen erheblichen Anreiz darstellen, der das bestehende Sanktionsrisiko zurücktreten lässt. Anzumerken ist zudem, dass der Referentenentwurf mit der Ergänzung von § 353d StGB, der einen Strafrahmen von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vorsieht, hinter der im Expertenbericht vorgeschlagenen Sanktion in Form einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und einer Versuchsstrafbarkeit (Expertenbericht, S. 116) zurückbleibt und daher ein geringeres Abschreckungspotential bietet.

Darüber hinaus dürfte die Strafdrohung, soweit es die Weitergabe von Aufzeichnungen an die Medien betrifft, schon deshalb wenig effektiv sein, weil Journalisten gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Sätze 2 und 3 StPO hinsichtlich der Person des Einsenders von Unterlagen für redaktionell aufbereitete Informations- und Kommunikationsdienste ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. So ist zu befürchten, dass Aufzeichnungen und/oder Transkripte in redaktionell bearbeitete Veröffentlichungen eingebracht und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die Person, die sich gemäß § 353d Nr. 4 StGB-E strafbar gemacht hat, dann aber wegen des Zeugnisverweigerungsrechts der beteiligten Journalisten nicht zu ermitteln ist. Das Risiko, wegen einer Weitergabe von Aufzeichnung und/oder Transkript an einen Journalisten bestraft zu werden, ist deshalb äußerst gering.

Gleiches gilt hinsichtlich der gemäß § 273 Abs. 8 StPO-E untersagten Weitergabe von Aufzeichnungen durch Rechtsanwälte an ihre Mandanten. Denn eine Tathandlung im Sinne von § 353d Nr. 4 StGB-E dürfte nur vorliegen, wenn der Rechtsanwalt bei der Weitergabe weiß oder damit rechnet, dass die Bild-Ton-Aufzeichnung im Anschluss einer größeren, nicht mehr kontrollierbaren Zahl von Personen zugänglich gemacht wird (vergleiche Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4. August 2009, 3 StR 174/09). Dies wird sich auch mit Blick auf das Mandatsgeheimnis kaum jemals beweisen lassen. Eine Beihilfestrafbarkeit wiederum wird regelmäßig am Vorsatz bezüglich der Haupttat oder der Beweisbarkeit desselben scheitern, so dass ein Verstoß gegen § 273 Abs. 8 StPO-E letztlich sanktionslos bleiben dürfte.

 

6. Kein ausreichender verfahrensrechtlicher Schutz von Persönlichkeitsrechten

Auch die vorgesehenen verfahrensrechtlichen Sicherungen sind nicht geeignet, einen ausreichenden Schutz der Persönlichkeitsrechte der aufgezeichneten Personen zu gewährleisten. § 273 Abs. 6 StPO-E sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft, der Verteidiger und der Nebenklagevertreter nach jedem Verhandlungstag unverzüglich Zugang zur jeweiligen Aufzeichnung und dem dazugehörigen Transkript erhalten. § 32f StPO soll entsprechend gelten.

Diese Regelung lässt das erhebliche Gefährdungs- und Missbrauchspotenzial insbesondere in Staatsschutzsachverhalten oder aber auch bei Delikten aus dem Bereich organisierter Täterstrukturen außer Acht. Es liegt auf der Hand, dass sich aus der Weitergabe insbesondere audiovisueller Inhaltsdokumentationen an sämtliche Verfahrensbeteiligte erhebliche Gefährdungen für Zeugen ergeben können, insbesondere solchen, denen nach § 68 Abs. 3 StPO gestattet wurde, keine Angaben zur Person zu machen.

Anders als bei der Niederschrift eines Vernehmungsprotokolls im Ermittlungsverfahren kann z.B. eine unbeabsichtigte Aufdeckung der Identität oder auch des Aufenthaltsorts eines Zeugen in der Hauptverhandlung nicht ausgeschlossen werden. Darüber hinaus bestehen im Einzelfall erhebliche Gefährdungen für z.B. (Kron-) Zeugen, Vertrauenspersonen oder auch Verdeckte Ermittler, denen etwa aufgrund der Stimme, Sprechweise oder dem Dialekt eine Enttarnung droht. In einem solchen Fall ist auch die Wahl der Kameraperspektive oder auch die Verpixelung völlig ungeeignet, der bestehenden Gefährdung eines Zeugen entgegenzuwirken.

Zwar untersagt es § 273 Abs. 8 StPO-E dem Verteidiger, die ihm zur Verfügung gestellte Aufzeichnung dem Angeklagten und auch Dritten zu überlassen. Es wäre aber geradezu naiv anzunehmen, dass es Akteuren im Bereich organisierter Kriminalität oder auch staatlicher Steuerung von Straftaten wie z.B. im sogenannten Tiergarten-Mord nicht möglich wäre, durch Erpressung, Bedrohung oder auch mittels komplexer Angriffe auf IT-Strukturen, in den Besitz der übermittelten Aufzeichnungen zu gelangen. Eine aus diesem Grund gebotene Regelung, dass der Vorsitzende durch eine – unanfechtbare – Entscheidung im Einzelfall von einer audiovisuellen Aufzeichnung absehen kann, wenn z.B. eine besondere Gefährdung von Verfahrensbeteiligten zu besorgen ist, ist nicht vorgesehen.

 

III. Drohende Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung im Erkenntnisverfahren

Das in Aussicht genommene DokHVG lässt zudem unübersehbare Auswirkungen auf die Wahrheitsfindung im Erkenntnisverfahren besorgen.

 

1. Beeinträchtigung des Aussageverhaltens von Zeugen

Ungeachtet der Eingriffe in die Rechtssphäre der Verfahrensbeteiligten sind erhebliche negative Auswirkungen auf das Aussageverhalten von Zeugen mit den entsprechenden negativen Konsequenzen für die Wahrheitsfindung zu befürchten. Zeugen kommt im Strafprozess eine ganz zentrale Bedeutung zu, ohne die eine Vielzahl von Tatvorwürfen, insbesondere in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen nicht aufgeklärt werden können. Zugleich ist der Zeugenbeweis besonders sensibel, beeinflussbar und im Einzelfall veränderlich.

Die Bereitschaft und Fähigkeit von Zeugen, vor Gericht frei und unbefangen auszusagen, dürfte im Einzelfall beträchtlich gemindert werden, wenn sie einkalkulieren müssen, dass sich eine spätere öffentliche Verbreitung der Aufzeichnung ihrer Aussage nicht wirksam verhindern lässt. Auf diesen Effekt hat auch der renommierte rechtspsychologische Sachverständige Prof. Dr. Köhnken in der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll hingewiesen: Es könne „zu Beklemmungen und Verängstigungen kommen, wenn ein Zeuge befürchtet, seine Aufzeichnung könnte an die Öffentlichkeit gelangen. Diese könnten sich wiederum auf die Informationsverarbeitung auswirken, d. h. darauf, wie gut man etwas aus dem Gedächtnis hervorholen könne“ (Protokoll der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 28 f.).

In bemerkenswerter Deutlichkeit äußerte sich auch der Regierungsentwurf zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 22. Januar 2021 in seiner Begründung zum Einfluss belastender äußerer Umstände auf die Aussagebereitschaft und Unbefangenheit von Zeugen (BR-Drucksache 57/21, S. 60):


„Zeugen sind wesentliche Beweismittel im Strafverfahren, deren Angaben zur Ermittlung der Wahrheit regelmäßig von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die Wahrheitsermittlung wird nicht zuletzt auch dadurch gefördert, dass dem Zeugen eine angstfreie Aussage ermöglicht wird, bei der er seine Wahrnehmungen unverfälschter mitteilen kann (Bundestagsdrucksache 16/12098, S. 10). In öffentlicher Hauptverhandlung mit Zuschauern unter anderem aus dem Lager des Angeklagten kann die Mitteilung der vollständigen Anschrift in Anwesenheit dieser weiteren Personen bei Zeugen Hemmungen auslösen, den Angeklagten belastende Umstände unbefangen vollumfänglich darzustellen, und gegebenenfalls auch die Bereitschaft erhöhen, sich möglicherweise eher auf Erinnerungslücken zu berufen. Eine für den Zeugen vergleichbar belastende Situation kann bei seiner richterlichen Vernehmung bestehen, soweit der Beschuldigte von seinem Anwesenheitsrecht (§ 168c Absatz 2 Satz 1 StPO) Gebrauch macht. Auch hier können Zeugen in ihrer Aussagebereitschaft gehemmt werden, wenn sie Bedenken haben müssen, dass anwesende Beschuldigte sich die Zeugenanschrift merken, an Dritte weitergeben oder über das Internet publik machen könnten.“

Es liegt auf der Hand, dass die Veröffentlichung der vollständigen Videodokumentation einer Aussage via Internet eine wesentlich nachhaltigere Wirkung auf die Aussagebereitschaft und Unbefangenheit eines Zeugen haben wird, als die bloße Angabe der vollständigen Anschrift des Zeugen in der Hauptverhandlung oder eine richterliche Vernehmung in Anwesenheit des Beschuldigten. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die geplante audiovisuelle Inhaltsdokumentation die Wahrheitsfindung im Strafprozess im Einzelfall beeinträchtigen wird.

 

2. Geminderte Aussagebereitschaft insbesondere im Bereich von organisierter Kriminalität sowie in Staatsschutzverfahren

Besonders deutlich stellt sich dieses Problem im Bereich der organisierten Kriminalität oder in Staatsschutzverfahren vor den Oberlandesgerichten. In solchen Verfahren werden regelmäßig Zeugen zu Sachverhalten vernommen, die eine noch aktive kriminelle oder terroristische Vereinigung zum Gegenstand haben. Nicht selten müssen diese Zeugen befürchten, dass sie selbst, Familienmitglieder oder Freunde bedroht oder nach ihrer Vernehmung für den Inhalt ihrer Aussage zur Rechenschaft gezogen werden.

Zeugen in derlei Gefährdungslagen sind in der Praxis bereits gegenwärtig nur eingeschränkt bereit, sich vernehmen zu lassen und zeigen regelmäßig ein großes Interesse zu erfahren, wer von dem Inhalt ihrer Bekundungen in welchem Umfang Kenntnis erlangt. Weiß ein Zeuge um die Gefahr der Veröffentlichung seiner eigenen Aussage in Bild und Ton, wird die berechtigte Sorge um das eigene Wohl ganz erheblich gesteigert. In völkerstrafrechtlichen Verfahren wird die Bedrohungslage für Zeugen noch dadurch verschärft, dass in diesen Fällen ein Staat betroffen sein kann, der über Vollzugsorgane verfügt und unter Umständen Zugriff auf Familienangehörige eines in Deutschland vernommenen Zeugen hat.

 

3. Geschwächter Opferschutz

Eine Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung läuft dem Gedanken des Opferschutzes gerade auch in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zuwider. Es wäre verheerend, wenn besonders schutzwürdige Opfer sexueller Gewalt mit der Verbreitung ihrer in öffentlicher Hauptverhandlung getätigten Aussagen in den sozialen Medien rechnen müssten und auf diese Weise an das Licht einer breiten Öffentlichkeit gezerrt würden. Solche Verfahren – es handelt sich regelmäßig um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – sind von intensiven und mitunter konfrontativen Befragungen durch Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Kindheit, Persönlichkeit und sämtlichen intimsten Vorgängen geprägt. Ohnehin traumatisierten Opferzeugen droht eine Reviktimisierung, wenn der Inhalt einer Zeugenaussage noch lange nach Abschluss des Verfahrens im Internet abrufbar ist.

Letztlich bringt der Referentenentwurf auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt einen gravierenden Rückschritt in Sachen Opferschutz mit sich: Ein Zeuge kann nach geltender Rechtslage der Überlassung einer Aufzeichnung seiner Bild-Ton-Vernehmung an den Verteidiger widersprechen (§ 58a Abs. 3 StPO). Ein solches Recht steht dem Zeugen für die audiovisuelle Dokumentation seiner Aussage in der Hauptverhandlung nicht zu (§ 273 Abs. 5 und 6 StPO-E), ohne dass dieser Widerspruch in der Begründung des Referentenentwurfs thematisiert würde. Auch insoweit wird deutlich, dass das DokHVG dem mit einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung verbundenen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten nicht angemessen Rechnung trägt.

 

IV. Erhebliche Mehrbelastung der Tatgerichte

Die mit dem Referentenentwurf beabsichtigte Inhaltsdokumentation der Hauptverhandlung lässt in der bisherigen Form eine erhebliche Mehrbelastung der Tatgerichte und damit eine Beeinträchtigung der Strafrechtspflege befürchten.

 

1. Keine erforderliche Regelung zu Vorhalten

So regelt der Referentenentwurf den Umgang mit der Dokumentation bei Vorhalten nicht und verweist darauf, dass es sich insoweit um Fragen der Sachleitung der Hauptverhandlung handele, für die § 238 StPO gilt (Ref-E, S. 12). Unklar bleibt jedoch, inwieweit Vorhalte aus Aufzeichnungen zulässig sein sollen. Zwar sieht § 273 Abs. 5 StPO-E eine Verwendung der Aufzeichnungen in (Straf-)Verfahren vor. Ausweislich der Begründung (Ref-E, S. 22) gilt dies auch für das Verfahren, in dem die Aufzeichnung erstellt wurde. Insoweit bleibt aber offen, welche Auswirkungen das auf die weitere Beweisaufnahme hat.

Bisher konnten Vorhalte oder Anträge, in denen angegeben wurde, ein Zeuge habe innerhalb der Verhandlung etwas (nicht) ausgesagt, mit dem Einwand zurückgewiesen werden, es erfolge keine Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme. Das dürfte mit der Neuregelung – die sich zu dieser Frage nicht verhält – hinfällig sein. Es ist daher mit Streit über (nicht) Stattgefundenes zu rechnen, was bei Verteidigungen, die auf den Erfolg in der Revision abzielen, mutmaßlich extensiv genutzt werden wird. Mit erheblichen Verfahrensverzögerungen (Antrag der Verteidigung auf Vorhalt von Teilen der Dokumentation, Entscheidung des Vorsitzenden, hiergegen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO sowie schließlich Entscheidung des Gerichts und gegebenenfalls Nachhören von Teilen der Dokumentation) ist zu rechnen. Ob und mit welchem Argument die wiederholte – vollständige – Inaugenscheinnahme bereits durchgeführter Vernehmungen verhindert werden kann, ist derzeit nicht erkennbar.

Mit dem schlichten Verweis auf die Sachleitung in der Hauptverhandlung (Ref-E, S. 12) lässt der Referentenentwurf zudem unberücksichtigt, dass im Hinblick auf § 238 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 8 StPO die Ablehnung des Abspielens der Aufzeichnung und/oder der Verlesung des Transkripts einen absoluten Revisionsgrund darstellen kann.

Überdies sind Vorhalte durch Vorspielen der eigenen Aussage oder der früher vernommenen Aussagepersonen geeignet, Zeugen in der Hauptverhandlung erheblich zu verunsichern. Auch dies könnte von Verfahrensbeteiligten bewusst genutzt werden, um eine Sachaufklärung und einen zügigen Abschluss des Hauptverfahrens zu erschweren.

 

2. Zu erwartende Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren

Der Referentenentwurf enthält keine ausreichenden Regelungen, Verfahrensverzögerungen im Zusammenhang mit der Inhaltsdokumenta-tion auszuschließen.

So lässt die Existenz von Aufzeichnung und Transkript von vorangegangenen Verhandlungstagen, die gemäß § 273 Abs. 6 StPO-E nach jedem Verhandlungstag der Staatsanwaltschaft, den Verteidigern und den anwaltlichen Vertretern der Verletzten zugänglich gemacht worden sind, erwarten, dass Verfahrensbeteiligte vor der Einvernahme weiterer Zeugen oder auch dem Schlussvortrag beantragen, die Aufzeichnung oder aber auch das Transkript der Inhaltsdokumentation zu erhalten.

Ferner steht zu befürchten, dass Verteidiger gerade bei umfangreichen Vernehmungen darauf bestehen, zunächst die vollständige Aufzeichnung der bisherigen Aussage vom Zeugen zu erhalten, bevor Vorhalte gemacht werden, der Entlassung des Zeugen zugestimmt oder eine Erklärung nach § 257 StPO abgegeben wird. Ein solches Vorgehen wäre geeignet, den Abschluss von Zeugenvernehmungen oder auch der Beweisaufnahme insgesamt erheblich zu verzögern. Zudem könnte sich dies auch auf die Revision auswirken, z.B. im Hinblick auf die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung gemäß § 338 Nr. 8 StPO. Auch hierzu verhält sich der bisherige Regelungsentwurf nicht.

Offen bleibt auch, wie im Falle von Straftatgeflechten verfahren werden soll, in denen sich Zeugen und Mitangeklagte bereits in anderen Hauptverhandlungen geäußert haben. Auch insoweit stellt sich die vom Referentenentwurf nicht beantwortete Frage, ob Aufzeichnungen aus anderen Hauptverhandlungen einzuführen sind. Gleiches gilt, wenn ein Urteil in der Revision mit den tatsächlichen Feststellungen aufgehoben und zurückverwiesen wurde.

 

3. Bindung erheblicher Ressourcen durch § 273 Abs. 7 StPO-E

Hinzu kommt, dass die gemäß § 273 Abs. 7 StPO-E vorgesehene Befugnis, dass Verletzte und in § 403 Satz 2 genannte Personen die Aufzeichnung nach jedem Verhandlungstag unverzüglich in Diensträumen unter Aufsicht einsehen zu können, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen und Ressourcen binden dürfte. Es ist schlichtweg praxisfern, nach einem mehrstündigen Verhandlungstag eine vollständige Akteneinsicht in die digitale Dokumentation zu ermöglichen. Der Rechtsanspruch auf Einsichtnahme am gleichen Tag könnte dazu führen, dass an einem Sitzungstag mit 8 Stunden Verhandlungsdauer für insgesamt 16 Stunden oder mehr Geschäftsstellenkräfte und Eingangskontrollen vorgehalten werden müssten. Neben fehlenden personellen Ressourcen fehlt es im Übrigen vielfach an Räumlichkeiten, um eine solche beaufsichtigte Inaugenscheinnahme zu ermöglichen.

 

4. Keine nennenswerte Arbeitserleichterung

Der Referentenentwurf führt in seiner Begründung aus, sein Leitgedanke bestünde darin, den Verfahrensbeteiligten mit der Aufzeichnung und dem Transkript effektive Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, die ihnen die Arbeit erleichterten und so zu einem Qualitätsgewinn führten (Ref-E, S. 20). Dieses Versprechen löst der Referentenentwurf jedoch nicht ein. Eine Entlastung der Verfahrensbeteiligten ist nicht zu erwarten.

Die Annahme, eine Mitschrift durch die Verfahrensbeteiligten würde im Falle einer audiovisuellen Aufzeichnung entbehrlich, geht an den Erfahrungen der Praxis vorbei.

Die absolute Mehrzahl von Zeugen wird lediglich an einem Hauptverhandlungstag vernommen. Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft wie auch die Verteidigung sind daher in einem solchen Regelfall zwingend auf eigene Mitschriften angewiesen, um diesem Zeugen unmittelbar nach dessen Vernehmung durch das Gericht Vorhalte machen und Rückfragen stellen zu können. Ein hiervon abweichendes Procedere – etwa die Einsichtnahme in die Aufzeichnung am Ende des jeweiligen Verhandlungstages zum Zwecke der Vorbereitung der eigenen Vernehmung, verbunden mit der Ladung des Zeugen für den nächsten Verhandlungstag – würde dem Beschleunigungsgrundsatz zuwiderlaufen. Dem aber kommt gerade in Haftsachen, wie sie regelmäßig vor den Land- und Oberlandesgerichten verhandelt werden, besondere Bedeutung zu.

Darüber hinaus würde die audiovisuelle Aufzeichnung (einschließlich Sprechpausen von Zeugen, Nebengeräuschen etc.) dieselbe Dauer wie die vielfach mehrtägige Hauptverhandlung haben. In der Praxis wird es für den Spruchkörper mangels zeitlicher Ressourcen nicht möglich sein, sich die gesamte Aufzeichnung vor der Schlussberatung noch einmal anzuschauen oder aber das Transkript in Gänze durchzuarbeiten.

Auch vor diesem Hintergrund wird es weiterhin erforderlich sein, die Ergebnisse der Beweisaufnahme und den Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne von § 261 StPO durch eigene Mitschriften festzuhalten, um auf dieser Grundlage eine Überzeugungsbildung zu ermöglichen. Das Gericht wird daher auch im Falle einer audiovisuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung mitschreiben müssen, dasselbe gilt für die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft.

Diese Annahme wird durch die oben geschilderten Erfahrungen aus Spanien mit der Aufzeichnung in Bild und Ton bestätigt (s.o. B.I.4. sowie Expertenbericht – Anlagenband –, S. 136).

 

V. Erhebliche Mehrbelastungen im Revisionsverfahren

Der Referentenentwurf ist von dem Gedanken getragen, die Klärung revisionsrechtlicher Implikationen den Gerichten zu überlassen; er enthält bewusst keine Regelungen zum Revisionsrecht (Ref-E, S. 12). Die digitale Inhaltsdokumentation solle mit Blick auf das Revisionsverfahren keine unmittelbaren prozessualen Wirkungen entfalten (Ref-E, S. 2), ihr komme kein Protokollcharakter zu (Ref-E, S. 12, 25). Weiter heißt es, dass die Einführung der audiovisuellen Dokumentation keine Auswirkungen auf die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen Tatsachen- und Revisionsinstanz haben „dürfte“ (Ref-E, S. 11); an der Struktur des Revisionsrechts, das durch die Abgrenzung von Tatsachen- und Rechtsüberprüfungsinstanz gekennzeichnet sei, solle ungeachtet dessen festgehalten werden, dass mit Hilfe der Bild-Ton-Aufzeichnung faktisch eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung in weiterem Umfang als aktuell möglich sein werde (Ref-E, S. 12). Die Heranziehung der Aufzeichnung in der Revisionsinstanz solle entsprechend der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Rekonstruktionsverbot und „paraten Beweismitteln“ auf wenige Evidenzfälle beschränkt bleiben; Regelungen zur Revision bedürfte es daher nicht (Ref-E, S. 13). Dadurch bleibe einerseits der Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung gewahrt und bedürfe es andererseits weiterhin des schriftlichen Vortrags des maßgeblichen Inhalts der Dokumentation (Ref-E, S. 13).

 

Eine solche Bewertung unterschätzt die Auswirkungen der Hauptverhandlungsdokumentation auf das Revisionsverfahren.

 

1. Drohender Anstieg von Verfahrensrügen

Insbesondere ist im Falle einer Hauptverhandlungsdokumentation ein erheblicher Anstieg von Verfahrensrügen auf der Grundlage von § 261 StPO – denkbar als sog. Inbegriffs-, Differenz- oder Auslassungsrügen (vgl. dazu umfassend LR/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 253 ff.) – mit dem Ziel zu erwarten, über den Umweg des § 261 StPO die Beweiswürdigung des Tatgerichts anzugreifen (Expertenbericht, S. 66; Mosbacher, ZRP 2021, S. 180 (181); BT-Drucksache 15/1976, S. 12 f.; vgl. auch Ref-E, S. 10). Da die Beweiswürdigung notwendigerweise eine Reduktion von Komplexität ist, wird der Revisionsführer anhand der Aufzeichnung häufig der Auffassung sein, die gerichtliche Beweiswürdigung sei lückenhaft oder schöpfe den „Inbegriff der Verhandlung“ nicht aus, weil gerade eine aus seiner Sicht evident wichtige Angabe des Angeklagten oder eines Zeugen nicht erörtert worden sei (Erhard, ZRP 2023, S. 12 (14)).

Darüber hinaus wird sich – begünstigt durch die technisch ohne weiteres mögliche Übernahme des Transkripts – auch der Umfang der Verfahrensrügen nach § 261 StPO erhöhen. Das ist nach dem geltenden Revisionsrecht geradezu zwingend; danach setzt etwa eine Inbegriffsrüge, soll sie ordnungsgemäß ausgeführt sein, regelmäßig Vortrag dazu voraus, eine bestimmte Tatsache sei weder durch die Einlassung des Angeklagten noch durch ein Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt worden (vgl. LK/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 265; KK/Tiemann, StPO, 9. Aufl., § 261 Rn. 200). Bei Vorhandensein einer Hauptverhandlungsdokumentation erscheint dies kaum ohne deren teils vollständige Wiedergabe im Rahmen der Revisionsbegründung möglich, die Verteidigung wird dies schon aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht tun müssen.

Hierdurch werden die Revisionsgerichte zwar nicht zu einer Einsichtnahme in die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung und deren Berücksichtigung selbst verpflichtet, indessen nicht selten zu einer zumindest mittelbaren Lektüre und Bewertung der häufig umfangreichen Transkription der Dokumentation im Rahmen von Revisionsbegründungen (Gittermann, DRiZ 2023, S. 70 (71)). Beides hätte eine erhebliche Mehrbelastung der Revisionsinstanz zur Folge.

 

2. Keine wirksame Beschränkung auf evidente Widersprüche

Das gilt dem Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Expertenbericht, S. 65 f.) zufolge selbst dann, wenn – wie vom Referentenentwurf intendiert – die Kontrollmöglichkeit der Revisionsgerichte entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu paraten Beweismitteln auf evidente Widersprüche zwischen der inhaltlich dokumentierten Beweisaufnahme und den Urteilsgründen in entscheidungserheblichen Punkten beschränkt bleiben sollte.

Danach können Verfahrensrügen, die auf in die Hauptverhandlung eingeführten und dem Revisionsgericht faktisch zur Überprüfung vorliegenden Beweismittel beruhen, nur Bedeutung erlangen, wenn der behauptete Verfahrensmangel ohne weiteres erkennbar und ausgeschlossen ist, dass weitere Beweiserhebungen ihm maßgebliche Bedeutung für die Beweiswürdigung genommen haben können (vgl. etwa Bundesgerichtshof, Urteil vom 13. Januar 2022, 3 StR 318/21, juris Rn. 4).

Legt man dies zugrunde, dürfte eine Inbegriffsrüge auch künftig zwar nur in Ausnahmefällen Erfolg haben, in denen es um eine knappe und kompakte Zeugenaussage mit eindeutigem Inhalt geht und der Erörterungsbedarf evident ist, nicht aber, wenn die Würdigung komplexer Aussagen und verschiedener Indizien in Rede steht (Bartel, StV 2018, S. 678 (682); Wehowsky, NStZ 2018, S. 177 (179 ff.); vgl. auch Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. September 2022, 6 StR 160/22, juris Rn. 9). Nichtsdestotrotz erscheint eine praktikable Grenzziehung zumindest schwierig (Erhard, ZRP 2023, S. 12 (14)) und müsste von der revisionsrechtlichen Praxis für dokumentierte Zeugenaussagen erst noch herausgearbeitet werden. Konsequenz wäre eine Rechtsunsicherheit zumindest in den ersten Jahren nach Einführung des Gesetzes.

 

3. Erhebliche Mehrbelastungen der Staatsanwaltschaften bei der Anfertigung der Gegenerklärung und der Tatgerichte bei der
Urteilsabfassung

Zudem würde die Aufgabe, alle diejenigen Teile der Beweisaufnahme zu benennen, die eine vorgeblich wichtige Passage einer Aussage relativieren, so dass das Gericht nicht gedrängt war, diese Aussage im Urteil zu erörtern, mit der gemäß § 347 Abs. 1 Satz 3 StPO gebotenen Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden müssen und dort erhebliche Mehrarbeit auslösen (Expertenbericht, S. 56, 60; Erhard, ZRP 2023, S. 12 (14)).

Schließlich steht zu befürchten, dass Tatgerichte – um ihre Urteile gegen zu erwartende Inbegriffsrügen abzusichern – dazu neigen könnten, die Beweiswürdigung „aufzublähen“ und die Angaben von Angeklagten oder Zeugen übermäßig detailliert darzustellen (vgl. auch Bartel, StV 2018, S. 678 (683); Erhard, ZRP 2023, S. 12 (14)), obwohl die Urteilsgründe eigentlich nicht der Wiedergabe der einzelnen Beweiserhebungen dienen und eine Erörterungspflicht hinsichtlich einzelner Beweisumstände nur besteht, soweit sich deren Erörterung angesichts der sonstigen Beweisergebnisse aufdrängt (vgl. etwa Bundesgerichtshof, Urteil vom 8. März 2018, 3 StR 571/17, juris Rn. 6). Dies würde nicht nur eine (unnötige) Mehrarbeit bei den Tatgerichten verursachen, sondern auch die (Lese-)Arbeit in der Revisionsinstanz beträchtlich erhöhen.

 

4. Fehlendes gesetzliches Bekenntnis für die Aufgabentrennung zwischen Tat- und Rechtsprüfungsgericht

Im Lichte der genannten Folgen fehlt es an einem klaren gesetzgeberischen Bekenntnis für die Beibehaltung der Aufgabentrennung zwischen Tat- und Rechtsprüfungsgericht mit der Konsequenz, dass das Rechtsprüfungsgericht nicht in Beurteilungs- und Wertungsspielräume des Tatgerichts eingreifen darf.

Entsprechend schlägt auch der Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung vor (Expertenbericht, S. 56), „eine gesetzliche Begrenzung oder auch Klarstellung der fortbestehenden Grenzen der Rügemöglichkeiten nach einer Einführung der Tonaufzeichnung und deren Verschriftung vorzusehen“. Demgemäß sollte im Gesetz einerseits klargestellt werden, dass die Ausschöpfung tatrichterlicher Wertungs- und Beurteilungsspielräume eine Gesetzesverletzung nicht begründen kann. Andererseits sollte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu paraten Beweismitteln gesetzlich festgeschrieben und klargestellt werden, dass ein Beweismittel einen Verfahrensfehler nur begründen kann, wenn dieser ohne weiteres erkennbar und ausgeschlossen ist, dass weitere Beweiserhebungen ihm maßgebliche Bedeutung für die Beweiswürdigung genommen haben können (vgl. Wehowsky, NStZ 2018, S. 177 (187)).

 

VI. Erhebliche Auswirkungen auf die personelle Belastung in der Justiz und deren finanzielle Ausstattung

Der Referentenentwurf beschränkt sich darauf, die Kosten infolge der technischen Umsetzung der Dokumentation in den Blick zu nehmen (Kosten für geschultes Personal, Fortbildungen, vgl. Ref-E, S. 3).

Dabei werden die zu erwartenden praktischen und finanziellen Anforderungen, die mit der Einführung audiovisueller Aufzeichnungen von Hauptverhandlungen einhergehen, nicht hinreichend abgebildet.

Die Gerichtssäle müssten flächendeckend technisch entsprechend ausgestattet werden. Der Referentenentwurf benennt für die Aufzeichnungstechnik pro Gerichtssaal einen Erfüllungsaufwand von 24.000,- Euro bis 29.000,- Euro und für die Transkriptionssoftware weitere 1.850,- Euro bis 2.500,- Euro. Der veranschlagte Erfüllungsaufwand dürfte wesentlich zu niedrig gegriffen sein, zumal wenn man die IT-Infrastruktur berücksichtigt, die für die in § 273 Abs. 6 StPO-E angeordnete Übertragung der Aufzeichnung erforderlich sein würde. Dabei sind nicht nur die erheblichen Datenmengen mehrstündiger Aufzeichnungen in den Blick zu nehmen, sondern vor allem auch der Umstand, dass es – schon unter Datenschutzaspekten – einer Art „Bundes-Cloud“ sowie geeigneter Übertragungs-Bandbreiten und entsprechend gesicherter Übermittlungswege bedürfte, damit bundesweit zugelassene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte die von unterschiedlichen Gerichten gefertigten Aufzeichnungen erhalten könnten.

Hinzu kommt, dass zusätzliches Personal erforderlich wäre, um diese umfangreiche IT-Infrastruktur aufzubauen und zu warten sowie um digitale Dokumentationen herzustellen, sie zu verwalten und gegebenenfalls zu archivieren. Ferner würde es eine persönlichkeitsrechtskonforme Ausgestaltung der audiovisuellen Aufzeichnung erforderlich machen, einzelne Aufnahmen technisch – etwa durch Verpixelung – zu überarbeiten. Auch hierzu verhält sich der Referentenentwurf nicht, wenngleich dadurch mit weiteren erheblichen Personalkosten zu rechnen sein dürfte. Insgesamt würden damit auf die für die Ausgestaltung der audiovisuellen Inhaltsdokumentation zuständigen Bundesländer enorme Kosten zukommen.

Zudem bleibt unberücksichtigt, dass die geplante Gesetzesänderung sowohl zu einer erheblichen Mehrbelastung bei den Tatgerichten (vgl. unter IV.) als auch bei den Revisionsgerichten und im Zusammenhang mit der Gegenerklärung auch bei den Staatsanwaltschaften (vgl. unter V.) führen wird. Insbesondere die zu erwartende Belastung der Tatgerichte verschärft sich zudem durch die vorgesehene zeitgleiche Einführung von elektronischer Akte und Hauptverhandlungsdokumentation.

 

VII. Zu hohe Erwartungen an die technische Umsetzbarkeit einer digitalen Inhaltsdokumentation

Der Referentenentwurf weckt in technischer Hinsicht zu hohe Erwartungen, wenn er darauf abzielt, den Verfahrensbeteiligten mit dem Transkript eine objektive Inhaltsdokumentation als Hilfsmittel an die Hand zu geben und Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung zu vermeiden. Denn diese Ziele können nur erreicht werden, wenn gewähr-leistet ist, dass die Aufnahme und die Transkription in vollem Umfang und inhaltlich richtig erfolgen. Gerade dies ist nicht der Fall. Eine fehlerlose automatisierte Transkription einer Bild-Ton-Aufzeichnung in ein Textdokument ist auf absehbare Zeit nicht möglich. Der Referentenentwurf überspannt die Erwartungen an eine technische Umsetzbarkeit der digitalen Inhaltsdokumentation und blendet die durch die Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung zutage geförderten technischen Schwierigkeiten aus.

Im Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung wird dazu Folgendes ausgeführt (Expertenbericht, S. 20):

„Eine fehlerfreie maschinelle Transkription wird von keinem der verfügbaren Systeme erreicht. Es ist zu erwarten, dass sich die Fehlerrate mit der Entwicklung der Technik verringern lässt, bleibt aber offen, wie schnell und in welchem Umfang dies der Fall sein wird. Bei dialektalen Sprechern, Soziolekten und Mischsprachen wird aufgrund der Vielzahl der Dialekte und mangels ausreichenden Trainingsmaterials auch in Zukunft mit einer erhöhten Fehlerrate zu rechnen sein. Für ein fehlerfreies Transkript wird die Prüfung der Richtigkeit der Übertragung erforderlich bleiben“.

Die Unterarbeitsgruppe „Technik und Organisation“ der Expertinnen- und Expertengruppe gelangt zu dem Schluss, dass die verfügbaren Systeme bei idealen Bedingungen – Diktate kooperativer Sprecher – bei hochdeutsch sprechenden Personen nur 80 bis 90 Prozent der gesprochenen Worte erkennen. Bei Personen, die Dialekt sprechen, werden lediglich 70 bis 80 Prozent zutreffend übertragen. Auch in fünf Jahren werde die Erkennung starker Dialekte für die Systeme problematisch sein (Expertenbericht, S. 156). Derartige „ideale Bedingungen“ gibt es im Strafprozess jedoch nicht. Verfahrensbeteiligte sprechen oftmals kein Hochdeutsch oder sind der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig. Hinzu kommen Fachbegriffe z.B. aus dem technischen oder auch medizinischen Bereich (z.B. Rechtsmedizin oder forensische Psychiatrie), die eine Spracherkennung erheblich erschweren. Schließlich ist ein Verfahrensgeschehen mit einer Sprachaufzeichnung von kooperativen Sprechern absolut nicht zu vergleichen. Verfahrensbeteiligte lassen sich nicht aussprechen, fallen sich ins Wort oder sprechen, wie bei der häufigen Zuziehung von Dolmetschern üblich, gleichzeitig. Dass eine Software in der Lage ist, Dialekte zu transkribieren, Sprecher im Raum zu identifizieren und gegebenenfalls gleichzeitig die fremdsprachliche Aussage eines Zeugen und deren Übersetzung zu erfassen, ist jedenfalls bis zum geplanten Beginn der digitalen Inhaltsdokumentation auszuschließen.

Darüber hinaus stellt sich ungeachtet der skizzierten Fehleranfälligkeiten die Frage nach der Nutzerfreundlichkeit eines Transkripts, da Texte ohne adäquate Interpunktion nur schwer lesbar sind. Daher kann beim gegenwärtigen Stand der Technik ein Transkript nicht als wirklicher Mehrwert gegenüber dem Status quo angesehen werden.

Auch die Expertinnen und Experten der vorbezeichneten Unterarbeitsgruppe waren sich einig, dass bei einer automatischen Transkription eine sorgfältige Überprüfung der Richtigkeit der Übertragung nicht nur gegenwärtig, sondern auch absehbar notwendig bleiben würde (Expertenbericht, S. 156, 186 f.). Eine zeitnahe Kontrolle des Transkripts anhand der Aufzeichnung ist jedoch mangels zeitlicher Ressourcen für keinen der professionellen Verfahrensbeteiligten zu leisten. Der Referentenentwurf verhält sich nicht zu der Frage, wer eine solche Kontrolle gewährleisten könnte. Schon von daher wird die vorgesehene Transkription ihrem Anspruch nicht gerecht, den Verfahrensbeteiligten als geeignetes Hilfsmittel zu dienen. Vielmehr sind Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlungsdokumentation vorprogrammiert, die an die Stelle der vom Referentenentwurf behaupteten Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung treten würden. Eine Entlastung des Strafverfahrens durch diesen im Gesetzesentwurf angelegten „Problemaustausch“ ist nicht zu erwarten.

 

VIII. Zu erwartende Probleme bei der Pilotierung bleiben unberücksichtigt

Ungeachtet der grundlegenden Kritik an einer digitalen Inhaltsdokumenta-tion der strafgerichtlichen Hautverhandlung nimmt der Referentenentwurf zu erwartende Probleme bei der Pilotierung nicht hinreichend in den Blick.

So droht aufgrund der Einführung der elektronischen Akte ab dem Jahr 2026 und der zeitgleich vorgesehenen flächendeckenden Pilotierung bei den Staatsschutzsenaten eine technische Überforderung der Bundesjustiz. Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass die Oberlandesgerichte mit dem Staatsschutz über Deliktsformen im Bereich terroristischer Vereinigungen und auch des Völkerstrafgesetzbuchs befinden. Technische Defizite, die zu Beginn einer Pilotierung sicher zu erwarten sind, wirken sich daher auf einen besonders schwerwiegenden Phänomenbereich aus.

Hinzu kommt, dass Staatsschutzverfahren regelmäßig umfangreich sind und entsprechend lange geführt werden. Sie dürften daher denkbar ungeeignet sein, als eine Art Experimentierfeld der digitalen Inhaltsdokumentation und ihrer Auswirkungen auf das Revisionsverfahren zu dienen, weil z.B. neue rechtliche Grenzziehungen auf im Einzelfall umfangreiche Erkenntnisverfahren durchzuschlagen drohen.

Schließlich ist zu bemängeln, dass das DokHVG gerade keine ergebnisoffene Pilotierung vorsieht, sondern die Praxis vor vollendete Tatsachen stellt, indem sie bereits jetzt die flächendeckende Anwendung nach Abschluss der Einführungsphase zum 1. Januar 2030 anordnet.

 

IX. Fazit

Das vorgeschlagene Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz begegnet grundlegenden Bedenken.

1. Es gibt keinen Regelungsbedarf, der Anlass geben könnte, derart weitreichende Änderungen im Strafprozess vorzunehmen. Auch die vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen und Experten haben sich nicht für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafverfahren ausgesprochen.

2. Das DokHVG lässt ausdrückliche Warnungen der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe vor einer Videoaufzeichnung des Strafverfahrens ungehört.

3. Eine audiovisuelle Dokumentation des Strafverfahrens weist gegenüber einer reinen Tonaufzeichnung keinen entscheidenden Mehrwert auf, insbesondere ist sie für eine hinreichend verlässliche Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen und seiner Glaubwürdigkeit ungeeignet.

4. Es gibt keine verbreitete und vor allem keine überlegene Dokumenta-tionspraxis im Ausland.

5. Eine audiovisuelle Dokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen greift unverhältnismäßig in die Grundrechte von Zeugen und sonstigen Verfahrensbeteiligten ein und überlässt die Begrenzung des Ausmaßes des Grundrechtseingriffs in wesentlichen Teilen der Praxis.

6. Der materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Schutz von Persönlichkeitsrechten durch das DokHVG ist absolut unzureichend.

7. Es ist zu erwarten, dass sich das DokHVG gerade im Bereich der organisierten Kriminalität oder in Staatsschutzverfahren nachteilig auf das Aussageverhalten von Zeugen auswirkt und damit die Wahrheitsfindung im Strafverfahren erschwert, wenn nicht sogar im Einzelfall vereitelt.

8. Das DokHVG läuft dem Gedanken des Opferschutzes gerade auch in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zuwider.

9. Es lässt eine erhebliche Mehrbelastung der Tatgerichte und damit eine Beeinträchtigung der Strafrechtspflege befürchten.

10. Der zu erwartenden Mehrbelastung der Tatgerichte steht keine nennenswerte Arbeitserleichterung für die Verfahrensbeteiligten gegenüber.

11. Auch im Revisionsverfahren droht eine erhebliche Mehrbelastung. Mit einer Hauptverhandlungsdokumentation ist ein erheblicher Anstieg von Verfahrensrügen mit dem Ziel zu erwarten, die Beweiswürdigung des Tatgerichts anzugreifen. Eine wirksame gesetzliche Beschränkung auf evidente Widersprüche ist nicht vorgesehen. Darüber hinaus drohen den Staatsanwaltschaften erhebliche Mehrbelastungen durch noch umfangreichere Gegenerklärungen.

12. Die praktischen und finanziellen Herausforderungen, die mit der Einführung audiovisueller Aufzeichnungen von Hauptverhandlungen einhergehen, sind im Referentenentwurf nicht hinreichend berücksichtigt. Insbesondere der Personalaufwand bei der Erstellung und Übermittlung persönlichkeitsrechtskonformer Aufzeichnungen sowie die Schaffung einer geeigneten IT-Infrastruktur zur Übermittlung der erheblichen Datenmengen an die Verfahrensbeteiligten ist im DokHVG nicht ausreichend abgebildet. Eine den deutschen Strafprozess derart prägende Entscheidung des Gesetzgebers aber muss auch von dem bislang nicht erkennbaren Willen getragen sein, finanziellen und personellen Auswirkungen auf die Justiz angemessen Rechnung zu tragen.

13. Der Referentenentwurf überspannt die Erwartungen an eine technische Umsetzbarkeit der digitalen Inhaltsdokumentation und blendet die durch die Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung zutage geförderten technischen Schwierigkeiten aus.

14. Zudem droht aufgrund der Einführung der elektronischen Akte ab dem Jahr 2026 und der zeitgleich vorgesehenen flächendeckenden Pilotierung bei den Staatsschutzsenaten eine technische Überforderung der Bundesjustiz.

15. Trotz des erheblichen Eingriffs in die strafgerichtliche Praxis sieht das DokHVG keine ergebnisoffene Pilotierung vor, sondern stellt die Praxis vor vollendete Tatsachen, indem sie bereits jetzt die flächendeckende Anwendung nach Abschluss der Einführungsphase zum 1. Januar 2030 anordnet.