Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zu einem Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit
A. Tenor der Stellungnahme
Der Deutsche Richterbund begrüßt ausdrücklich, dass ein Online-Verfahren innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren erprobt werden soll. Ein moderner Rechtsstaat muss dazu einladen, dass die Bürger im Streitfall die Angebote der Justiz nutzen. Ein sowohl für die Bürger als auch die Gerichte effektiv zu handhabender Online-Zugang zu zivilgerichtlichem Rechtsschutz leistet hier einen wichtigen Beitrag. Es genügt allerdings nicht, dem Justizsystem lediglich einen modernen „Anstrich“ zu geben. Erforderlich ist vielmehr, dass mit der neuen Verfahrensart ein spürbarer Mehrwert für die rechtsuchenden Bürger verbunden ist. Dieser kann neben den Vorteilen eines niederschwelligen Zugangs zu gerichtlichem Rechtsschutz insbesondere in einer beschleunigten Verfahrensführung liegen.
Positiv hervorzuheben ist hier die in § 1125 ZPO-E vorgesehene Möglichkeit für das Gericht, prozessleitend Vorgaben zur Strukturierung des Streitstoffs zu machen. Dies kann insbesondere in Massenverfahren und Verfahren mit einem hohen Standardisierungsgrad zu einer deutlichen Beschleunigung führen. Allerdings wurde der Anwendungsbereich des Online-Verfahrens über die ursprünglichen Planungen hinaus auf alle Verfahren ausgeweitet, die die Zahlung einer Geldsumme bis zu 8.000 Euro betreffen. Der Gesetzentwurf lässt aber nicht erkennen, inwieweit durch das Online-Verfahren bei der Mehrzahl der zivilgerichtlichen Verfahren, die sich nicht schematisch bearbeiten lassen, eine beschleunigte Verfahrensführung erfolgen kann. Wenn ein Online-Verfahren nicht auch zeitnah zu einem Abschluss gebracht werden kann, werden die bei den rechtsuchenden Bürgern geweckten Erwartungen enttäuscht. Ohne die dringend erforderliche bessere personelle und sachliche Ausstattung der Gerichte und ohne spezielle Regelungen, die gezielt auf eine beschleunigte Verfahrensführung ausgerichtet sind, bleibt die Einführung des Online-Verfahrens eine Einzelmaßnahme, mit der keine wesentliche Beschleunigung des Rechtsschutzes erreicht werden kann.
Die Regelung zur Videoverhandlung in § 1126 Abs 3 ZPO-E sollte an das nach langem Ringen im Vermittlungsausschuss zu § 128a ZPO gefundene Ergebnis angeglichen werden.
B. Bewertung im Einzelnen
Der Deutsche Richterbund begrüßt die Planungen des Referentenentwurfs, ein modernes Online-Verfahren im Rahmen eines „Reallabors“ zu erproben. In der ZPO soll hierzu ein neues, zwölftes Buch eingeführt werden, in dem neue Verfahrensabläufe in der Zivilgerichtsbarkeit erprobt werden sollen. Elf Paragraphen – §§ 1122 bis 1132 ZPO – sollen sich mit der Erprobung eines „Online-Verfahrens“ befassen. Aufgrund seines experimentellen Charakters verzichtet der Gesetzentwurf zu Recht darauf, technische und organisatorische Vorgaben im Detail zu machen.
Voraussetzung für das vorgesehene Online-Verfahren ist die digitale Klageeinreichung, § 1124 ZPO-E. Diese kann entweder – herkömmlich – durch einen Rechtsanwalt per beA oder über ein Nutzerkonto nach dem Onlinezugangsgesetz, beispielsweise „Mein Justizpostfach“, erfolgen. Die Klage soll aber auch – das ist innovativ – über eine „Kommunikationsplattform“ eingereicht werden können, deren technische Einzelheiten noch zu entwickeln sind. Weitere Charakteristika des vorgesehenen Online-Verfahrens sind Regelungen zur Strukturierung des Parteivortrags (§ 1125 ZPO-E), zur Entbehrlichkeit einer mündlichen Verhandlung (§ 1126 ZPO-E), zu Erleichterungen bei der Beweisaufnahme (§ 1127 ZPO-E) sowie zur Ersetzung der Verkündung einer Entscheidung durch eine Zustellung (§ 1128 ZPO-E).
Die Erprobung soll nicht flächendeckend stattfinden, sondern an einzelnen, von den Landesregierungen ausgewählten Amtsgerichten (§ 1123 Abs. 1 Nr. 1 ZPO-E). An dem in technischer Hinsicht bereits laufenden Projekt zum zivilgerichtlichen Online-Verfahren nehmen derzeit elf Amtsgerichte in acht Bundesländern teil, nämlich die Amtsgerichte Hamburg, Bremen, Bonn, Essen, Düsseldorf, Berlin-Schöneberg, Königs Wusterhausen, Frankfurt am Main, Nürtingen, Mannheim und Erding. Darunter sind auch Amtsgerichte mit einem hohen Aufkommen an Fluggastrechte-Klagen.
I. Zur grundsätzlichen Bewertung des Vorhabens
Der Deutsche Richterbund begrüßt die Erprobung eines Online-Verfahrens insbesondere unter dem Gesichtspunkt eines niedrigschwelligen und zeitgemäßen Zugangs zum Recht. Für einen modernen Rechtsstaat ist es geradezu unabdingbar, neue Wege zur Justizgewährung zu eröffnen, die es ermöglichen, dass die Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte in einer zivilrechtlichen Streitigkeit nicht als lästiges, aber notwendiges Übel, sondern als hilfreich und naheliegend wahrgenommen wird. Die Justiz soll dazu einladen, dass Bürger die mächtigen und hilfreichen Instrumente der Justiz im Streitfall auch nutzen. Hierzu gehört es, einen modernen Zugang zur zivilgerichtlichen Justiz zu schaffen.
Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass es nicht ausreichend ist, dem Justizsystem lediglich einen modernen „Anstrich“ zu geben. Die Begründung des Gesetzentwurfs schildert zu Recht die Erwartung der Bevölkerung, auch mit der Justiz durch nutzerfreundliche Kommunikationsformate digital in Kontakt treten zu können. Damit verbunden ist allerdings auch die berechtigte Erwartung, dass ein solcherart eingeleitetes Verfahren effizient und zeitnah zum Abschluss gebracht wird – sei es durch streitige Entscheidung oder durch eine gütliche Einigung.
Hierbei darf nicht verkannt werden, dass ein erheblicher Teil des Zeitaufwandes eines Zivilverfahrens dadurch verursacht wird, dass die Richterin oder der Richter sich mit dem Sachverhalt auseinandersetzt, diesen rechtlich prüft, Verhandlungen vorbereitet und durchführt und letztlich die Entscheidung in überzeugender Weise begründet.
Zwar gibt der Gesetzentwurf zum Online-Verfahren insbesondere mit den Regelungen zu strukturiertem Parteivortrag den Richterinnen und Richtern Instrumente an die Hand, die die Arbeit an den Gerichten erleichtern und damit Verfahren beschleunigen kann. Bei der Mehrzahl der zivilgerichtlichen Verfahren handelt es sich allerdings um Verfahren, die sich nicht schematisch betrachten lassen und in denen Richterinnen und Richter – völlig unabhängig davon, ob der Fall über eine Online-Plattform abgewickelt wird oder nicht – den relevanten Sachverhalt ermitteln, diesen rechtlich prüfen, Verhandlungen vorbereiten und durchführen und eine überzeugende Entscheidung begründen müssen.
Die Erwartungen, die ein Bürger an ein „Online-Verfahren“ hat, dessen Einführung ausdrücklich auch einer Beschleunigung der Verfahren dienen soll, würden enttäuscht, wenn er ein Verfahren als Online-Verfahren zwar einfacher initiieren kann, er dann aber nicht zeitnah auch eine Entscheidung erhält, sondern – bildlich gesprochen – die „digitale Sanduhr“ zu sehen bekommt.
Anders gewendet: Ein zeitgemäßes und online-basiertes Zivilverfahren kann sicherlich zur Attraktivität des Justizstandorts Deutschland beitragen. Eine Beschleunigung der Verfahren in der Breite kann allerdings nicht eintreten, wenn die Einführung des Online-Verfahrens eine vereinzelte Maßnahme bleibt, und erst recht nicht dann, wenn sie anstelle einer dringend erforderlichen besseren personellen und sachlichen Ausstattung der Gerichte erfolgt.
II. Strukturierter Parteivortrag
In besonderer Weise positiv hervorzuheben ist die vorgesehene Regelung, wonach das Gericht prozessleitend Vorgaben dazu aufstellen kann, den Streitstoff zu strukturieren. Insbesondere soll das Gericht anordnen können, dass die Parteien ihren Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen. Es soll den Parteien außerdem aufgeben können, bestimmte zugeordnete Eingabefelder zum jeweiligen Streitstoff zu nutzen (§ 1125 Abs. 1 ZPO-E). Nutzt das Gericht die Möglichkeit, Strukturierungsvorgaben zu machen, sollen diese nach dem Gesetzentwurf bei bestimmten Arten von Verfahren – namentlich bei Fluggastrechtefällen und bei noch näher zu bestimmenden Arten von Masseverfahren und Klagewellen – von den Parteien auch zwingend genutzt werden, sofern es sich nicht um natürliche Personen handelt (§ 1125 Abs. 2 ZPO-E).
Gerade in den aufgeführten, besonderen Arten von Verfahren kann die Vorgabe zu strukturiertem Vortrag eine Arbeitserleichterung darstellen, die zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen kann. Demgemäß hat der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme 1/22 zur Bewältigung von Massenverfahren die Möglichkeit gefordert, in diesen Verfahren mit Hilfe von Online-Tools relevante Sachverhaltsschilderungen gezielt abzufragen. Dass diese Forderung nunmehr Eingang in den Gesetzentwurf zur Erprobung eines Online-Verfahrens gefunden hat, wird daher nachdrücklich begrüßt.
III. Videoverhandlung
Es versteht sich von selbst, dass die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung als Videoverhandlung durchzuführen, im Falle eines Online-Verfahrens in gleicher Weise zur Verfügung stehen soll wie in allen anderen zivilgerichtlichen Verfahren. Hierfür bedarf es auch keiner gesonderten Regelung, denn die in § 128a ZPO enthaltene Regelung zu Videoverhandlungen würde in einem Online-Verfahren ohne Weiteres Anwendung finden.
Im Rahmen der Debatte um das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit hat der Vermittlungsausschuss nach langem Ringen einen sachgerechten und abgewogenen Vorschlag zur zukünftigen Fassung des § 128a ZPO unterbreitet. Nach diesem Vorschlag kann die mündliche Verhandlung in geeigneten Fällen und soweit ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen, als Videoverhandlung stattfinden. Beantragt ein Verfahrensbeteiligter seine Teilnahme per Video, soll ihm dies unter den genannten Voraussetzungen gestattet werden, wobei der Antrag auch abgelehnt werden kann.
Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, dass in § 1126 Abs. 3 ZPO-E eine Regelung zur Videoverhandlung aufgenommen ist, die von diesem im Vermittlungsausschuss zu § 128a ZPO gefundenen Weg wieder abweicht und – wie bereits in der vom Deutschen Richterbund kritisierten Fassung des Gesetzentwurfs zur Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit – ein gebundenes Ermessen des Gerichts vorsieht. Es erscheint zudem nicht konsistent, wenn der Gesetzentwurf das „Ob“ einer mündlichen Verhandlung ins freie Ermessen des Gerichts stellt, hinsichtlich des „Wie“ einer mündlichen Verhandlung dann aber ein gebundenes Ermessen Platz greifen soll.
Die in der vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Fassung des § 128a ZPO gefundenen Maßstäbe für die Durchführung einer Video-Verhandlung sollten daher unverändert auch im Rahmen eines Online-Verfahrens Anwendung finden.