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Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung

A. Tenor der Stellungnahme

Der Deutsche Richterbund unterstützt den Gesetzentwurf zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung in weiten Teilen. Er begrüßt insbesondere, dass kein neues Institut der Prozesskostenhilfe in das Strafverfahren eingeführt wird, sondern dass es bei den bewährten Instrumenten der Pflichtverteidigung und der Bestellung eines Rechtsbeistands bleiben soll.

Der Deutsche Richterbund ist allerdings der Auffassung, dass die notwendige Verteidigung nicht weiter gehen sollte, als europarechtlich geboten, und fordert klarere und für die Praxis einfacher zu handhabende Regelungen. Insbesondere ist die mit dem Gesetzentwurf in Verbindung mit § 141 Abs. 1 und Abs. 2 StPO-Entwurf verbundene allgemeine Ausweitung auf das Ermittlungsverfahren von der Richtlinie nicht geboten und abzulehnen.

B. Bewertung im Einzelnen

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat einen Referentenentwurf zu einem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vorgelegt, der Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 umsetzen soll und dabei auch Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) betrifft. Regelungsgegenstände sind insbesondere die Vorverlagerung des Zeitpunkts der Bestellung eines Pflichtverteidigers, die Kodifizierung des Pflichtverteidigerwechsels sowie die Schaffung eines eigenen Antragsrechts des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren.

Der Richterbund begrüßt, dass der Gesetzentwurf kein neues Recht auf Prozesskostenhilfe im Strafverfahren einführt, sondern an dem bewährten Konzept der Pflichtverteidigung im Strafverfahren und des Rechtsbeistands im IRG-Verfahren festhält.

Insgesamt ist aber festzustellen, dass die Regelungen Auslegungs- sowie Anwendungsschwierigkeiten erwarten lassen. Die notwendige Verteidigung wird zu stark in das Ermittlungsverfahren hinein ausgeweitet. Dies kollidiert mit dem Ziel, Strafverfahren zu straffen und zu vereinfachen. Auf jeden Fall ist die Ausweitung der notwendigen Verteidigung – auch verbunden mit dem europarechtlich wohl vorgeschriebenen Antragsrecht des Beschuldigten – bei der Personalausstattung der Staatsanwaltschaften und Gerichte zu berücksichtigen.

Zu einzelnen Regelungen:

1. Nach geltendem Recht ist die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Nach dem Referentenentwurf sollen Verfahren vor dem Schöffengericht einbezogen werden. Die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO, wonach ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann, wird um die Variante, dass eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist, erweitert. Mit diesen beiden Ergänzungen wird die in § 140 Abs. 2 StPO enthaltene Vorschrift konkretisiert, nach der ein Verteidiger auch dann zu bestellen ist, wenn sie wegen der Schwere der Tat geboten erscheint. Die Ergänzungen sind im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte einerseits und der Klarheit der gesetzlichen Regelungen andererseits insoweit nicht zu beanstanden.

2. Schwerwiegender ist die durch die Änderung der Formulierung erfolgende Ausweitung auf das Stadium der Ermittlungen. Es ist nun nicht mehr von der „stattfindenden“ Hauptverhandlung die Rede, sondern davon, dass eine Hauptverhandlung vor den genannten Gerichten „zu erwarten“ ist. In gleicher Weise müssen ein Berufsverbot beziehungsweise eine Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr „zu erwarten“ sein. Diese Beschreibung, verbunden mit den Erläuterungen im Gesetzentwurf, reicht nicht aus, um der Praxis klar vorzugeben, wann eine Pflichtverteidigung erforderlich wird. Gerade der in den Erläuterungen geschilderte Fall mehrerer Betrugstaten, die erst in Verbindung zu einer Schöffengerichtsanklage führen können, zeigt die Schwierigkeit der Abgrenzung. In der Dynamik des Ermittlungsverfahrens mit Übernahmen von anderen Staatsanwaltschaften wird es kaum einen klaren Zeitpunkt geben, zu dem feststeht, dass nunmehr eine Anklage zum Schöffengericht „zu erwarten“ ist. Die mit dem Gesetzentwurf in Verbindung mit § 141 Abs. 1 und Abs. 2 StPO-Entwurf verbundene allgemeine Ausweitung auf das Ermittlungsverfahren ist von der Richtlinie nicht geboten. Nach Art. 2 der Richtlinie ist Prozesskostenhilfe zu gewähren oder ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dem Beschuldigten die Freiheit entzogen ist oder der Beschuldigte nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten muss oder wenn die Anwesenheit des Beschuldigten bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungsmaßnahme vorgeschrieben oder zulässig ist. Letzteres muss zumindest bei Gegenüberstellungen zur Identifizierung oder Vernehmung und bei Tatortrekonstruktionen der Fall sein. Wenn sich also der Beschuldigte in Freiheit befindet und keine Ermittlungs- oder Beweiserhebungsmaßnahme stattfindet, bei deren Vornahme die Anwesenheit des Beschuldigten zulässig ist, muss nach der Richtlinie im Grundsatz noch kein Pflichtverteidiger bestellt werden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ein Verteidiger in einem so frühen Stadium der Ermittlungen erheblich zur Wahrung der Beschuldigtenrechte beitragen kann. Diese nicht geforderte und auch nicht gebotene Ausweitung der Pflichtverteidigung sollte vermieden werden. Vielmehr sollte im Ermittlungsverfahren die Pflichtverteidigerbestellung an konkrete Ermittlungshandlungen geknüpft werden.

3. Im Entwurf vorgesehen ist, dass auch die Staatsanwaltschaft bei besonderer Eilbedürftigkeit einen Pflichtverteidiger bestellen kann. Dies erscheint systemwidrig und nicht geboten. Grundsätzlich muss auch der zuständige Richter in Eilfällen erreichbar sein. Im Übrigen enthält § 141 Abs. 3 Nr. 2 die Regelung, dass auf die vorherige Bestellung eines Verteidigers u.a. verzichtet werden kann, wenn dies zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens zwingend geboten ist.

4. Der Deutsche Richterbund begrüßt, dass nach § 142 Abs. 4 StPO im Entwurf in Fällen, in denen der Beschuldigte keinen Verteidiger benannt hat, nur Personen zum Pflichtverteidiger bestellt werden sollen, die entweder Fachanwalt für Strafrecht sind oder die ihr Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt haben und für die Übernahme einer Pflichtverteidigung geeignet sind. Diese Kriterien erscheinen - auch im Hinblick auf Art. 7 der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten vorgibt, sicherzustellen, dass die mit dem System der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen angemessen sind, um die Fairness des Verfahrens zu wahren – im Ergebnis sachgerecht. Allerdings kann es für Gerichte – gerade im ländlichen Raum – eine Herausforderung werden, Pflichtverteidiger zu bestellen, die die Anforderungen erfüllen.

5. Positiv zu bewerten sind die in §§ 143a und 144 des StPO-Entwurfs enthaltenen Bestimmungen zur Auswechslung des Pflichtverteidigers und zur Bestellung von Sicherungsverteidigern in den Fällen, in denen die Sicherstellung der zügigen Durchführung eines Verfahrens die Anwesenheit von mehreren Verteidigern erfordert. Die enthaltenen Regelungen setzen Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie angemessen um, spiegeln die derzeitige Praxis wieder und kodifizieren die Rechtsprechung.

6. Nicht zu beanstanden sind die im IRG vorgesehenen Änderungen. Dies gilt auch für die durchgängige Verwendung des Begriffs „Rechtsbeistand“ statt des schwammigeren Begriffs „Beistand“.

7. Obwohl die Richtlinie nur den Rechtshilfeverkehr auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in den Blick nimmt, soll nach dem Vorschlag des Referentenentwurfs der nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie vorgegebene Anspruch auf Prozesskostenhilfe auch im Verhältnis zu Staaten außerhalb der Europäischen Union und damit im Grundsatz für den gesamten Auslieferungsverkehr umgesetzt werden. Dies wird vom Deutschen Richterbund begrüßt. Denn es wäre kein sachlicher Grund dafür erkennbar, die von einem Auslieferungsantrag eines Mitgliedstaats Betroffenen besser zu schützen als die von einem Auslieferungsantrag eines Drittstaates Betroffenen.

8. Eine notwendige Umsetzung der Richtlinie ist es, dass in Zukunft allen Betroffenen vom Vollstreckungsstaat spätestens mit der Festnahme ein Rechtsbeistand beizuordnen ist und bislang vorgesehene Voraussetzungen (etwa Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage) entfallen. Eine Auslieferung hat im Übrigen regelmäßig schwerwiegende Folgen für den Betroffenen, so dass die Wahrnehmung der Rechte des Betroffenen durch einen Rechtsbeistand angemessen erscheint.

9. Zudem fordert die Richtlinie vom Ausstellungsstaat, sicherzustellen, dass gesuchte Personen Anspruch auf Prozesskostenhilfe auch im Ausstellungsstaat haben, wenn dies erforderlich ist, um den wirksamen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Diese Vorgabe wird in § 83j IRG-Entwurf angemessen umgesetzt.

10. Insgesamt ist festzustellen, dass das Regelungskonzept die Praxis vor große Herausforderungen stellt, die bei der Personalausstattung berücksichtigt werden müssen.