#13/19

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund wendet sich nicht gegen die überwiegend aus der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 folgenden Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes.

Allerdings ist bereits heute absehbar, dass die Umsetzung der Richtlinie zu erheblichen zusätzlichen Belastungen der Praxis führen wird. Es ist daher sicherzustellen, dass den Staatsanwaltschaften und Gerichten zeitgleich mit der Änderung auch das hierfür erforderliche Personal sowie die notwendigen Sachmittel zur Verfügung gestellt werden.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Allgemein

Inhalt des Referentenentwurfs ist die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, in das deutsche Strafrecht. Vorgesehen sind daher im Wesentlichen umfassende Änderungen im JGG. Ganz überwiegend werden mit dem Regierungsentwurf unionsrechtliche Vorgaben umgesetzt.

 

II. Die wesentlichen Änderungen:

1. Notwendige Verteidigung

Art. 6 der Richtlinie regelt unter der Überschrift „Unterstützung durch
einen Rechtsbeistand“ Anwendungsfälle der notwendigen Verteidigung. Parallel hierzu enthält auch die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allgemeine Vorgaben zum Recht der Pflichtverteidigung, die bis zum 25. Mai 2019 in nationales Recht umzusetzen war. Mit dem hier nicht behandelten diesbezüglichen Umsetzungsgesetz („zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“) sollen dazu einschlägige Vorschriften im allgemeinen Strafverfahrensrecht geschaffen werden, die zum Teil – wegen ihrer Anwendbarkeit über § 2 Abs. 2 JGG auch im Jugendstrafverfahren – gleichzeitig Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/800 umsetzen.

Im Bereich der notwendigen Verteidigung bedarf es deshalb in dem vorliegenden Entwurf nur noch ergänzender oder spezifischer Bestimmungen für das Jugendstrafverfahren.

Diese werden in § 68 JGG-E im Wesentlichen dergestalt umgesetzt, dass Abs. 5 neu gefasst wurde und ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe im Sinne der §§ 17
und 18 JGG oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist, unerheblich, ob die Jugendstrafe nach den §§ 20 ff. JGG zur Bewährung ausgesetzt oder ob die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung nach den §§ 61 ff. JGG einem nachträglichen Beschluss vorbehalten worden ist. Zu begrüßen ist dabei, dass nicht auch schon die Möglichkeit der Verhängung von Jugendarrest die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich machen wird.

Nach Art. 6 Abs. 6 UAbs. 3 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten zudem sicherzustellen, dass Freiheitsentzug nicht als Strafe verhängt wird, wenn der Jugendliche in dem Verfahren, jedenfalls während der Hauptverhandlung, nicht effektiv durch einen Verteidiger unterstützt wurde.

Hierzu regelt § 51a JGG-E, dass mit der Hauptverhandlung von neuem zu beginnen ist, auch wenn sich erst während der Hauptverhandlung ergibt, dass die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 68 Nr. 5 JGG-E notwendig ist.

2. Bestellung eines Pflichtverteidigers

§ 68a JGG-E regelt künftig die Bestellung eines Pflichtverteidigers und setzt dabei wiederum Vorgaben der Richtlinie um. In den Fällen notwendiger Verteidigung soll dem Jugendlichen, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger spätestens bestellt werden, bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird.
Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie gibt den Mitgliedsstaaten aber die Möglichkeit, sofern es mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar und das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung ist, von der Verpflichtung zur Verteidigerbestellung abzusehen, wenn die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht verhältnismäßig ist, wobei der Schwere der mutmaßlichen Straftat, der Komplexität des Falles und der Maßnahmen, die in Bezug auf eine solche Straftat ergriffen werden können, Rechnung zu tragen ist. 

Hiervon macht der Regierungsentwurf keinen Gebrauch und setzt lediglich in § 68b JGG-E um, dass Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie unter außergewöhnlichen Umständen das Absehen von einer Pflichtverteidigerbestellung zulässt.

Der Deutsche Richterbund sieht aber als dringend erforderlich an, dass hier Ausnahmetatbestände geschaffen werden. Es sollte aufgenommen werden, dass in geeigneten Fällen, in denen aus Verhältnismäßigkeitsgründen ein Rechtsbeistand nicht erforderlich ist, von einer Bestellung abgesehen werden könnte. Eine zwingende Beiordnung für alle Fälle der notwendigen Verteidigung, also bei jedem Verbrechensverdacht bereits vor der ersten Beschuldigtenvernehmung, läuft dem Zweck des Jugendstrafverfahrens entgegen, insbesondere wenn ein Absehen von Strafe nach § 45 Abs. 2
oder 3 JGG zu erwarten ist.

Die Umsetzung der Richtlinie wird aber in jedem Fall aufgrund der Bestellung in einem sehr frühen Stadium der Ermittlungen zu einer erheblichen Zunahme der Fälle der notwendigen Verteidigung führen. Dies wiederum wird bei Polizei und Staatsanwaltschaften zu erheblich steigendem Arbeits- und Organisationsaufwand, wie in Bezug auf Bestellung, Akteneinsicht, Anlegung von Doppelakten etc., führen, der personell auszugleichen ist. Insbesondere außerhalb der Bürozeiten und am Wochenende sind längere Verzögerungen zu befürchten, bis für den/die Beschuldigten Pflichtverteidiger gefunden sind, die zur Vertretung bereit sind. Es ist also sicherzustellen, dass die zu erwartenden Pflichtverteidigerbestellungen bei den Ermittlungsmaßnahmen zu keinen zeitlichen Verzögerungen führen.

3. Aufzeichnung von Vernehmungen in Bild und Ton

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie fordert, dass von der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde während des Strafverfahrens durchgeführte Befragungen audiovisuell aufgezeichnet werden, „wenn dies unter den Umständen des Falles verhältnismäßig ist“, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist, ob ein Rechtsbeistand zugegen oder dem Kind die Freiheit entzogen ist; vorrangige Erwägung ist immer das „Kindeswohl“.

Der Regierungsentwurf setzt die Richtlinie dergestalt um, dass ein § 70c JGG-E eingeführt wird, nach dem außerhalb der Hauptverhandlung die Vernehmung in Bild und Ton aufgezeichnet werden kann. Sie ist in Bild und Ton aufzuzeichnen, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung bereits erkennbar ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, ein Verteidiger aber nicht anwesend ist.

Betroffen von der Regelung sind nur Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung. Bereits nach dem geltenden, und auch in Jugendstrafverfahren anzuwendenden § 58a Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m § 163a Abs. 1 Satz 2 StPO kann die polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Vernehmung eines Beschuldigten in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Diese Bestimmung wird nun in § 70c Abs. 2 Satz 1 JGG-E übernommen.

Nach dem erst am 01.01.2020 in Kraft tretenden § 136 Abs. 4 Satz 1 StPO umfasst § 70c Abs. 2 Satz 1 JGG-E darüber hinaus auch richterliche Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung.

In der Praxis wird dies erhebliche Folgen insbesondere für die Staatsanwaltschaften haben, da davon auszugehen ist, dass die ermittelnden Polizeibeamten in der Regel und rund um die Uhr in jedem Einzelfall eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft einholen werden, um zu klären, ob die Voraussetzungen für eine zwingende Aufzeichnung vorliegen oder ob von dem Ermessen Gebrauch gemacht werden soll.

Zudem wird immer auch eine Verschriftung der aufgezeichneten Vernehmung erforderlich sein. Denn Grundlage von Anträgen im Ermittlungsverfahren und verfahrensabschließenden Entscheidungen ist stets eine Akte, in welcher der jeweilige vollständige Inhalt der Vernehmung enthalten sein muss. Zudem wird der Staatsanwaltschaft oder zum Beispiel dem Ermittlungsrichter angesichts der bestehenden Arbeitsbelastung kaum zugemutet werden können, sich in jedem Verfahren eine im Einzelfall möglicherweise mehrstündige Vernehmung anzusehen. Auch dieses Nebeneinander von Videografie und Vernehmungsniederschrift lässt eine nicht unerhebliche Mehrbelastung von Polizei und Justiz erwarten.

Diese Arbeitsmehrbelastung muss personell ausgeglichen werden. Darüber hinaus ist bei der zu erwartenden Zunahme der audiovisuellen Aufzeichnungen die entsprechende Sachmittelausstattung in ausreichender Anzahl vorzuhalten.

Dem Regierungsentwurf ist nicht zu entnehmen, welche Folgen ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht hat. In der Begründung sollte daher klargestellt werden, dass ein Verstoß nicht zu einer Unverwertbarkeit der anderweitig protokollierten Vernehmung führt.

4. Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe

Nach § 38 Abs. 4, 7 JGG-E besteht künftig eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht gegenüber dem bisherigen Anwesenheitsrecht, ein ausdrücklicher Verzicht auf die Anwesenheit ist möglich. Die Einführung einer Anwesenheitspflicht wird begrüßt. Hierdurch kann verhindert werden, dass die Jugendgerichtshilfe aus Gründen von Sparzwängen und knappen Ressourcen auf die Teilnahme verzichtet. Die Befreiungsmöglichkeit sollte aber nur dann bestehen, wenn zu Beginn der mündlichen Verhandlung ein schriftlicher Bericht der Jugendgerichtshilfe vorliegt.

Der Regierungsentwurf sollte aber dahingehend ergänzt werden, dass die Durchführung der Hauptverhandlung bei Fernbleiben der Jugendgerichtshilfe trotz Ladung keinen Revisionsgrund i.S.v. § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 338
Nr. 5 StPO darstellt.

5. In-dubio-pro-reo-Grundsatz hinsichtlich des Alters

Nach Art. 3 UAbs. 2 der Richtlinie gilt eine Person als unter 18 Jahre alt, wenn Zweifel daran bestehen, ob sie das 18. Lebensjahr vollendet hat. Bislang war dies für das Jugendstrafverfahren nicht ausdrücklich geregelt. Der Entwurf schlägt daher in § 1 Abs. 3 JGG-E die ausdrückliche Aufnahme des entsprechenden Zweifelssatzes vor.

Dies ist im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen.

Wünschenswert wäre aber auch eine Regelung zum Umgang mit Zweifeln, ob eine Person unter 14 Jahre alt oder strafmündig ist.

6. Auskunfts- und Informationsrechte

Die Richtlinie sieht in Art. 4 und 5 umfassende Auskunfts- und Informationspflichten vor, die der Entwurf mit § 70a JGG-E umsetzt. Die entsprechenden Informationen sollen nach § 67a Abs. 2 JGG-E grundsätzlich auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern erteilt werden.

Den umfangreichen Belehrungs-, Hinweis- und Dokumentationspflichten wird wohl nur durch die Aushändigung entsprechender Formblätter in der Muttersprache des Beschuldigten zu entsprechen sein, deren Empfang durch den Beschuldigten zu bestätigen ist. Ob damit der Zweck erfüllt werden kann, dass der jugendliche Beschuldigte umfassend und in einer Weise informiert wird, die sicherstellt, dass er die Belehrungen auch verstanden hat, erscheint zumindest zweifelhaft.

Die auf den Einzelfall vorzunehmende individuelle Anpassung der Belehrungen wird zudem zu einer merklichen Belastung der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden führen.

In Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie sind die gegenüber dem Jugendlichen zu erfolgenden Belehrungen möglichst rasch auch dem Träger elterlicher Verantwortung zukommen zu lassen. Aufgrund der eindeutigen unionsrechtlichen Vorgaben besteht kein Umsetzungsspielraum.

Entgegen der bisher teilweise gängigen Praxis kann unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts des Art. 5 der Richtlinie im Einzelfall von der Unterrichtung der Erziehungsberechtigten auch bei Verzicht durch den Jugendlichen nicht abgesehen werden.

Auch diesen Mitteilungspflichten wird, um den Aufwand auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, nur durch die Aushändigung oder Übersendung entsprechender Formblätter zu entsprechen sein, gleichwohl aber zu Mehrarbeit führen.

7. Erstreckung auf Heranwachsende

Gegen die Erstreckung der Vorschriften auf Verfahren gegen Heranwachsende bestehen keine Bedenken.