#12/19

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung

A. Tenor der Stellungnahme

Der Deutsche Richterbund begrüßt, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Fälle, in denen unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, gegenüber der weiteren Fassung im Referentenentwurf begrenzt. Gleichwohl geht auch der Regierungsentwurf über das europarechtlich gebotene Maß hinaus, indem er die notwendige Verteidigung allgemein auf das Ermittlungsverfahren ausweitet und die Möglichkeit einer Verzichtserklärung des Beschuldigten nicht vorsieht. Der Deutsche Richterbund lehnt dies ab.

Darüber hinaus sind die Regelungen in entscheidenden Passagen nicht klar genug und dürften in der Praxis zu Auslegungs- sowie Anwendungsschwierigkeiten führen.

In der Gesamtschau stellt das Regelungskonzept die Praxis vor große Herausforderungen, die bei der Personalausstattung berücksichtigt werden müssen.

B. Bewertung im Einzelnen

Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vorgelegt, der Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 umsetzen soll und dabei auch Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) betrifft.

Der Deutsche Richterbund begrüßt, dass seine an dem Referentenentwurf geäußerte Kritik zumindest partiell in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Niederschlag gefunden hat. So wird die antragsunabhängige Bestellung von Pflichtverteidigern unter anderem an die in der PKH-Richtlinie ausdrücklich geregelten Fälle der Vorführung vor den Haftrichter und der Haft in anderer Sache geknüpft.

Dennoch geht auch der Regierungsentwurf über das europarechtlich gebotene Maß hinaus. Die notwendige Verteidigung wird in zu großem Umfang in das Ermittlungsverfahren hinein ausgeweitet. Zudem sieht der Regierungsentwurf die Möglichkeit einer Verzichtserklärung des Beschuldigten nicht vor.

Dies kollidiert mit dem nicht zuletzt in dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens ausgegebenen Ziel, das Strafverfahren effizienter zu gestalten und dessen Praxistauglichkeit zu steigern.

Die Regelungen lassen überdies Auslegungs- sowie Anwendungsschwierigkeiten erwarten. Darüber hinaus wird die Staatsanwaltschaft systemwidrig in die Pflichtverteidigerbestellung einbezogen.

Zu einzelnen Regelungen:

1. In § 140 Abs. 1 StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs ist nicht mehr von der „stattfindenden“ Hauptverhandlung die Rede, sondern davon, dass eine Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht „zu erwarten“ ist. Diese Formulierung reicht auch unter Berücksichtigung der Erläuterungen im Gesetzentwurf nicht aus, um der Praxis klar vorzugeben, wann eine Pflichtverteidigung erforderlich wird. Es stellt sich bereits die Frage, auf welcher Tatsachengrundlage eine solche Entscheidung getroffen werden soll. Gerade der in den Erläuterungen geschilderte Fall einer einfachen Betrugstat, die erst in Verbindung mit weiteren Erkenntnissen ‑ etwa zum Schadensumfang ‑ zu einer Schöffengerichtsanklage führen kann, zeigt die Schwierigkeit der Abgrenzung. In der Dynamik des Ermittlungsverfahrens mit Übernahmen etwaiger weiterer Fälle von anderen Staatsanwaltschaften wird es kaum einen klaren Zeitpunkt geben, zu dem feststeht, dass nunmehr eine Anklage zum Schöffengericht „zu erwarten“ ist. Die geplante Regelung ist als wenig praktikabel anzusehen.

2. Die mit dem Gesetzentwurf in Verbindung mit § 141 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3 StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs verbundene Ausweitung auf das Ermittlungsverfahren ist von der Richtlinie nicht geboten. Nach Art. 2 der Richtlinie ist Prozesskostenhilfe zu gewähren oder ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dem Beschuldigten die Freiheit entzogen ist oder der Beschuldigte nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten muss, oder wenn die Anwesenheit des Beschuldigten bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungsmaßnahme vorgeschrieben oder zulässig ist. Letzteres muss zumindest bei Gegenüberstellungen zur Identifizierung oder Vernehmung und bei Tatortrekonstruktionen der Fall sein.

Wenn sich also der Beschuldigte in Freiheit befindet und keine Ermittlungs- oder Beweiserhebungsmaßnahme stattfindet, bei deren Vornahme die Anwesenheit des Beschuldigten zulässig ist, muss nach der Richtlinie im Grundsatz noch kein Pflichtverteidiger bestellt werden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ein Verteidiger in einem so frühen Stadium der Ermittlungen erheblich zur Wahrung der Beschuldigtenrechte beitragen kann. Diese nicht geforderte und auch nicht gebotene Ausweitung der Pflichtverteidigung sollte unterbleiben. Vielmehr sollte im Ermittlungsverfahren die Pflichtverteidigerbestellung ausschließlich an konkrete Ermittlungshandlungen geknüpft werden. Es bleibt auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung unklar, in welchen Fällen es im Rechtspflegeinteresse erforderlich sein sollte, unabhängig von einer konkreten Ermittlungshandlung die Mitwirkung eines Verteidigers für notwendig zu erachten. Die Merkmale „erforderlich“ und „auf Grund der Umstände des Einzelfalls, namentlich der Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten“ sind insoweit wenig ergiebig.

3. Nach Erwägungsgrund 9 der Richtlinie (EU) 2016/1919  soll sie expressis verbis unter anderem „nicht zur Anwendung kommen, wenn Verdächtige oder beschuldigte Personen oder gesuchte Personen auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß Artikel 9 der Richtlinie 2013/48/EU verzichtet haben und diesen Verzicht nicht widerrufen haben“. Dennoch sieht der Regierungsentwurf nicht vor, dass der Beschuldigte – nach rechtlicher Belehrung – mittels einer Verzichtserklärung selbst darüber entscheiden kann, ob er sich umgehend einlassen beziehungsweise sich selbst verteidigen möchte. Zum einen dürfte dies bei Fällen mit vergleichsweise geringer Strafandrohung und einfach gelagertem Sachverhalt nicht selten der Fall sein. Zum anderen berücksichtigt der Regierungsentwurf nicht hinreichend, wie bedeutsam die Erkenntnisse frühzeitiger polizeilicher Vernehmungen bei zur Aussage bereiten Beschuldigten für das weitere Ermittlungsverfahren sind. Es kommt schließlich hinzu, dass sich frühzeitige Geständnisse in der Regel erheblich strafmildernd auswirken. Gleiches gilt für eine in einem besonders frühen Ermittlungsstadium geleistete Aufklärungshilfe gemäß § 46 b StGB.

4. Der Regierungsentwurf sieht vor, dass auch die Staatsanwaltschaft bei besonderer Eilbedürftigkeit einen Pflichtverteidiger bestellen kann. Dies erscheint systemwidrig und nicht geboten. Grundsätzlich muss auch der zuständige Richter in Eilfällen erreichbar sein. Im Übrigen enthält § 141a Satz 1 Nr. 2 in der Fassung des Regierungsentwurfs die Regelung, dass auf die vorherige Bestellung eines Verteidigers unter anderem verzichtet werden kann, wenn dies zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens zwingend geboten ist.

In der Gesamtschau stellt das Regelungskonzept die Praxis vor große Herausforderungen, die bei der Personalausstattung berücksichtigt werden müssen.