#10/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zu einer möglichen Änderung des § 142 StGB – Herabstufung der Unfallflucht nach reinen Sachschäden zur Ordnungswidrigkeit

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Aus Sicht des Deutschen Richterbundes hat sich die Strafvorschrift des § 142 StGB im Grundsatz in der Praxis bewährt und gibt den Gerichten ausreichend Spielräume, um Rechtsverstöße jeweils tat- und schuldangemessen zu bestrafen. Die angedachte Herabstufung der Unfallflucht nach reinen Sachschäden zu einer Ordnungswidrigkeit ist aus rechtspolitischer Sicht verfehlt. Dies würde den Unrechtsgehalt der „Unfallflucht“ nicht adäquat erfassen, insbesondere auch den Beweissicherungsinteressen des Geschädigten nicht in hinreichendem Maße Rechnung tragen.

Weil Ordnungswidrigkeiten gerade im Straßenverkehr häufig nur als „Kavaliersdelikt“ wahrgenommen werden und eine deutlich geringere Hemmschwelle entfalten, stünde vielmehr zu befürchten, dass infolge der geplanten Reform die Warte- oder Meldebereitschaft nach Unfällen weiter sinken würde. Darüber hinaus würde die geplante Änderung nicht zu einer Entlastung der Strafjustiz, sondern lediglich zu einer Verlagerung entsprechender Verfahren vom Straf- ins Ordnungswidrigkeitenverfahren führen, die bei einem Einspruch vor den Amts- und im Fall einer anschließenden Rechtsbeschwerde vor den Oberlandesgerichten zu klären wären.

Die Einführung der Möglichkeit, den Unfall über eine standardisierte Online-Maske zu melden, erscheint dagegen erwägenswert.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Angedachte Änderungen des § 142 StGB

 

Im Zuge der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Überprüfung des Strafrechts hat das Bundesministerium der Justiz den Straftatbestand des Unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 StGB in den Blick genommen.

Da dieser Straftatbestand zu einer „undifferenzierten Kriminalisierung des Unfallverursachers“ (so Anhörungsschreiben des BMJ vom 12.04.2023) führe und es nicht angemessen sei, ein Kriminalstrafverfahren bei Vorgängen mit reinen und unbeabsichtigten Sachschäden einzuleiten, solle die Unfallflucht nach reinen Sachschäden zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden. Dadurch könne auch verschiedenen Reformanliegen Rechnung getragen werden; als Problemfelder werden insofern die bisher regelhaft vorgesehene Fahrerlaubnisentziehung auch bei Sachschäden, die Regelung der tätigen Reue sowie Unsicherheiten im Hinblick auf die Angemessenheit der Wartezeit und die Höhe der Bagatellgrenze genannt. Die Ahndung als Ordnungswidrigkeit sei ausreichend, um dem Beweissicherungsinteresse auch bei reinen Sachschäden ausreichend Rechnung zu tragen und die Hemmschwelle für die Tat weiter aufrechtzuerhalten.

Für einen solchen Bußgeldtatbestand erscheine allerdings die Statuierung einer allgemeinen Meldepflicht als Alternative zu einer ausschließlichen Wartepflicht zeitgemäßer. Für deren praktische Umsetzung werden eine Meldung über eine standardisierte Online-Maske oder eine, am geschädigten Fahrzeug zu fixierende, Schadensmeldung in Erwägung gezogen. Sollte eine Meldung – etwa aufgrund technischer Probleme – nicht möglich sein, wird darüber hinaus eine Präzisierung der „angemessenen Wartezeit“ erwogen.

Schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob eine „tätige Reue" nach einer Unfallflucht nach reinen Sachschäden bereits über § 47 OWiG angemessen berücksichtigt werden könne oder ob es hierfür einer gesonderten Regelung bedürfe.

 

II. Bewertung

 

1. Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit kriminalpolitisch verfehlt

Die Herabstufung der Unfallflucht nach reinen Sachschäden zur Ordnungswidrigkeit ist aus rechtspolitischer Sicht verfehlt. Fragwürdig ist bereits der Ausgangspunkt der Überlegung, dass § 142 StGB zu einer „undifferenzierten Kriminalisierung des Unfallverursachers“ führe; denn strafbewehrt ist nicht die Verursachung eines Verkehrsunfalls, sondern das Sich-Entfernen vom Unfallort, ohne zuvor die erforderlichen Feststellungen ermöglicht zu haben. Die Vorschrift schützt das private Interesse der Geschädigten und Unfallbeteiligten an möglichst umfassender Aufklärung des Unfallgeschehens im Straßenverkehr, um Schadensersatzansprüche zu sichern oder abzuwehren (Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 142 Rn. 1 mwN). Grundgedanke der Norm ist, dass bei einem Unfall im Straßenverkehr im Vergleich zu einem normalen Schadensfall ein erhöhtes Risiko besteht, dass der Vorfall nicht aufgeklärt wird: Der Straßenverkehr bietet für den Unfallverursacher aufgrund seiner Schnelllebigkeit, Massenhaftigkeit und Anonymität besonders günstige Voraussetzungen, sich seiner Verantwortlichkeit zu entziehen (NK/Quarch, GVR, 3. Aufl., StGB § 142 Rn. 1; NK/Kretschmer, StGB, 6. Aufl., § 142 Rn. 8). Hinzu kommt ein erhöhtes Aufklärungsinteresse (aaO): Bei einem Verkehrsunfall entstehen schnell hohe Schäden, das gilt auch für Unfälle mit reinen Sachschäden. Die wirtschaftlichen Auswirkungen für den Geschädigten können daher gravierend sein, insbesondere, wenn er nicht über eine Vollkaskoversicherung verfügt.

Aus diesen Gründen würde die Herabstufung zur bloßen Ordnungswidrigkeit den Unrechtsgehalt der „Unfallflucht“ nicht adäquat erfassen, insbesondere auch den Beweissicherungsinteressen des Geschädigten nicht ausreichend Rechnung tragen. Die angestrebte Bagatellisierung des Tatbestandes würde die Grundforderung, die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, schwächen (vgl. LK/Herb, StGB, 13. Aufl., § 142 Rn. 3), weil Ordnungswidrigkeiten gerade im Straßenverkehr häufig nur als „Kavaliersdelikt“ wahrgenommen werden und eine deutlich geringere Hemmschwelle entfalten. Es mutet daher eher naiv an anzunehmen, dass der z.B. aus dem drohenden Verlust des Schadensfreiheitsrabattes in der Haftpflichtversicherung folgende Anreiz, die Unfallstelle unentdeckt zu verlassen (vgl. MK/Zopfs, StGB, 4. Aufl., § 142 Rn. 17), durch die Androhung eines Bußgeldes merklich reduziert werden kann. Die bisherige Strafdrohung entfaltet im Vergleich dazu ein stärkeres Gegenmotiv (NK/Kretschmer, StGB, 6. Aufl., § 142 Rn. 6).

 

2. Keine Entlastung der Strafjustiz

Eine Entlastung der Strafjustiz ist durch die angedachte Herabstufung der Unfallflucht nach reinen Sachschäden nicht zu erwarten; diese wird vielmehr zu einer Verlagerung vom Straf- zum Ordnungswidrigkeitenverfahren führen.

Aktuell wird der Großteil der Verfahren auf Ebene der Staatsanwaltschaften durch Verfahrenseinstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO erledigt, so dass sich ein Gericht damit nicht befassen muss. Die verbleibenden Verfahren bereitet die Staatsanwaltschaft entsprechend vor und führt – wo erforderlich – die notwendigen Ermittlungen durch. Eine solche Vorauswahl durch Volljuristen ist jedoch nicht zu erwarten, wenn die Unfallflucht nach reinen Sachschäden eine bloße Ordnungswidrigkeit darstellt und demgemäß von den Ordnungsbehörden bearbeitet wird. Ermittlungen zur Frage der Bemerkbarkeit des Unfalls für den Verursacher werden schon aufgrund der kurzen Verjährungsfrist gem. § 26 Abs. 3 StVG kaum möglich sein. Diese müsste dann vielmehr nach einem entsprechenden Einspruch bei Gericht geklärt werden, was zu einer stärkeren Belastung der dortigen Abteilungen für Ordnungswidrigkeiten führen würde. Mit häufigen Einsprüchen wäre insbesondere dann zu rechnen, wenn die entsprechende Ordnungswidrigkeit – was naheliegt – mit einem Fahrverbot sanktioniert würde. Auch die vielfach vorhandenen Verkehrsrechts-Rechtsschutzversicherungen dürften den Anreiz steigern, gegen einen entsprechenden Bußgeldbescheid Einspruch einzulegen und eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Derartige Verfahren würden zudem im Vergleich zu anderen Verkehrsordnungswidrigkeiten eine deutlich umfangreichere Beweisaufnahme erfordern. Denn regelmäßig muss zu der Frage der Bemerkbarkeit des Unfalls für den Verursacher ein Sachverständigengutachten eingeholt werden, was mit erheblichem Zeitraufwand verbunden ist.   

 

3. Einführung einer Meldepflicht erwägenswert

Die Einführung einer Meldepflicht als Alternative neben einer Wartepflicht erscheint dagegen erwägenswert. Hierdurch ließen sich einige Probleme des Tatbestandes entschärfen, beispielsweise die Frage einer angemessenen Wartezeit oder Konflikte mit der Selbstbelastungsfreiheit.

Unter den dafür vorgeschlagenen Möglichkeiten erscheint diejenige einer Online-Meldung vorzugswürdig, die jedoch bundesweit einheitlich und zentral ausgestaltet sein müsste. Die entsprechenden technischen Voraussetzungen müssten jedoch zunächst geschaffen und im Hinblick auf die erforderliche Stabilität ausreichend erprobt werden. Das Ankleben einer Schadensmeldung an das unfallbetroffene Fahrzeug erscheint dagegen mit zu großen Unsicherheiten behaftet und würde etwaigen Schutzbehauptungen Tür und Tor öffnen.

Die Überlegung, für den Fall, dass eine Meldung insbesondere aufgrund technischer Probleme nicht erfolgen kann, die Angemessenheit der Wartezeit zu präzisieren, wird dagegen eher kritisch gesehen. Abgesehen davon, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handeln dürfte, hat der Gesetzgeber bislang bewusst darauf verzichtet, eine bestimmte Wartezeit festzuschreiben, um den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden. Für die Dauer der nach den Umständen „angemessenen“ Wartezeit können diverse Umstände maßgebend sein, insbesondere Art und Schwere des Unfalls, Schadenshöhe, Lage des Unfallortes, Verkehrsdichte nach Jahres- oder Tageszeit und Witterung (vgl. LK/Herb, StGB, 13. Aufl., § 142 Rn. 108). Dies macht deutlich, dass es auch für den Bereich der reinen Sachschäden schwierig ist, eine einheitliche Dauer festzulegen; diese müsste sich sonst am oberen Ende der denkbaren Möglichkeiten bewegen und sollte nicht unter 30 Minuten betragen. Im Gesetz eine Staffelung vorzunehmen, erscheint aufgrund der Vielzahl der relevanten Kriterien wenig praktikabel und würde die Vorschrift noch unübersichtlicher machen.

 

4. Keine Ausweitung der tätigen Reue

Aus Sicht des Deutschen Richterbundes bestehen Bedenken gegen eine Ausweitung der Vorschrift über die tätige Reue in § 142 Abs. 4 StGB. Dagegen spricht insbesondere, dass die in der Norm vorgesehene 24-Stunden-Frist dem Unfallverursacher die Möglichkeit einräumt, sie auszuschöpfen, um erst einmal abzuwarten, ob die Tatbeteiligung überhaupt beobachtet worden ist; anschließend dürfte der Anreiz, sich doch noch zu melden, eher gering sein (vgl. NK/Kretschmer, StGB, 6. Aufl., § 142 Rn. 26). Aus Vereinfachungsgründen könnte es sich allenfalls anbieten, die Norm nicht mehr auf den ruhenden Verkehr zu beschränken (so auch die Empfehlung des 56. Verkehrsgerichtstages 2018, Bl. XII f.).