Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren („Anti-SLAPP-Richtlinie“, COM(2022) 177)
A. Tenor der Stellungnahme
Aus Sicht des Deutschen Richterbundes erscheint die Richtlinie nicht erforderlich. In Deutschland wirkt das Zivilprozessrecht der Gefahr des Missbrauchs zivilgerichtlicher Verfahren bereits ausreichend entgegen. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Instrumente der Richtlinie missbräuchlich eingesetzt werden, und die Richtlinie damit einen Missbrauch nicht verhindert, sondern erst ermöglicht.
B. Bewertung im Einzelnen
Aus Sicht des Deutschen Richterbundes bestehen Bedenken gegen die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Richtlinie zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren („Anti-SLAPP-Richtlinie“).
1. Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Richtlinie
Unabhängig von der Bewertung der Richtlinie im Einzelnen stellt sich aus der Sichtweise deutscher Zivilgerichte und unter Berücksichtigung des deutschen Zivilprozessrechts die grundsätzliche Frage der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Richtlinie.
a. SLAPPs an deutschen Gerichten nicht bekannt
An deutschen Zivilgerichten sind SLAPPs bislang nicht bekannt. Anders als in anderen Rechtssystemen bietet das deutsche Zivilprozessrecht einen hohen Schutz vor missbräuchlichen Klagen. Zum einen trifft die Substantiierungslast in Deutschland den Kläger bzw. Antragsteller, zum anderen erfordert die Zustellung einer Zivilklage in Deutschland die Einbezahlung eines Gerichtskostenvorschusses durch den Kläger. Zudem gilt im deutschen Zivilprozessrecht der Grundsatz, dass der unterlegenen Partei die Kosten der gegnerischen Partei einschließlich deren Anwaltskosten auferlegt werden. Wer also eine offenkundig unbegründete Klage einreicht, hat in Deutschland ohnehin die Anwaltskosten des Beklagten – gedeckelt durch die Gebührensätze des RVG – zu tragen. Und schließlich kann ein Beklagter, der nicht über die notwendigen Mittel zur Beauftragung eines Rechtsanwalts verfügt, in Deutschland bereits zur Verteidigung gegen eine zivilgerichtliche Klage Prozesskostenhilfe erhalten.
b. Fehlen einer Bedarfsanalyse
Dem Richtlinienvorschlag liegt schon keine Bedarfsanalyse (Impact Assessment Report) zugrunde. Aus hiesiger Sicht ist dies nicht nachvollziehbar. Da das Phänomen sog. SLAPPs an deutschen Zivilgerichten unbekannt ist, stellt sich die Frage nach dem Bedarf für eine entsprechende EU-weite Richtlinie. Obwohl der Bedarf hierzulande nicht erkennbar ist, werden durch den Richtlinienvorschlag gesetzliche Regelungen vorgeschlagen, die erhebliche Einschränkungen des Rechtsschutzes in einem grundrechtssensiblen Bereich in Deutschland zur Folge haben könnten (siehe Ziffer 2.); darüber hinaus sind einige der vorgeschlagenen Regelungen dem deutschen Zivil- und Zivilprozessrecht so fremd, dass ihre Einführung den Zivilgerichten praktische Probleme bereiten würde (siehe Ziffer 3.). Angesichts dessen bestehen bis zum Vorliegen einer Bedarfsanalyse grundlegende Bedenken gegen die Erforderlichkeit einer solchen Richtlinie.
d. Effektiver Rechtsschutz
Sollte eine Bedarfsanalyse den Befund der Kommission, wonach sog. SLAPPs in mehreren EU-Mitgliedsstaaten gezielt und zunehmend gegen JournalistInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen eingesetzt werden, ohne dass eine Rechtsgutsverletzung auf Klägerseite im Raum steht, so befürwortet der DRB durchaus Regelungen zur Verhinderung eines solchen Rechtsmissbrauchs. Der Arbeit von JournalistInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen kommt in einem Rechtsstaat herausgehobene Bedeutung zu; der Rechtsstaat sollte nicht missbraucht werden dürfen, um diese mit grundlosen Klagen einzuschüchtern oder mundtot zu machen, wie die Kommission dies darstellt. Zunächst sollten aber die Ursachen geprüft werden, die in bestimmten EU-Staaten einen solchen Missbrauch zivilgerichtlicher Klagen ermöglichen, wobei auch zu prüfen wäre, warum dies in anderen Rechtssystemen nicht der Fall ist. Sodann könnte eine Behebung der Ursachen zielgerichteter erfolgen als mit der vorgeschlagenen Richtlinie, deren Umsetzung im deutschen Zivilprozess – der einen hohen Schutz vor Missbrauch bietet – zu erheblichen Problemen führen könnte.
e. Anwendungsbereich
Aus den vorgenannten Gründen wird auch dafür plädiert, den Anwendungsbereich der Richtlinie (Art. 1) von vornherein auf missbräuchliche Gerichtsverfahren zu beschränken und nicht auch „offenkundig unbegründete Verfahren“ darin aufzunehmen. Unstimmig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die in Kapitel III vorgesehene Möglichkeit der vorzeitigen Einstellung offenkundig unbegründeter Gerichtsverfahren zwar qua definitionem eine Prüfung der Begründetheit voraussetzt, dies aber nicht für missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung gelten soll, für die stattdessen Sanktionsmöglichkeiten in Kapitel IV vorgesehen sind. Gerade vor letzteren soll die Richtlinie nach ihrer Begründung aber Schutz bieten. Für Gerichtsverfahren, die offenkundig unbegründet sein mögen, ohne zugleich aber missbräuchlich zu sein, besteht aber grundsätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Klärung der Begründetheit einer Klage oder eines Antrags ist gerade die Kernaufgabe der staatlichen Gerichte. Unabhängig davon, dass der Anwendungsbereich deshalb aus hiesiger Sicht auf missbräuchliche Gerichtsverfahren eingeschränkt werden sollte, um den Rechtsschutz rechtssuchender Bürger nicht unverhältnismäßig einzuschränken, erscheinen nach Kapitel III in Deutschland keine gesonderten Regelungen erforderlich. Denn bei offenkundiger Unbegründetheit – also wenn die Klage von vornherein unschlüssig ist – wird der Richter in der Regel bereits zu Beginn des Verfahrens einen entsprechenden Hinweis an die Klagepartei erteilen und die Klagerücknahme anheimstellen, oder ansonsten einen frühen ersten Termin nach § 275 ZPO bestimmen.
2. Einschränkungen des zivilrechtlichen Rechtsschutzes in Deutschland
Der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission hätte in Deutschland erhebliche Einschränkungen des Rechtsschutzes in einem besonders grundrechtssensiblen Bereich zur Folge.
a. Einstufung „normaler“ Verfahren als missbräuchlich, Art. 3 (3)
Nach Art. 3 (3) des Richtlinienvorschlags wäre beinahe jede presse- oder äußerungsrechtliche Streitigkeit, in der die Unterlassung der Berichterstattung verlangt und eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht geltend gemacht wird, als „missbräuchliches Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung“ einzustufen. Denn der Hauptzweck eines Antrags oder einer Klage auf Unterlassung bestimmter Berichterstattung wegen Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts besteht gerade darin, „die öffentliche Beteiligung zu verhindern, einzuschränken oder zu sanktionieren“, wie es im Vorschlag heißt. Da in derartigen Fällen die Gerichte jede streitgegenständliche Äußerung unter sorgfältiger Abwägung der Rechtsgüter beider Verfahrensparteien zu bewerten haben, also insbesondere etwaige Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf der einen Seite mit der Meinungsäußerungs- und der Pressefreiheit auf der anderen Seite in einen rechtlichen Ausgleich zu bringen haben, ist in einer Vielzahl der Fälle die Klage bzw. der Antrag nur teilweise begründet. Dies wäre nach der allgemeinen Definition in Art. 3 (3) S. 1 des Richtlinienvortrags stets als missbräuchlich einzustufen, obwohl die Beispiele in S. 2 nahelegen, dass derartige Fälle damit nicht gemeint sein dürften. Um klarzustellen, dass derartige Fälle davon nicht umfasst sind, sollte die Definition in Art. 3 (3) S. 1 überarbeitet werden, was etwa durch Einfügung des Wortes „missbräuchlich“ zwischen „öffentliche Beteiligung“ und „zu verhindern“ erreicht werden könnte.
b. Verhinderung des Eilrechtsschutzes durch Art. 10
Die in Art. 10 vorgesehene Aussetzung des Hauptverfahrens kann missbraucht werden, um Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz hinauszuzögern.
Um Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch öffentliche Äußerungen gerichtlich geltend zu machen und weitere Rechtsverletzungen zeitnah zu verhindern, kann in Deutschland der Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt werden, wonach die Antragsgegnerpartei – in der Regel ein Verlag oder sonstiges Medienunternehmen, teilweise auch Einzelpersonen – die entsprechenden Äußerungen zu unterlassen hat. Dieser Eilrechtsschutz, der in der zivilgerichtlichen Praxis in Deutschland angesichts möglicher Verletzungen grundrechtlich geschützter Rechte besonders zügig und effektiv gewährt wird, könnte durch die in Art. 10 vorgesehene Aussetzung des Hauptverfahrens faktisch ausgehebelt werden. Denn Art. 10 sieht vor, dass bereits dann, wenn ein Antrag nach Art. 9 auf vorzeitige Einstellung gestellt wird, das Hauptverfahren bis zur endgültigen Entscheidung hierüber auszusetzen ist. Auch wenn die Entscheidung hierüber nach Art. 11 beschleunigt zu behandeln wäre, kann die endgültige Entscheidung wegen der Beschwerdemöglichkeit nach Art. 13 und der Notwendigkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs in beiden Instanzen einige Zeit in Anspruch nehmen. Während dieser gesamten Zeit wäre nach Art. 10 das Hauptverfahren auszusetzen, wozu nach derzeitiger Formulierung der Regelungen auch ein Verfahren im Eilrechtsschutz gehören würde. Ein Antrag nach Art. 9 könnte also selbst dann, wenn er offenkundig nicht begründet wäre, alleine mit dem Ziel gestellt werden, die Aussetzung des Hauptverfahrens nach Art. 10 zu erreichen und so eine die Antragstellerpartei möglicherweise in grundrechtlich geschützten Rechten verletzende Berichterstattung noch bis zur endgültigen Entscheidung über den Antrag nach Art. 9 fortzuführen.
Damit wäre ein effektiver Eilrechtsschutz im presse- und äußerungsrechtlichen Standardfall in Deutschland praktisch nicht mehr gewährleistet. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie zwangsläufig auch solche Verfahren betroffen wären, in denen sich beispielsweise eine Privatperson gegen eine potentiell existenzvernichtende Berichterstattung eines Presseorgans wehrt. Die in Art 10 vorgesehene Aussetzung des Hauptverfahrens birgt somit die Gefahr, dass dieses Instrument der Richtlinie in missbräuchlicher Weise auch gegen Klageparteien ins Feld geführt wird, die Rechtsschutz gegen u.U. schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzungen suchen.
Es erscheint daher zwingend, Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz von Kapitel III von vornherein auszunehmen. Gerade im einstweiligen Rechtsschutz besteht auch kein Bedürfnis für einen gesonderten Antrag auf vorzeitige Einstellung, da der Zweck dieser Regelungen gerade darin besteht, eine schnelle Entscheidung über offenkundig unbegründete Gerichtsverfahren herbeizuführen. Dies ist im einstweiligen Rechtsschutz ohnehin der Fall, weshalb kein Bedürfnis dafür besteht, die Regelungen in Kapitel III auf den einstweiligen Rechtsschutz zu erstrecken.
3. Weitere Probleme für die gerichtliche Praxis
Nachfolgend wird auf weitere Probleme für die zivilgerichtliche Praxis in Deutschland hingewiesen.
a. Definition des grenzüberschreitenden Bezugs, Art. 4
Soweit der grenzüberschreitende Bezug in Art. 4 (2) über (1) hinaus noch erweitert wird, erscheint die Definition in Art. 4 (2) a) erheblich zu weit. Denn hierdurch drohen auch rein innerstaatliche Verfahren, in denen beide Parteien ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat haben, als ein grenzüberschreitendes Verfahren im Sinne der Richtlinie erfasst zu werden, wenn das öffentliche Interesse über diesen Mitgliedstaat hinausreicht. Ungeachtet der Schwierigkeit, dies im Einzelfall festzustellen, tritt hinzu, dass ein grenzüberschreitendes Rechtsschutz- und Regelungsbedürfnis in einem solchen innerstaatlichen Fall nicht ersichtlich ist.
b. Beteiligung Dritter, Art. 7
Die in Art. 7 vorgesehene Beteiligung Dritter dürfte den Bearbeitungsaufwand für die Zivilgerichte erheblich erhöhen und damit zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer führen. Denn zu jeder Verfahrenshandlung eines beteiligten Dritten müsste das Gericht zum einen den Parteien rechtliches Gehör gewähren, und zum anderen in seiner Entscheidung des Rechtsstreits Stellung nehmen.
c. Sanktionen, Art. 16
Die Verhängung von Sanktionen für missbräuchliche Gerichtsverfahren lässt entgegen der erklärten Intention der Richtlinie, die Zivilgerichte von missbräuchlichen Verfahren zu entlasten, eine Mehrbelastung der Gerichte erwarten, da sie in diesem Falle eine weitere Entscheidung treffen müssten, gegen die wiederum Rechtsmittel eingelegt werden könnten. Eine erfolglose Klage ist bereits dadurch hinreichend sanktioniert, dass der Kläger sowohl die Gerichtskosten als auch die Anwaltskosten der Gegenseite übernehmen muss. Zwar erscheint eine Missbrauchsgebühr bei Verfahren sinnvoll, die kostenfrei betrieben werden können, wie es insbesondere beim Bundesverfassungsgericht für eine missbräuchliche Einlegung von Verfassungsbeschwerden (§ 34 Abs. 2 BVerfGG) vorgesehen ist. Jedoch erscheint die Implementierung des Richtlinienvorschlags in deutsches Recht problematisch. Denn während Zivilgerichte nach dem in Deutschland geltenden Beibringungsgrundsatz einen Rechtsstreit ausschließlich aufgrund des von den Parteien beigebrachten Sachverhalts zu entscheiden haben, müsste sich dasselbe Gericht zur Verhängung von Sanktionen nach Art. 16 die Entscheidungsgrundlage – auch im Hinblick auf die Ermittlung der verhältnismäßigen Höhe einer Sanktion – selbst verschaffen. Der DRB spricht sich daher nicht für die Verhängung von Sanktionen gegen Parteien eines Zivilverfahrens aus.