#3/2024

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG)

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund befürwortet die Bestrebungen, das Musterverfahren nach dem KapMuG zur Handhabung von Massenverfahren mit kapitalmarktrechtlichem Bezug dauerhaft gesetzlich zu etablieren und effizienter zu gestalten.

Allerdings bestehen Bedenken, ob der Gesetzesentwurf in der vorliegenden Form das Ziel einer sowohl für die Justiz als auch für den Individualrechtsschutz effektiven Erledigung dieser Massenverfahren erreichen kann.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

Der Deutsche Richterbund begrüßt die geplante dauerhafte Regelung des Kapitalanleger-Musterverfahrens, das zweifelsfrei auch künftig notwendig sein wird, um Massenverfahren mit Kapitalmarktbezug effektiv zu erledigen. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedarf das KapMuG nach den bisherigen Erfahrungen aus der Praxis einer grundlegenden Überarbeitung. Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob der vorgelegte Gesetzesentwurf diesen Anforderungen gerecht wird. Dies gilt insbesondere für die – schon nach bisherigem Recht nicht effektiv zu bewältigenden – komplexen und gewichtigen Verfahren, die nicht lediglich Prospektfehler betreffen, sondern in denen es um die Frage geht, ob ein Emittent Insiderinformationen zu Unrecht nicht oder falsch veröffentlich hat.

 

I. Neuregelung des Vorlage- und Eröffnungsverfahrens

Das Ziel der in § 7 und § 10 KapMuG-RefE vorgesehenen Neukonzeption des Zusammenwirkens zwischen Prozess- und Oberlandesgericht, den Zeitraum bis zur eigentlichen Initiierung des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht zu verkürzen sowie dem Oberlandesgericht die Möglichkeit zu geben, das Verfahren von Anfang an zu steuern, ist grundsätzlich zu befürworten.

1. Der erstgenannte Zweck wird insbesondere dadurch erreicht, dass das Landgericht den Vorlagebeschluss an das übergeordnete Oberlandesgericht zwingend zu erlassen hat, wenn die Mindestzahl von zehn Musterverfahrensanträgen erreicht ist (§ 7 Abs. 1 KapMuG-RefE). Allerdings dürfte davon auszugehen sein, dass die in § 2 Abs. 4 KapMuG-RefE vorgesehene Bekanntmachung eines Musterverfahrensantrags binnen einer Sollfrist von zwei Monaten vom Landgericht regelmäßig nicht eingehalten werden kann. Die knapp bemessene Frist wird angesichts des Umfangs und der Komplexität der Angelegenheit dem Anspruch auf rechtliches Gehör häufig nicht genügen. Regelmäßig wird dieser Zeitraum nicht ausreichen, um sowohl den Beklagtenvertretern Gelegenheit zu geben, sich innerhalb einer – notwendigerweise noch kürzer zu bemessenden – Äußerungsfrist angemessen mit der komplexen Materie zu befassen, als auch die erforderliche gerichtliche Zulässigkeitsprüfung zu bewältigen.

2. Der sich gemäß § 10 KapMuG-RefE anschließende, neu eingeführte Verfahrensschritt der Eröffnung des Musterverfahrens durch Beschluss des Oberlandesgerichts soll diesem eine effiziente Verfahrensführung ermöglichen, indem es selbst die Feststellungsziele des Musterverfahrens formulieren und so dessen Gegenstand bestimmen kann. Dieses Anliegen ist grundsätzlich zu begrüßen.

Die nach aktueller Rechtslage gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19. September 2017 – XI ZB 17/15, juris Rn. 69 m. w. N.) bestehende Bindung des Oberlandesgerichts an den Vorlagebeschluss hat gerade in komplexen Musterverfahren häufig zur Folge, dass die Beteiligten nach entsprechenden rechtlichen Hinweisen und Gewährung rechtlichen Gehörs (ggf. auch in einem Erörterungstermin) Erweiterungsanträge formulieren, die dann der Entscheidung durch das Oberlandesgericht bedürfen. Nach bisheriger Erfahrung – gerade in den insiderrechtlich geprägten Verfahren – lassen sich die Feststellungsziele, die am effektivsten der Verfahrensökonomie dienen, erst nach intensiver Befassung formulieren. Es ist deshalb nach Auffassung des Deutschen Richterbundes zu begrüßen, wenn dem Oberlandesgericht mehr Gestaltungsspielraum bei der Formulierung der Feststellungsziele eingeräumt wird. Insofern kann es auch zu einer größeren Effizienz des Verfahrens beitragen, wenn dem Gericht des Musterverfahrens die Verfahrensführung nicht durch eine vom Landgericht vorgegebene Vielzahl von Feststellungszielen erschwert wird. Denn der Problematik „ausufernder“ Feststellungsziele konnte bisher nur teilweise durch die Möglichkeit begegnet werden, einzelne Feststellungsziele als gegenstandslos zu behandeln.

3. Unbeantwortet lässt der Gesetzentwurf jedoch die Frage, auf welcher Grundlage das Oberlandesgericht die Feststellungsziele finden soll. Die in § 7 Abs. 3 i. V. m. § 4 Abs. 2, insb. § 4 Abs. 2 Nr. 6 KapMuG-RefE vorgesehene knappe Wiedergabe des Lebenssachverhalts und der Fragestellungen reicht in komplexen Fällen nicht aus, um beurteilen zu können, auf welche rechtlichen oder tatsächlichen Umstände es für die Entscheidung der Individualprozesse im Ergebnis ankommen wird. Die grundsätzlich denkbare Beiziehung und Auswertung der Akten der Individualprozesse zur Formulierung der relevanten Feststellungsziele könnte das Oberlandesgericht überfordern und zu einer unübersehbaren Verzögerung führen. Dem kann nicht allein durch die in § 7 Abs. 1 Satz 2 KapMuG-RefE vorgesehene zahlenmäßige Begrenzung der dem Musterverfahren zu Grunde zu legenden Verfahren wirksam begegnet werden. Häufig wird nämlich eine große Anzahl von Individualverfahren gleichzeitig anhängig gemacht.

Zudem ist zu bedenken, dass die – nach dem Gesetzesentwurf nach billigem Ermessen zu treffende – Bestimmung der Feststellungsziele durch das Oberlandesgericht jedenfalls dann der zivilprozessualen Parteimaxime widersprechen würde, wenn sie darauf hinausliefe, dass das Gericht die Feststellungsziele letztlich selbst (um-)formulieren und damit das Begehren der Parteien um- bzw. übergehen könnten. Auch diesbezüglich erachtet der Deutsche Richterbund eine Klarstellung des Prüfungsmaßstabs für sinnvoll. Die Gesetzesbegründung spricht davon (auf S. 33), dem Oberlandesgericht solle ermöglicht werden, „Musterverfahren innerhalb des durch die vorgelegten Musterverfahrensanträge bestimmten potenziellen Gegenstands so inhaltlich zuzuschneiden, dass das Musterverfahren prozessökonomisch sinnvoll geführt werden kann“. Hieraus wird nicht hinreichend klar, ob dem Oberlandesgericht nur die Befugnis zustehen soll, aus den von den Antragstellern der Musterverfahrensanträge formulierten Feststellungszielen auszuwählen, oder ob es auch befugt sein soll, diese Feststellungsziele selbst sachgerecht umzuformulieren. Letzteres wird zwar von Teilen der richterlichen Praxis als wünschenswert begrüßt; andererseits werden nicht von der Hand zu weisende Bedenken im Hinblick auf den Beibringungsgrundsatz angemeldet. Das Musterverfahren anhand einer umfassenden eigenen Sachdienlichkeitsprüfung durch unanfechtbaren Beschluss nach den Kriterien zu eröffnen, die in der Gesetzesbegründung auf S. 33 genannt sind, dürfte insofern auch verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen.

4. Unklar bleibt auch, wie zu verfahren ist, wenn im weiteren Verlauf des Verfahrens erkannt wird, dass die ursprüngliche Bestimmung der Feststellungsziele zu restriktiv erfolgt ist. Eine gesetzliche Regelung für diesen Fall sieht der Entwurf – jenseits von zeitlich begrenzten Erweiterungsanträgen nach § 11 KapMuG-RefE – nicht vor.

5. Festzuhalten ist, dass die vorgesehene Neuregelung des Verfahrens bei den Oberlandesgerichten in einem sehr frühen Verfahrensstadium eine eingehende inhaltliche Bewertung der Feststellungsziele erforderlich macht, die auch mit Konfliktpotential im Verhältnis zu den Verfahrensbeteiligten verbunden sein kann. Unter anderem aus diesem Grund werden in der Praxis Zweifel daran angemeldet, dass die Zeit bis zum Musterentscheid hiermit im Ergebnis deutlich verkürzt werden kann.

Jedenfalls wird die in § 10 Abs. 5 KapMuG-RefE vorgesehene Frist für die Entscheidung über die Eröffnung binnen drei Monaten ab Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses in der Praxis einhellig als zu kurz eingestuft und deshalb abgelehnt. Diese Regelfrist wird schon mit Blick auf die notwendige Einarbeitung in den – regelmäßig umfangreichen und komplexen – Sachverhalt sowie die anschließende eingehende rechtliche Prüfung zur Bestimmung der Feststellungsziele nicht einzuhalten sein. Zudem wird den Parteien vor dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses rechtliches Gehör zu der beabsichtigten Fassung der Feststellungsziele gewähren zu sein. Die Feststellungsziele können nicht ohne Mitwirkung der Beteiligten festgelegt werden, weil sie auf der Grundlage des Klagevorbringens und der Musterverfahrensanträge in den Individualprozessen die Bindungswirkung des Musterentscheids definieren sollen. Insbesondere bei ungenügend bzw. unbestimmt formulierten Feststellungszielen muss das Oberlandesgericht den Beteiligten daher rechtliches Gehör gewähren und ggf. Gelegenheit geben, zu den mit Bindungswirkung für die Individualverfahren zu treffenden Feststellungen weiter vorzutragen. Diese Klärung – die nach Einschätzung der Praxis u. U. sogar eine Erörterung in mündlicher Verhandlung erfordern kann – wird in dem vorgesehenen Zeitrahmen von drei Monaten nur in seltenen Fällen erfolgen können.

 

II.  Aussetzung/Unterbrechung der Individualklageverfahren

Die Abschaffung der zwingenden Aussetzung und der Bindungswirkung für alle materiell durch das Musterverfahren betroffenen Ausgangsverfahren führt nach Auffassung des Deutschen Richterbundes nur zu einer vordergründigen Entlastung und Effizienzsteigerung des einzelnen Musterverfahrens; sie löst jedoch keinesfalls das grundlegende Problem der aus den Massenverfahren resultierenden Be- und Überlastung der Justiz.

Die beabsichtigte Regelung in § 11 KapMuG-RefE und § 148 Abs. 5 ZPO-RefE, einen Antrag weiterer Kläger auf Teilnahme am Musterverfahren zeitlich zu befristen und für die übrigen Individualprozesse nur eine optionale Aussetzung des Verfahrens ohne Bindung an den Musterentscheid vorzusehen, ist abzulehnen. Ein beim Oberlandesgericht geführtes Musterverfahren mit Bindungswirkung für die Ausgangsverfahren hat nur dann Beschleunigungs- und Entlastungswirkung, wenn es bei der bisherigen zwingenden Aussetzung aller gleichgerichteten Klagen und Bindungswirkung für diese Verfahren bleibt und dadurch parallel betriebene Individualprozesse vermieden werden.

Die Durchführung eines Musterverfahrens, in dem die gleichförmigen Tatsachen- und Rechtsfragen nur für eine beschränkte Klägeranzahl bindend geklärt werden, läuft dem Sinn des Verfahrens zuwider, und die Vorstellung der Gesetzesbegründung, der Musterentscheid könne auch ohne Bindungswirkung „maßstabsetzend“ wirken, erscheint zumindest zweifelhaft. Die erhoffte „deutliche Orientierung“ könnte ein nicht bindender Vorbescheid wohl ohnehin nur in Rechtsfragen bewirken, nicht jedoch bei streitigen Tatsachen. Gerade in den – der Praxis wegen ihrer Komplexität und ihres Umfangs besondere Schwierigkeiten bereitenden – insiderrechtlichen Fällen liegt der Fokus aber nicht nur auf dem Gebiet der rechtlichen Beurteilung, sondern in besonderem Maße auf meist hochstreitigen Tatsachenfragen, die in oft umfangreichen Beweisaufnahmen geklärt werden müssen („Wer hat wann was von wem über was gewusst?“). Das Musterverfahren hat daher nach Auffassung des Deutschen Richterbundes nur dann einen Sinn, wenn die umfassende Bindungswirkung für alle Verfahren erhalten bleibt.

Unabhängig davon ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der Entwurf in § 148 Abs. 5 ZPO-RefE bereits den Antrag einer Partei als Voraussetzung für eine zwingende Aussetzung ausreichen lässt, er also nicht wie der Entwurf für ein Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof im dortigen § 148 Abs. 4 ZPO-E die Zustimmung beider Parteien zur Aussetzung verlangt.

 

III. Nachträgliche Erweiterung des Musterverfahrens

Die vorgesehene Regelung des § 11 KapMuG-RefE, wonach es den Parteien eines Ausgangsverfahrens, das nicht Gegenstand des Eröffnungsbeschlusses des Oberlandesgerichts geworden ist, binnen zwei Monaten ab Bekanntmachung desselben ermöglicht wird, eine Erweiterung des Musterverfahrens zu beantragen, ergibt vor dem Hintergrund der Konzeption des Gesetzesentwurfs Sinn. Hierdurch kann der Zweck einer effizienteren Verfahrensgestaltung erreicht werden, sofern es sich um eine echte Ausschlussfrist für die Erweiterung des Musterverfahrens handelt.

Bleibt man allerdings – wie diesseits aus den unter II. angeführten Gründen angeregt – bei einer zwingenden Aussetzung und Bindungswirkung für alle betroffenen Verfahren, bedarf es einer derartigen Regelung nicht.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass das spätere Hinzutreten weiterer Beteiligter zum laufenden Musterverfahren den Streitstoff nach den bisherigen Erfahrungen der Praxis regelmäßig nicht verbreitert. Die meisten Kläger wurden und werden in den bisherigen Massenverfahren von wenigen spezialisierten Kanzleien vertreten, die den Streitstoff und seinen Umfang maßgeblich bestimmen. Die einzelnen Anwälte, die nur eine beigeladene Partei vertreten, beteiligen sich hingegen erfahrungsgemäß nicht aktiv.

Nicht nur vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, die Anträge auf Teilnahme am Musterverfahren, wie im Entwurf vorgesehen, als personelle Erweiterungsanträge auszugestalten, die vom Oberlandesgericht zu bescheiden sind. Diese Verfahrensweise dürfte nicht zu einer Beschleunigung, sondern im Gegenteil oftmals zu einer Verzögerung des Musterverfahrens führen, wenn man die strengen Voraussetzungen berücksichtigt, die die höchstrichterliche Rechtsprechung für die Aussetzung eines Verfahrens aufstellt, welche mit der Abhängigkeit von einem anderen Verfahren begründet werden soll (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. April 2019 – XI ZB 13/18, juris Rn. 24 ff., bes. Rn. 28, 31 ff.; vom 16. Juni 2020 – II ZB 10/19, juris Rn. 23 und II ZB 30/19, juris Rn. 24). Nach den Erfahrungen der Praxis in insiderrechtlichen Fällen beteiligen sich häufig institutionelle Anleger aus dem Ausland, bei denen ebenso häufig die Partei- und Prozessfähigkeit streitig ist; hierdurch kann die nach bisherigem Recht vom Landgericht zu treffende Aussetzungsentscheidung jahrelang, u .U. sogar bis zum Erlass des erstinstanzlichen Musterentscheids, verschleppt werden. Die Regelungen des Entwurfs beseitigen diese Problematik nicht, sondern verlagern sie nur auf die Ebene des Oberlandesgerichts und in das laufende Musterverfahren. Ob es den spezialisierten Kanzleien auf Klägerseite ausreichen wird, im Musterverfahren die Beteiligtenrechte nach § 9 Abs. 4 KapMuG-RefE geltend machen zu können und hierzu einen oder wenige Kläger, bei denen die Prozessvoraussetzungen unzweifelhaft gegeben sind, als Antragsteller zu „verwenden“ und die restlichen Verfahren über § 148 Abs. 5 ZPO-RefE auszusetzen, erscheint fraglich. Denn die von ihnen vertretenen Kläger der Ausgangsverfahren hätten in diesem Fall weniger Einfluss auf den Abschluss eines Vergleichs, dessen Wirksamkeit davon abhängt, dass weniger als 30 % der Beigeladenen ihren Austritt aus dem Vergleich erklären (§ 19 Abs. 3, § 20 Abs. 2 KapMuG-RefE).

Eine echte Beschleunigung sowohl des einzelnen Musterverfahrens als auch der parallelen Individualverfahren könnte hingegen dadurch erzielt werden, dass die Aussetzungsvoraussetzungen gesetzlich deutlich weiter gefasst würden, als sie derzeit durch die strenge Auslegung des Bundesgerichtshofs in der Praxis gehandhabt werden.

 

IV. Fazit zur Entlastung der Justiz von Massenklagen

Das ausdrücklich zu begrüßende Ziel, zu einer effektiven Erledigung von Massenverfahren mit kapitalmarktrechtlichem Bezug beizutragen und dabei die Stellung des Oberlandesgerichts als Gericht des Musterverfahrens zu stärken, wird nach Einschätzung des Deutschen Richterbundes mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf nicht in genügendem Maße erreicht.

Zwar ist die oftmals lange Verfahrensdauer einer der Hauptkritikpunkte am KapMuG. Der Entwurf greift aber insoweit zu kurz, als die Verfahrensdauer nach den Erfahrungen aus der Praxis regelmäßig ihren Grund nicht in der Sphäre der Gerichte hat; die Ursachen hierfür sind vielmehr häufig in der komplexen Rechtsmaterie und auf der Seite der den Prozessstoff bestimmenden Beteiligten des Musterverfahrens zu suchen. Soweit dem Referentenentwurf die Annahme zugrunde zu liegen scheint, dass das Musterverfahren vor allem durch die Vielzahl von Beteiligten schwerfällig sei, ist dies nur teilweise zutreffend, da die meisten Beteiligten von wenigen großen spezialisierten Kanzleien vertreten werden.

Zudem täuscht die in den Vordergrund des Gesetzesentwurfs gestellte Effizienzsteigerung des einzelnen Musterverfahrens – so sie denn überhaupt erreicht werden kann – darüber hinweg, dass die Gerichte nach dem neuen Modell weiterhin mit massenhaften Individualklagen überzogen werden können, die selbst im Falle ihrer – dann nicht mehr zwingenden – Aussetzung nicht unmittelbar von der Bindungswirkung des Musterentscheids profitieren. Je weniger Anleger aber in das Musterverfahren und dessen Bindungswirkung einbezogen werden, desto eher wird parallel und im Nachgang zum Musterverfahren weiter prozessiert, was insgesamt sogar eine stärkere Belastung der Justiz mit sich bringen würde (ebenso: Retsch/Sustmann, FAZ vom 24. Januar 2023).