#29/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur Praxisumfrage der  länderoffenen Arbeitsgruppe „Massenverfahren im Arbeitsrecht effizient gestalten und Rechtsschutzdefizite beseitigen“

Hier: Erweiterte Aussetzungsmöglichkeiten bei Parallelverfahren

 

Bevor zu den in der Praxisbefragung aufgeworfenen Fragen im Einzelnen Stellung genommen wird, soll eine kurze Bestandsaufnahme zu den Massenverfahren in der arbeitsgerichtlichen Praxis erfolgen.

Zwar liegen statistisch belastbare Zahlen zu arbeitsgerichtlichen Massenverfahren nicht vor. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, können Verfahren mit einem vergleichbaren Streitgegenstand aber auch vor den Arbeitsgerichten im dreistelligen Bereich auftreten. Insgesamt bleiben sie allerdings zahlenmäßig deutlich hinter entsprechenden Konstellationen in der ordentlichen Justiz zurück.

So gab es in der jüngeren Vergangenheit eine Vielzahl von Klagen auf Nachtarbeitszuschläge (vgl. z. B. BAG, Urteil vom 10. November 2021 – 10 AZR - NZA 2022, 707). Durch eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sahen es viele Gewerkschaften als erforderlich an, ihren Mitgliedern fristwahrend zu Klagen vor den Arbeitsgerichten zu raten.

Weitere Beispiele von Massenverfahren sind die Klagen von Piloten, die sich bei einem Flugverkehrsbetrieb gegen die Verpflichtung zur Rückzahlung von Ausbildungskosten gewandt haben (Hess. LAG, Urteil vom 09. Juni 2022 - 11 Sa 1558/21 - Juris). Hier kam es auf eine Auslegung von AGB-Klauseln an, die unternehmensweit verwendet worden sind.

Ebenso kam es im Zusammenhang mit der in dem Sozialkassen-verfahrensicherungsgesetz (SokaSiG) enthaltenen Rückwirkung zu einer Vielzahl von Klagen von Arbeitgebern in den Verfahren mit der Urlaubs- und Lohnausgleichkasse im Baugewerbe, bei denen eingewandt wurde, dass die Rückwirkung unzulässig sei.

Im Zusammenhang mit einer Massenentlassung sind vor dem Landesarbeitsgericht Düsseldorf aktuell rund 200 Verfahren anhängig.

Aus der Praxis wird auch von der Problematik von Massenverfahren in der betrieblichen Altersversorgung berichtet (Diller, NZA 2022, 1105 mit eigenem Gesetzesvorschlag).

 

Zu den Fragen der JuMiKo-AG Massenverfahren:

 

1. Sollten lediglich Verfahren aus bestimmten Fallgruppen bzw. zu bestimmten Streitgegenständen überhaupt für erweiterte amtswegige Aussetzungsmöglichkeiten in Frage kommen (wie z. B. von Diller für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der betrieblichen Altersversorgung vorgeschlagen) bzw. einzelne Fallgruppen bzw. Streitgegenstände (wie z. B. Bestands-schutzverfahren) von vornherein ausgeschlossen werden?

Eine amtswegige Aussetzungsmöglichkeit wird aus arbeitsrechtlicher Sicht befürwortet. Nicht zuletzt im Hinblick auf den zunehmenden Einsatz von Legal Tech in Rechtsanwaltskanzleien, ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Massenverfahren zunehmen wird. Eine Aussetzungsmöglichkeit würde vor allem der Prozessökonomie dienen.

Eine Erweiterung der Aussetzungsmöglichkeiten erschiene auch systemkonform. Das Bundesarbeitsgericht zieht bereits jetzt § 148 ZPO analog heran, soweit eine vorgreifliche Rechtsfrage bei dem Bundesverfassungsgericht (BAG 10.09.2020 - 6 AZR 136/19 [A] - EzA § 148 ZPO 2002 Nr. 3) oder dem EuGH anhängig ist (BAG 28.07.2021 - 10 AZR 397/29 [A] - EzA § 148 ZPO 2002 Nr. 4).

Ein Ausschluss einzelner Fallgruppen bzw. einzelner Streitgegenstände von der Möglichkeit zur Aussetzung von vornherein sollte nicht stattfinden. Insbesondere bei Bestandsschutzstreitigkeiten werden die Gerichte bei der Entscheidung über eine mögliche Aussetzung jedoch den Beschleunigungsgrundsatz angemessen zu würdigen haben.

 

2. Sollten erweiterte Aussetzungsmöglichkeiten bereits erstinstanzlich oder erst in der Berufungsinstanz geschaffen werden?

Die erweiterte Aussetzungsmöglichkeit sollte bereits erstinstanzlich geschaffen werden.

 

3. Sollte eine Aussetzung nur in Betracht kommen, wenn eine Mindestzahl an Parallelverfahren rechtshängig ist und sollte eine Mindestanzahl an Verfahren vorgegeben werden, die entschieden werden müssen?

Eine erleichterte Aussetzungsmöglichkeit sollte ab einer Anzahl von 10 Parallelverfahren geschaffen werden. Die Vorgabe einer Mindestanzahl an Verfahren, die entschieden werden müssen, sollte unterbleiben.

 

4. „Entscheidungsreife“: Sollte eine Aussetzung (wie aktuell in Bestandsschutzverfahren) nur in Betracht kommen, wenn hinreichend sicher feststeht, dass die Entscheidung des Rechtsstreits allein von der im Pilotverfahren gegenständlichen Rechtsfrage abhängt? Sollte es ausreichen, dass die Entscheidung über die im Pilotverfahren gegenständliche Rechtsfrage, entscheidungserheblich ist, wenn sie in einer bestimmten Weise getroffen wird? D. h.: Muss ggf. vor einer Aussetzung Beweis erhoben werden? Muss der Rechtsstreit „ausgeschrieben“ sein?

Vorgaben zur Entscheidungsreife sollten keine gemacht werden. Das Gericht, das über eine mögliche Aussetzung zu entscheiden hat, hat alle Aspekte angemessen zu würdigen. Da gegen eine Aussetzungsentscheidung nach § 252 ZPO das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben wäre, könnten Fälle unangemessener Aussetzungen durch die Landesarbeitsgerichte korrigiert werden. Die Landesarbeitsgerichte hätten die Möglichkeit, zweifelhafte Fälle über eine zugelassene Rechtsbeschwerde nach § 574 ZPO durch das Bundesarbeitsgericht klären zu lassen.

 

5. Welche Gesichtspunkte sollten bei der Ermessensentscheidung über eine Aussetzung zwecks Führung von „Pilotverfahren“ zu berücksichtigen sein? In der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung lassen sich im Falle der analogen Anwendung des § 148 ZPO folgende (ihrerseits allerdings ausfüllungsbedürftige) Gesichtspunkte identifizieren:

a) das Beschleunigungsgebot sowie die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer (§ 9 Abs. 2 S. 2 ArbGG, § 61a Abs. 1 ArbGG, §§ 198 ff GVG),

b) der Stand der beiden Verfahren, insbesondere des vorgreiflichen Rechtsstreits und dessen voraussichtliche Dauer und damit die voraussichtliche Dauer der Aussetzung,

c) die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer (§ 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff. GVG),

d) die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen,

e) die Erfolgsaussichten der Klagepartei auch in dem nicht ausgesetzten Rechtsstreit, ob bereits ein Urteil zu ihren Gunsten ergangen ist und wie gegebenenfalls die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels zu beurteilen sind,

f) die wirtschaftliche Situation beider Parteien,

g) die Notwendigkeit für die Klagepartei, ihre Ansprüche mit Hilfe eines gerichtlichen Titels durchsetzen zu müssen und das Verhalten der Klagepartei,

h) bei Aussetzungen analog § 148 ZPO wegen EuGH-Vorlagen bzw. verfassungsgerichtlichen Verfahren: Verbreiterung der Entscheidungsbasis des EuGHs bzw. des BVerfG durch weitere Vorlagen; entsprechend im Falle von Pilotverfahren Verbreiterung der Entscheidungsbasis des Revisionsgerichts.

Gibt es weitere im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigende Kriterien, die insbesondere bei „Pilotverfahrens“-Aussetzungen erforderlich oder geeignet wären, um dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz Genüge zu tun?

Aus hiesiger Sicht sind alle aufgezählten Gesichtspunkte bei der Entscheidung über eine Aussetzung berücksichtigungsbedürftig und -fähig. Weitere Kriterien könnten sich aus der jeweiligen Fallgestaltung ergeben.