#24/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (DokHVG), BT-Drucksache 20/8096

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Die vom Deutschen Richterbund vertretene Justizpraxis steht einer Digitalisierung und damit einhergehenden Bemühungen, Verfahrensabläufe zu verbessern und zu vereinfachen, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stets müssen jedoch die bezweckten Vorteile und zu erwartende nachteilige Folgen sorgsam abgewogen werden. Diesem Abwägungsgebot wird der Gesetzesentwurf der Bundesregierung für ein Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz (DokHVG) nicht gerecht.

Denn eine Dokumentation von Strafverfahren birgt erhebliche Missbrauchsrisiken und droht den Opferschutz sowie die Wahrheitsfindung gerade in Strafprozessen wegen besonders schwerwiegenden Tatvorwürfen, wie aus den Bereichen der organisierten Kriminalität oder auch in Staatsschutzverfahren, massiv zu schwächen. In besonderer Weise gilt dies für eine audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung, die besonders tief in Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten eingreift und gegen die sich auch die eigens vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe ausgesprochen hat. Dass der Regierungsentwurf an der audiovisuellen Dokumentation in Gestalt eines Optionsmodells festhält, ist nur eine Scheinlösung, die zudem einen „Dokumentations-Flickenteppich“ in der Strafjustiz befürchten lässt.

Darüber hinaus sind unabhängig davon, in welcher Weise eine Hauptverhandlung aufgezeichnet wird, sowohl für das Erkenntnisverfahren als auch für die Revisionsinstanz erhebliche Mehrbelastungen zu erwarten. Wenn sich der Gesetzgeber zu einem derart folgenreichen Schritt entschließt, muss er auch die dafür erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stellen, will er nicht die ohnehin schon an der Grenze der Belastbarkeit arbeitende Justiz weiter schwächen.

Diesen mit einer Inhaltsdokumentation verbundenen Risiken und Erschwernissen für das Strafverfahren steht kein rechtfertigender Regelungsbedarf gegenüber. Insbesondere gibt es kein Expertenvotum für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafverfahren und keine vergleichbare und vor allem überlegene Praxis im Ausland.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Die vorgeschlagene Inhaltsdokumentation des Strafprozesses birgt erhebliche Missbrauchsrisiken und droht die Wahrheitsfindung zu erschweren sowie den Opferschutz zu gefährden

 

Der Regierungsentwurf zum DokHVG ist bemüht, die gegen den ursprünglichen Referentenentwurf vorgebrachte Kritik (vgl. Stellungnahme #2/2023 des DRB) aufzugreifen und die Gefahren einer Inhaltsdokumentation des Strafprozesses in den Blick zu nehmen. Eine angemessene Berücksichtigung der Risiken aber bleibt aus. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass der Regierungsentwurf weiter an der Bildaufzeichnung festhält und mit der Begründung, ein Verzicht auf die Möglichkeit einer zusätzlichen Bildaufzeichnung sei nicht geboten (S. 32 des Regierungsentwurfs – Reg-E), eine Art Optionsmodell schafft. Ein solches Modell aber ist nur eine Scheinlösung, die die grundlegenden Risiken der audiovisuellen Verfahrensdokumentation nicht löst und zudem einen „Dokumentations-Flickenteppich“ in der Strafjustiz befürchten lässt.

 

1. Eine Dokumentation von Strafverfahren birgt erhebliche Missbrauchsrisiken

Insbesondere im Zeitalter des Internets und omnipräsenten Sozialen Medien sind gerade Bildaufnahmen besonders wirkmächtig und Bild-Tonaufzeichnungen üben eine ganz erhebliche mediale Anziehungskraft aus. Der sich breit machende, kaum zu stillende Informationshunger sowie die Sensationslust der Nutzer sind immens. Aus einer Vielzahl von medial begleiteten Gerichtsverfahren ist bekannt, dass Bestandteile der Ermittlungsakte an die Öffentlichkeit gelangt sind. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, Tonträger oder Videos könnten nicht den Weg in das Internet oder die Medien finden, realitätsfern. Die vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Expertinnen und Experten haben diese Gefahren gesehen. In dem zusammenfassenden Bericht heißt es dazu: „Ein vollkommener Schutz der Dokumentation ist nicht möglich. Daher ist es unter dem Gesichtspunkt des Verbreitungsschutzes besonders wichtig, Aufzeichnungen möglichst persönlichkeitsrechtsschonend zu gestalten und auf das für das Verfahren nötige Maß zu begrenzen.“ (Expertenbericht, S. 87)

Als Musterbeispiel für die medialen Wirkmechanismen dient die Veröffentlichung von Inhalten aus dem Verfahren gegen Stephan E., der vom 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Lübcke schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die im Ermittlungsverfahren durchgeführten Vernehmungen von Stephan E. waren gemäß § 136 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO aufgezeichnet und noch vor Ende der Hauptverhandlung Dritten zugänglich gemacht worden. Eine Sendung aus dem Jugendangebot von ARD und ZDF veröffentlichte in der Folge ein noch heute abrufbares Video, das einzelne Ausschnitte dieser Vernehmungen zeigte. Damit ist Stephan E. durch eine staatlich angeordnete Ermittlungsmaßnahme nicht nur für die Gerichtsöffentlichkeit, sondern für jeden Interessierten im heimischen Wohnzimmer erlebbar geworden und mit ihm auch sein Opfer, dessen Tötung er geschildert hat. Die im Vergleich zu den Schutzvorkehrungen im Referentenentwurf deutlich engere Regelung des § 58a Abs. 2 Satz 1 StPO hat in diesem Fall keine ausreichende Schutzwirkung entfalten können.

Gerade in medienrelevanten Staatsschutzsachen ist es keine Seltenheit, dass Akteninhalte den Weg in die Öffentlichkeit finden. Dieser Befund wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass mittlerweile die vollständigen Ermittlungsakten im NSU-Komplex im Internet veröffentlicht sind.

 

2. Eine optionale audiovisuelle Dokumentation ist nur eine Scheinlösung

Im Lichte des Verbreitungsanreizes insbesondere von Bild-Tonaufzeichnungen stellt der Verzicht auf eine Pflicht zur audiovisuellen Dokumentation zu Gunsten einer fakultativen Bildaufzeichnung nur eine Scheinlösung dar.

a) Aufzeichnungspflicht und -option wirken im konkreten Einzelfall gleich

Dies gilt aus Sicht der Verfahrensbeteiligten und insbesondere von Opferzeugen bereits deshalb, weil es im konkreten Einzelfall völlig bedeutungslos ist, ob ihre Aussage lediglich aufgrund der in § 19 Abs. 1 EGStPO-E eingeräumten Option audiovisuell aufgezeichnet wird oder aber aufgrund einer bundesweit einheitlichen gesetzlichen Verpflichtung, wie sie im ursprünglichen Referentenentwurf vorgesehen war. Denn die Wirkung der Bild-Tonaufzeichnung sowie ihre Konsequenzen und Risiken sind völlig unabhängig von der Frage ihrer verpflichtenden oder lediglich optionalen Anwendung im Einzelfall.

b) Der Grundrechtseingriff einer fakultativen Bild-Tonaufzeichnung ist nicht gerechtfertigt

Auch der einzelne Grundrechtseingriff ist losgelöst von der Frage eines Optionsmodells gegeben. Betroffen ist das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort sowie das Verfügungsrecht über Darstellungen der eigenen Person umfasst. Eine Videodokumentation berührt das allgemeine Persönlichkeitsrecht ganz erheblich, weil neben dem Wortlaut des Bekundeten die Persönlichkeit und mitunter auch die Intimsphäre offenbart werden.

In erster Linie für Aussagepersonen dürften die mit einer Videodokumentation einhergehenden Belastungen schwer wiegen. Opfer sexueller Gewalt z. B. müssen im Rahmen ihrer Aussage regelmäßig sehr persönliche Angaben machen und tiefe Einblicke in ihre Intimsphäre gewähren. Gerade solche Zeugen, die sich zudem vielfach einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ausgesetzt sehen, drohen durch laufende Kameras zusätzlich belastet zu werden und zwar auch dann, wenn im Ermittlungsverfahren bereits eine videodokumentierte Vernehmung stattgefunden hat.

Besondere Belastungen durch eine Videodokumentation der Hauptverhandlung sind auch in Bezug auf den Angeklagten denkbar. Der Prozessauftakt und die Urteilsverkündung etwa stellen für Angeklagte psychische Ausnahmesituationen dar. Nicht selten reagieren sie körperlich stark auf die Verlesung der Anklageschrift, einzelne Zeugenaussagen und den Urteilsspruch. Ungeachtet dessen beeinträchtigt eine Videodokumentation der Einlassung eines Angeklagten – ganz besonders in Fällen schwerer Gewaltstraftaten oder in Fällen sexueller Gewalt zum Nachteil von Kindern – den Anspruch des Angeklagten auf Achtung der Unschuldsvermutung sowie seine spätere Resozialisierung. Die Verbreitung von Videoaufzeichnungen der vorbezeichneten Art könnte zu einer Prangerwirkung ungeahnten Ausmaßes für den Angeklagten führen.

Ferner dürfen in diesem Zusammenhang die Persönlichkeitsrechte der professionellen Verfahrensbeteiligten nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte nicht im gleichen Maße Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre genießen wie von dem Verfahren betroffene Privatpersonen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit der Regelung in § 169 S. 2 GVG grundsätzliche Ausführungen zu der Eingriffstiefe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten im Falle von Videoaufzeichnungen im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung sowie deren Verbreitung gemacht und die damit verbundenen Folgen anschaulich skizziert (Bundesverfassungsgericht, NJW 2001, S. 1633 (1636)): „In Gerichtsverfahren gewinnt der Persönlichkeitsschutz eine über den allgemein in der Rechtsordnung anerkannten Schutzbedarf hinausgehende Bedeutung. Dies gilt nicht nur, aber mit besonderer Intensität für den Schutz der Angeklagten und Zeugen im Strafverfahren, die sich unfreiwillig der emotional nicht selten angespannten Situation der Verhandlung und damit auch der Öffentlichkeit stellen müssen. Informationen werden mit Hilfe staatlicher Gerichte und gegebenenfalls auch unter Zwang erhoben. Werden sie in Ton und Bild fixiert und dadurch von der flüchtigen Wahrnehmung der im Gerichtssaal Anwesenden gelöst und werden die Aufnahmen insgesamt oder in Teilen in den Kontext einer Fernsehsendung gebracht, so wird der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht verstärkt. Die Verbreitung der Aufnahmen kann abgelöst von dem Verfahren erhebliche Folgen bewirken, etwa auf Grund der Prangerwirkung der öffentlichen Darstellung des Verhaltens vor Gericht oder wegen der nachhaltigen Erinnerung eines großen Teils der Öffentlichkeit an das Verfahren, die beispielsweise eine spätere Resozialisierung erschweren können (vgl. BVerfGE 35, 202 [219 ff., 226 ff.] = NJW 1973, 1226). Auch besteht ein hohes Risiko der Veränderung des Aussagegehalts, wenn die Aufnahmen geschnitten oder sonst wie bearbeitet, mit anderen zusammengestellt oder gar später in anderen inhaltlichen Zusammenhängen wiederverwendet werden. Der Abwehr solcher Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (zu ihm vgl. BVerfGE 65, 1= NJW 1984, 419) dient der generelle Ausschluss von Aufnahmen und deren Verbreitung.“

Der Grundrechtseingriff auch einer optionalen Bild-Tonaufzeichnung vor allem in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entbehrt einer verfassungsrechtlichen Legitimation. Ein solcher Eingriff kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn er geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Insbesondere an der Erforderlichkeit bestehen aber erhebliche Zweifel. Denn das mit der Gesetzesänderung bezweckte Ziel, eine Inhaltsdokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen zu ermöglichen, kann in gleicher Weise durch eine rein akustische Aufzeichnung erreicht werden. Die zusätzlich vorgesehene Videoaufzeichnung erbringt demgegenüber keinen relevanten Mehrwert, hat aber einen deutlich tieferen Grundrechtseingriff zur Folge (so auch Expertenbericht, S. 16, 24, 55).

Zu der gebotenen Abwägung zwischen gesteigertem Risiko für Persönlichkeitsrechte (Expertenbericht, S. 95) und den Vorteilen einer audiovisuellen Aufzeichnung schweigt der Regierungsentwurf. Zur Begründung der Aufzeichnung in Ton und Bild heißt es lediglich, es sei nicht zu erwarten, dass sich Aussagebereitschaft und -verhalten von Zeuginnen und Zeugen allein aufgrund einer Bildaufzeichnung entscheidend ändern (Reg-E, S. 32). Diese Begründung aber wird dem Grundrechtseingriff, der mit einer Aufzeichnung in Bild und Ton verbunden ist, nicht gerecht.

c) Eine audiovisuelle Hauptverhandlungsdokumentation schwächt den Opferschutz

Darüber hinaus läuft eine Bild-Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung dem Gedanken des Opferschutzes gerade auch in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zuwider. Es wäre verheerend, wenn besonders schutzwürdige Opfer sexueller Gewalt mit der Verbreitung ihrer in öffentlicher Hauptverhandlung getätigten Aussagen in den sozialen Medien rechnen müssten und auf diese Weise an das Licht einer breiten Öffentlichkeit gezerrt würden. Solche Verfahren – es handelt sich regelmäßig um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – sind von intensiven und mitunter konfrontativen Befragungen durch Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Kindheit, Persönlichkeit und sämtlichen intimsten Vorgängen geprägt. Ohnehin traumatisierten Opferzeugen droht eine Reviktimisierung, wenn der Inhalt einer Zeugenaussage noch lange nach Abschluss des Verfahrens im Internet abrufbar ist.

Letztlich bringt der Regierungsentwurf auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt einen gravierenden Rückschritt in Sachen Opferschutz mit sich: Ein Zeuge kann nach geltender Rechtslage der Überlassung einer Aufzeichnung seiner Bild-Ton-Vernehmung an den Verteidiger widersprechen (§ 58a Abs. 3 StPO). Ein solches Recht steht dem Zeugen für die audiovisuelle Dokumentation seiner Aussage in der Hauptverhandlung nicht zu, ohne dass dieser Widerspruch in der Begründung des Gesetzesentwurfs thematisiert würde. Auch insoweit wird deutlich, dass das DokHVG dem mit einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung verbundenen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten nicht angemessen Rechnung trägt.

d) Es droht ein „Dokumentations-Flickenteppich“

Durch eine bloße Herabstufung auf eine Art Optionsmodell (vgl. § 19 Abs. 1 EGStPO-E) wird den aufgezeigten Gefahren für das Strafverfahren insgesamt nicht ausreichend Rechnung getragen. Wenngleich durch eine nur vereinzelte Einführung einer Videodokumentation quantitativ weniger Beeinträchtigungen zu besorgen sind als im Fall einer flächendeckenden Einführung, ist die Belastung qualitativ völlig unabhängig davon, ob ein Zeuge aufgrund einer Verpflichtung oder aber optional videografiert wird. Die einzig sicher zu erwartende Folge eines Optionsmodells wird sein, dass die Justiz und mit ihr die Verfahrensbeteiligten je nach Gericht unterschiedlich weitreichende Dokumentationsmodelle vorfinden werden. Bundesweit einheitliche Schutzniveaus für die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und den Opferschutz existierten bei einem solchen „Dokumentations-Flickenteppich“ nicht.

 

3. Eine Inhaltsdokumentation birgt die Gefahr eines veränderten Aussageverhaltens von Zeugen

Im Lichte dieser Missbrauchsrisiken besteht die Gefahr, dass Zeugen ihr Aussageverhalten verändern. Dies wiegt besonders schwer, weil Zeugen im Strafprozess eine ganz zentrale Bedeutung zukommt. Denn ohne sie kann eine Vielzahl von Tatvorwürfen, insbesondere in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, nicht aufgeklärt werden. Zugleich ist der Zeugenbeweis besonders sensibel, beeinflussbar und im Einzelfall veränderlich. Die Bereitschaft und Fähigkeit von Zeugen, vor Gericht frei und unbefangen auszusagen, dürfte im Einzelfall beträchtlich gemindert werden, wenn sie einkalkulieren müssen, dass sich eine spätere öffentliche Verbreitung der Aufzeichnung ihrer Aussage nicht wirksam verhindern lässt. Auf diesen Effekt hat auch der renommierte rechtspsychologische Sachverständige Prof. Dr. Köhnken in der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll hingewiesen: Es könne „zu Beklemmungen und Verängstigungen kommen, wenn ein Zeuge befürchtet, seine Aufzeichnung könnte an die Öffentlichkeit gelangen. Diese könnten sich wiederum auf die Informationsverarbeitung auswirken, d. h. darauf, wie gut man etwas aus dem Gedächtnis hervorholen könne“ (Protokoll der Unterarbeitsgruppe Prozessverhalten und Protokoll vom 3. November 2020, S. 28 f.).

In bemerkenswerter Deutlichkeit äußerte sich auch der Regierungsentwurf zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 22. Januar 2021 in seiner Begründung zum Einfluss belastender äußerer Umstände auf die Aussagebereitschaft und Unbefangenheit von Zeugen (BR-Drucksache 57/21, S. 60): „Zeugen sind wesentliche Beweismittel im Strafverfahren, deren Angaben zur Ermittlung der Wahrheit regelmäßig von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die Wahrheitsermittlung wird nicht zuletzt auch dadurch gefördert, dass dem Zeugen eine angstfreie Aussage ermöglicht wird, bei der er seine Wahrnehmungen unverfälschter mitteilen kann (Bundestagsdrucksache 16/12098, S. 10). In öffentlicher Hauptverhandlung mit Zuschauern unter anderem aus dem Lager des Angeklagten kann die Mitteilung der vollständigen Anschrift in Anwesenheit dieser weiteren Personen bei Zeugen Hemmungen auslösen, den Angeklagten belastende Umstände unbefangen vollumfänglich darzustellen, und gegebenenfalls auch die Bereitschaft erhöhen, sich möglicherweise eher auf Erinnerungslücken zu berufen. Eine für den Zeugen vergleichbar belastende Situation kann bei seiner richterlichen Vernehmung bestehen, soweit der Beschuldigte von seinem Anwesenheitsrecht (§ 168c Absatz 2 Satz 1 StPO) Gebrauch macht. Auch hier können Zeugen in ihrer Aussagebereitschaft gehemmt werden, wenn sie Bedenken haben müssen, dass anwesende Beschuldigte sich die Zeugenanschrift merken, an Dritte weitergeben oder über das Internet publik machen könnten.“

Es liegt auf der Hand, dass die Veröffentlichung der vollständigen Videodokumentation einer Aussage via Internet eine wesentlich nachhaltigere Wirkung auf die Aussagebereitschaft und Unbefangenheit eines Zeugen haben wird, als die bloße Angabe der vollständigen Anschrift des Zeugen in der Hauptverhandlung oder eine richterliche Vernehmung in Anwesenheit des Beschuldigten. Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, dass die geplante Inhaltsdokumentation geeignet ist, die Wahrheitsfindung im Strafprozess im Einzelfall zu beeinträchtigen.

Besonders deutlich stellt sich dieses Problem im Bereich der organisierten Kriminalität oder in Staatsschutzverfahren vor den Oberlandesgerichten. In solchen Verfahren werden regelmäßig Zeugen zu Sachverhalten vernommen, die eine noch aktive kriminelle oder terroristische Vereinigung zum Gegenstand haben. Nicht selten müssen diese Zeugen befürchten, dass sie selbst, Familienmitglieder oder Freunde bedroht oder nach ihrer Vernehmung für den Inhalt ihrer Aussage zur Rechenschaft gezogen werden. Zeugen in derlei Gefährdungslagen sind in der Praxis bereits gegenwärtig nur eingeschränkt bereit, sich vernehmen zu lassen und zeigen regelmäßig ein großes Interesse zu erfahren, wer von dem Inhalt ihrer Bekundungen in welchem Umfang Kenntnis erlangt. Weiß ein Zeuge um die Verbreitung seiner Aussage in Bild und Ton und der damit einhergehenden Gefahr ihrer Veröffentlichung, wird die berechtigte Sorge um das eigene Wohl ganz erheblich gesteigert.

In völkerstrafrechtlichen Verfahren wird die Bedrohungslage für Zeugen noch dadurch verschärft, dass in diesen Fällen ein Staat betroffen sein kann, der über Vollzugsorgane verfügt und unter Umständen Zugriff auf Familienangehörige eines in Deutschland vernommenen Zeugen hat. Lediglich beispielhaft sei auf ein vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main anhängiges Strafverfahren verwiesen, in welchem dem Angeklagten vorgeworfen wird, als Arzt an Folterungen im Auftrag des syrischen Regimes beteiligt gewesen zu sein. Zeugen, die vor dem Oberlandesgericht aussagten, haben mitgeteilt, entweder selbst von Kräften des Regimes bedroht worden zu sein oder sich um noch in Syrien lebende Verwandten und Freunde zu sorgen. Zudem ist es zu mehreren Gefährdungslagen für diese Zeugen und in Syrien verbliebene Angehörige gekommen (vgl. Julia Jüttner in DER SPIEGEL Nr. 27 / 1. Juli 2023 – „Was geschah in Klinik Nr. 608“).

Zeugen, die solchen Gefährdungslagen ausgesetzt sind, sind ohnehin kaum bereit, sich vernehmen zu lassen. Sie fragen regelmäßig danach, wem der Inhalt ihrer Angaben in welcher Weise zugänglich gemacht wird. Sollte man diesen Zeugen zukünftig mitteilen müssen, dass ihre Aussagen in Bild und Ton aufgezeichnet und zudem transkribiert werden, ist zu befürchten, dass sie überhaupt nicht mehr aussagebereit sind oder behaupten, nichts Wesentliches wahrgenommen zu haben. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich zahlreiche Zeugen in völkerstrafrechtlichen Verfahren im Ausland befinden und zum Erscheinen vor einem deutschen Gericht ohnehin nicht verpflichtet sind; es ist zu befürchten, dass sie bei audiovisueller Aufzeichnung der Hauptverhandlung von einer Aussage abgeschreckt werden.

 

II. Verfahrensrechtliche Schutzmaßnahmen und strafrechtlicher Verbreitungsschutz greifen zu kurz

 

Diesen Gefahren für die Wahrheitsfindung wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenngleich anzuerkennen ist, dass der Regierungsentwurf gegenüber dem ursprünglichen Referentenentwurf in größerem Maße bemüht ist, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

 

1. Ein Absehen von der Dokumentation nur in Fällen des Ausschlusses der Öffentlichkeit greift zu kurz

So sieht der Regierungsentwurf vor, dass das Gericht von der Aufzeichnung und deren Transkription absehen kann, solange die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit wegen einer Gefährdung der Staatssicherheit (§ 172 Nr. 1 GVG) oder einer Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person (§ 172 Nr. 1a GVG) vorliegen. Die systematische Verknüpfung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht birgt jedoch erhebliche Anwendungsrisiken, die den verfahrensrechtlichen Schutz vor einer Dokumentation schwächen.

Denn die in § 169 GVG festgeschriebene Öffentlichkeitsmaxime im Strafverfahren ist revisionsrechtlich durch die Vorschrift in § 338 Nr. 6 StPO geschützt, die in der Regel eine Urteilsaufhebung anordnet, wenn die Öffentlichkeit unzulässig beschränkt worden ist. Dies führt dazu, dass der Beschluss, von der Aufzeichnung und deren Transkription abzusehen, zwar für sich genommen nicht angefochten werden kann (§ 273 Abs. 2 a.E. StPO-E). Entscheidend aber ist, dass der zwingend damit verknüpfte Öffentlichkeitsausschluss einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Eine Koppelung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht kann daher in der praktischen Anwendung zu einer zu hohen Anwendungsschwelle führen. Es steht zu befürchten, dass Gerichte zu zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch machen werden, im Einzelfall von der Dokumentation der Beweisaufnahme abzusehen, um den Bestand des Urteils insgesamt nicht zu gefährden. Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, den revisionssicheren Abschluss eines umfangreichen Strafverfahrens, wie er in Bereichen des Staatsschutzes oder auch der organisierten Kriminalität üblich ist, durch einen Öffentlichkeitsausschluss zu gefährden.

Überdies ist die Koppelung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht bereits dem Grunde nach nicht überzeugend. Denn die z. B. von einer Zeugenaussage ausgehende Gefahr ist nicht ohne weiteres bereits dadurch begründet, dass der Zeuge einmalig (und damit flüchtig) öffentlich aussagt. Vielmehr kann sie ausschließlich darin begründet sein, dass der vollständige Inhalt seiner Aussage über die Gerichtsöffentlichkeit hinaus beliebig weit verbreitet und beliebig oft von Dritten wahrgenommen werden kann. Der Bundesrat hat dazu in seiner Stellungnahme vom 7. Juli 2023 zutreffend ausgeführt: „Die digitale Dokumentation einer Aussage und die damit verbundene Möglichkeit der Reproduktion, wiederholten Anhörbarkeit und unbefugten Verbreitung berühren unabhängig von der Dokumentationsform in ganz erheblichem Maße Aspekte des Opferschutzes.“ Zeugen werden sich daher auch unterhalb der Gefährdungsschwelle in § 172 Nr. 1 und 1a GVG einer Art Kontrollverlust über ihre Angaben ausgesetzt sehen, der Einfluss auf ihre Bereitschaft haben kann, wahrheitsgemäß Angaben zu machen.

 

2. Der (nachgebesserte) strafrechtliche Verbreitungsschutz reicht weiterhin nicht aus

Auch der (nachgebesserte) strafrechtliche Verbreitungsschutz reicht nicht aus, um Verbreitung und unbefugte Weitergabe von Aufzeichnungen wirksam zu verhindern. § 353d StGB Nr. 4 StGB-E ist aus mehreren Gründen nicht geeignet, der medialen Anziehungskraft gerade von Bild-Tonaufzeichnungen wirksam entgegenzutreten.

Denn abgesehen davon, dass eine abstrakte Strafandrohung ihre konkrete Wirkung zu spät, nämlich erst nach erfolgter Weitergabe der Aufzeichnung und damit einhergehender Zeugengefährdung entfaltet, würde sie in der praktischen Anwendung vielfach leerlaufen. An den Vorgängen der Aufzeichnung, Übertragung, Übermittlung und Überlassung der Dokumentation der Hauptverhandlung werden unweigerlich eine Vielzahl von Personen beteiligt sein. Für einige der damit befassten Personen könnten die (geldwerten) Vorteile, die mit einer rechtswidrigen Weitergabe der Aufzeichnungen erzielt werden können, im Hinblick auf die geringe Strafbewehrung des § 353d StGB-E einen erheblichen Anreiz darstellen, der das bestehende Sanktionsrisiko zurücktreten lässt.

Darüber hinaus dürfte die Strafdrohung, soweit es die Weitergabe von Aufzeichnungen an die Medien betrifft, schon deshalb wenig effektiv sein, weil Journalisten gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Sätze 2 und 3 StPO hinsichtlich der Person des Einsenders von Unterlagen für redaktionell aufbereitete Informations- und Kommunikationsdienste ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. So ist zu befürchten, dass Aufzeichnungen und/oder Transkripte in redaktionell bearbeitete Veröffentlichungen eingebracht und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die Person, die sich gemäß § 353d Nr. 4 StGB-E strafbar gemacht hat, dann aber wegen des Zeugnisverweigerungsrechts der beteiligten Journalisten nicht zu ermitteln ist. Das Risiko, wegen einer Weitergabe von Aufzeichnung und/oder Transkript an einen Journalisten bestraft zu werden, ist deshalb äußerst gering.

Gleiches gilt hinsichtlich der gemäß § 273b Abs. 3 StPO-E untersagten Weitergabe von Aufzeichnungen durch Verteidiger und Rechtsanwälte an ihre Mandanten. Denn eine Tathandlung im Sinne von § 353d Nr. 4 Buchst. a StGB-E dürfte nur vorliegen, wenn der Rechtsanwalt bei der Weitergabe weiß oder damit rechnet, dass die Bild-Tonaufzeichnung im Anschluss einer größeren, nicht mehr kontrollierbaren Zahl von Personen zugänglich gemacht wird (vergleiche Bundesgerichtshof, Beschluss vom 4. August 2009, 3 StR 174/09). Dies wird sich auch mit Blick auf das Mandatsgeheimnis kaum jemals beweisen lassen. Für eine Strafbarkeit nach § 353d Nr. 4 Buchst. b StGB-E wiederum wäre wohl zu verlangen, dass der Rechtsanwalt die fort näher umschriebene Gefahrenprognose in seinen Vorsatz aufgenommen hat. Eine Beihilfestrafbarkeit schließlich wird regelmäßig am Vorsatz bezüglich der Haupttat oder der Beweisbarkeit desselben scheitern, so dass ein Verstoß gegen das Weitergabeverbot letztlich sanktionslos bleiben dürfte.

Auch in Fällen staatlich gesteuerter Kriminalität (z. B. Völkerstraftaten von Angehörigen des syrischen Regimes oder auch der sogenannte Tiergartenmord) wird der Weg von Aufzeichnungen, die zur Einschüchterung von Zeugen genutzt werden, kaum je zu ermitteln sein, so dass der strafrechtliche Weitergabeschutz praktisch nicht wirksam sein wird.

Anzumerken ist zudem, dass auch der Regierungsentwurf mit der Ergänzung von § 353d StGB, der einen Strafrahmen von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vorsieht, deutlich hinter der im Expertenbericht vorgeschlagenen Sanktion in Form einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und einer Versuchsstrafbarkeit (Expertenbericht, S. 116) zurückbleibt und daher nur ein geringes Abschreckungspotential bietet.

 

III. Eine Dokumentation der Hauptverhandlung führt zu erheblichen Mehrbelastungen der Justiz

 

Eine Dokumentation der strafgerichtlichen Verhandlung führt zu erheblichen Mehrbelastungen in der Justiz, die auch der Regierungsentwurf nicht hinreichend in den Blick nimmt.

 

1. Zu erwartende Mehrbelastungen im Erkenntnisverfahren werden nicht ausreichend berücksichtigt

Die mit dem Referentenentwurf beabsichtigte Inhaltsdokumentation der Hauptverhandlung lässt in der bisherigen Form eine erhebliche Mehrbelastung der Tatgerichte und damit eine Beeinträchtigung der Strafrechtspflege befürchten.

a) Erforderliche Regelungen zu Vorhalten in der Hauptverhandlung fehlen

So lässt auch der Regierungsentwurf den Umgang mit der Dokumentation bei Vorhalten ungeregelt. Bisher konnten Vorhalte oder Anträge, in denen angegeben wurde, ein Zeuge habe innerhalb der Verhandlung etwas (nicht) ausgesagt, mit dem Einwand zurückgewiesen werden, es erfolge keine Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme. Das dürfte mit der Neuregelung – die sich zu dieser Frage nicht verhält – hinfällig sein. Es ist daher mit Streit über (nicht) Stattgefundenes zu rechnen, was bei Verteidigungen, die auf den Erfolg in der Revision abzielen, mutmaßlich extensiv genutzt werden wird. Mit erheblichen Verfahrensverzögerungen (Antrag der Verteidigung auf Vorhalt von Teilen der Dokumentation, Entscheidung des Vorsitzenden, hiergegen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO sowie schließlich Entscheidung des Gerichts und gegebenenfalls Nachhören von Teilen der Dokumentation) ist zu rechnen. Ob und mit welchem Argument die wiederholte – vollständige – Inaugenscheinnahme bereits durchgeführter Vernehmungen verhindert werden kann, ist derzeit nicht erkennbar.

Überdies sind Vorhalte durch Vorspielen der eigenen Aussage oder der früher vernommenen Aussagepersonen geeignet, Zeugen in der Hauptverhandlung erheblich zu verunsichern. Auch dies könnte von Verfahrensbeteiligten bewusst genutzt werden, um eine Sachaufklärung und einen zügigen Abschluss des Hauptverfahrens zu erschweren.

b) Es sind Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren zu erwarten

Darüber hinaus enthält auch der Regierungsentwurf keine ausreichenden Regelungen, Verfahrensverzögerungen im Zusammenhang mit der Inhaltsdokumentation auszuschließen. So lässt die Existenz von Aufzeichnung und Transkript von vorangegangenen Verhandlungstagen, die gemäß § 273 Abs. 6 StPO-E nach jedem Verhandlungstag der Staatsanwaltschaft, den Verteidigern und den anwaltlichen Vertretern der Verletzten zugänglich gemacht worden sind, erwarten, dass Verfahrensbeteiligte vor der Einvernahme weiterer Zeugen oder auch vor dem Schlussvortrag beantragen, die Aufzeichnung oder aber auch das Transkript der Inhaltsdokumentation zu erhalten, um sich angemessen vorbereiten zu können.

Ferner steht zu befürchten, dass Verteidiger gerade bei umfangreichen Vernehmungen darauf bestehen, zunächst die vollständige Aufzeichnung der bisherigen Aussage vom Zeugen zu erhalten, bevor Vorhalte gemacht werden, der Entlassung des Zeugen zugestimmt oder eine Erklärung nach § 257 StPO abgegeben wird. Ein solches Vorgehen wäre geeignet, den Abschluss von Zeugenvernehmungen oder auch der Beweisaufnahme insgesamt erheblich zu verzögern. Zudem könnte sich dies auch auf die Revision auswirken, z. B. im Hinblick auf die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung gemäß § 338 Nr. 8 StPO. Auch hierzu verhält sich der bisherige Regelungsentwurf nicht.

Offen bleibt auch, wie im Falle von Straftatgeflechten verfahren werden soll, in denen sich Zeugen und Mitangeklagte bereits in anderen Hauptverhandlungen geäußert haben. Auch insoweit stellt sich die Frage, ob Aufzeichnungen aus anderen Hauptverhandlungen einzuführen sind. Gleiches gilt, wenn ein Urteil in der Revision mit den tatsächlichen Feststellungen aufgehoben und zurückverwiesen wurde.

c) § 273b Abs. 2 StPO-E bindet erhebliche Ressourcen

Hinzu kommt, dass die gemäß § 273b Abs. 2 StPO-E vorgesehene Befugnis, dass Verletzte und in § 403 Satz 2 genannte Personen die Aufzeichnung nach jedem Verhandlungstag unverzüglich in Diensträumen unter Aufsicht einsehen zu können, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen und Ressourcen binden dürfte. Es ist schlichtweg praxisfern, nach einem mehrstündigen Verhandlungstag eine vollständige Akteneinsicht in die digitale Dokumentation zu ermöglichen. Der Rechtsanspruch auf Einsichtnahme am gleichen Tag könnte dazu führen, dass an einem Sitzungstag mit acht Stunden Verhandlungsdauer für insgesamt 16 Stunden oder mehr Geschäftsstellenkräfte und Eingangskontrollen vorgehalten werden müssten. Neben nicht vorhandenen personellen Ressourcen fehlt es im Übrigen vielfach an Räumlichkeiten, um eine solche beaufsichtigte Inaugenscheinnahme zu ermöglichen.

d) Eine eintretende Arbeitserleichterung als Folge der Dokumentation wird überschätzt

Auch der Regierungsentwurf folgt dem ausdrücklich formulierten Leitgedanken, dass den Verfahrensbeteiligten bislang keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zur Verfügung stehe und sie sich als Gedächtnisstütze jeweils eigene Notizen zum Inhalt der Hauptverhandlung, etwa der Aussage einer Zeugin oder eines Zeugen, machen müssten (Regierungsentwurf, S. 1). Die Annahme, eine Mitschrift durch die Verfahrensbeteiligten würde im Falle einer Inhaltsdokumentation entbehrlich, geht jedoch an den Erfahrungen der Praxis vorbei.

Denn die absolute Mehrzahl von Zeugen wird an lediglich einem Hauptverhandlungstag vernommen. In einem solchen Regelfall aber sind Gericht, Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und auch die Verteidigung auch künftig zwingend auf eigene Mitschriften angewiesen, um diesem Zeugen Vorhalte machen und Rückfragen stellen zu können. Ein hiervon abweichendes Procedere – etwa die Einsichtnahme in die Aufzeichnung am Ende des jeweiligen Verhandlungstages zum Zwecke der Vorbereitung der eigenen Vernehmung, verbunden mit der Ladung des Zeugen für den nächsten Verhandlungstag – würde dem Beschleunigungsgrundsatz zuwiderlaufen. Dem aber kommt gerade in Haftsachen, wie sie regelmäßig vor den Land- und Oberlandesgerichten verhandelt werden, besondere Bedeutung zu.

Darüber hinaus würde die audiovisuelle Aufzeichnung (einschließlich Sprechpausen von Zeugen, Nebengeräuschen etc.) dieselbe Dauer wie die vielfach mehrtägige Hauptverhandlung haben. In der Praxis wird es für den Spruchkörper mangels zeitlicher Ressourcen schlichtweg nicht möglich sein, sich die gesamte Aufzeichnung vor der Schlussberatung noch einmal anzuschauen bzw. anzuhören oder aber das (fehlerbehaftete) Transkript in Gänze durchzuarbeiten.

Auch vor diesem Hintergrund wird es weiterhin erforderlich sein, die Ergebnisse der Beweisaufnahme und den Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne von § 261 StPO durch eigene Mitschriften festzuhalten, um auf dieser Grundlage eine Überzeugungsbildung zu ermöglichen. Das Gericht wird daher auch im Falle einer audiovisuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung mitschreiben müssen. Dasselbe gilt für die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und auch die Verteidigung.

Diese Annahme wird durch die oben geschilderten Erfahrungen aus Spanien mit der Aufzeichnung in Bild und Ton bestätigt (Expertenbericht – Anlagenband –, S. 136).

 

2. Den zu erwartenden personellen Auswirkungen auf Revisionsgerichte und Staatsanwaltschaften wird weiterhin nicht hinreichend Rechnung getragen.

Der Deutsche Richterbund begrüßt es, dass der Regierungsentwurf – wie in der Stellungnahme Nr. 2/23 gefordert – nunmehr klarstellt, dass einerseits Verfahrensrügen, die sich auf einen Eingriff des Revisionsgerichts in Wertungs- und Beurteilungsspielräume des Tatgerichts richten, unzulässig sind (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO-E) und andererseits, dass ein Beweismittel einen Verfahrensfehler nur begründen kann, wenn dieser ohne weiteres erkennbar und ausgeschlossen ist, dass weitere Beweiserhebungen ihm maßgebliche Bedeutung für die Beweiswürdigung genommen haben können (§ 352 Abs. 3 StPO-E).

Allerdings hat der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme Nr. 2/23 darauf hingewiesen, dass sich auch durch eine solche Klarstellung – unabhängig davon, ob es sich um eine Video- oder eine Audioaufzeichnung handelt – eine erhebliche Mehrbelastung der Revisionsinstanz durch einen Anstieg umfangreicher Verfahrensrügen auf der Grundlage von § 261 StPO nicht verhindern lässt. Insbesondere ist im Falle einer Hauptverhandlungsdokumentation ein erheblicher Anstieg von Verfahrensrügen auf der Grundlage von § 261 StPO – denkbar als sog. Inbegriffs-, Differenz- oder Auslassungsrügen (vgl. dazu umfassend LR/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 253 ff.) – mit dem Ziel zu erwarten, über den Umweg des § 261 StPO die Beweiswürdigung des Tatgerichts anzugreifen (Expertenbericht, S. 66; Mosbacher, ZRP 2021, S. 180 (181); BT-Drucksache 15/1976, S. 12 f.; vgl. auch Ref-E, S. 10). Da die Beweiswürdigung notwendigerweise eine Reduktion von Komplexität ist, wird der Revisionsführer anhand der Aufzeichnung häufig der Auffassung sein, die gerichtliche Beweiswürdigung sei lückenhaft oder schöpfe den „Inbegriff der Verhandlung“ nicht aus, weil gerade eine aus seiner Sicht evident wichtige Angabe des Angeklagten oder eines Zeugen nicht erörtert worden sei (Erhard, ZRP 2023, S. 12 (14)).

Darüber hinaus wird sich – begünstigt durch die technisch ohne weiteres mögliche Übernahme des Transkripts – auch der Umfang der Verfahrensrügen nach § 261 StPO erhöhen. Das ist nach dem geltenden Revisionsrecht geradezu zwingend; danach setzt etwa eine Inbegriffsrüge, soll sie ordnungsgemäß ausgeführt sein, regelmäßig Vortrag dazu voraus, eine bestimmte Tatsache sei weder durch die Einlassung des Angeklagten noch durch ein Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt worden (vgl. LK/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 265; KK/Tiemann, StPO, 9. Aufl., § 261 Rn. 200). Bei Vorhandensein einer Inhaltsdokumentation erscheint dies wiederum kaum ohne deren teils vollständige und richtige Wiedergabe im Rahmen der Revisionsbegründung möglich. Jedenfalls wird die Verteidigung dies schon aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht tun müssen.

Hierdurch werden die Revisionsgerichte zwar nicht zu einer Einsichtnahme in die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung und deren Berücksichtigung selbst verpflichtet, indessen nicht selten zu einer zumindest mittelbaren Lektüre und Bewertung der häufig umfangreichen Transkription der Dokumentation im Rahmen von Revisionsbegründungen (Gittermann, DRiZ 2023, S. 70 (71)). Beides hätte eine erhebliche Mehrbelastung der Revisionsinstanz zur Folge und ginge mit erheblicher Mehrarbeit des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, aber auch der Staatsanwaltschaften in den Ländern einher. Denn diese haben gemäß § 347 Abs. 1 S. 3 StPO eine Gegenerklärung abzugeben und müssen hierzu die Tatsachen, auf diesich die Verfahrensrügen erstrecken, erschöpfend darstellen (vgl. Nr. 162 Abs. 2 RiStBV). Dies wird angesichts der auf unabsehbare Zeit bestehenden Fehleranfälligkeit des Transkripts dazu führen, dass Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu einem zeitaufwändigen Abgleich zwischen (Bild-) Tonaufzeichnung und Transkript im Revisionsverfahren gezwungen sein werden, um z. B. die Vollständigkeit des Sachvortrags (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO) zu einer fehlerhaft gewürdigten Zeugenaussage zu überprüfen. Den damit verbundenen personellen Belastungen der Justiz trägt der Regierungsentwurf nicht ansatzweise Rechnung, indem lediglich von einem „nicht bezifferbaren Erfüllungsaufwand für mögliche zusätzliche Personalbelastungen“ in diesem Bereich die Rede ist (Reg-E S. 4).

 

IV. Die vom BMJ eingesetzte Expertinnen- und Expertengruppe hat sich gegen eine Bild-Tonaufzeichnung ausgesprochen

 

Darüber hinaus hat sich die vom Bundesministerium der Justiz eigens eingesetzte Expertinnen- und Expertengruppe, auf die sich auch der Regierungsentwurf in wesentlichen Teilen stützt (Regierungsentwurf, S. 15). ausdrücklich gegen eine Bild-Ton-Aufzeichnung ausgesprochen. Die Unterarbeitsgruppe „Prozessverhalten und Protokoll“ gelangt zu dem Schluss, dass die Tonaufzeichnung verbunden mit einer Transkription der Bild-Tonaufzeichnung nicht nachstehe, aber deren Risiken und Nachteile vermeide (Expertenbericht, S. 24).

Zu Auswirkungen auf die Aussagebereitschaft von Angeklagten und Zeugen führt die Unterarbeitsgruppe aus, dass von einer reinen Tonaufnahme erheblich geringere Auswirkungen auf die Bereitschaft zur (wahrheitsgemäßen) Aussage zu erwarten seien. Auch stelle sie einen erheblich geringeren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar (Expertenbericht, S. 27). Eine audiovisuelle Aufzeichnung dürfte nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand ferner nicht dazu geeignet sein, auf ihrer Grundlage eine verlässliche Glaubhaftigkeits- und Glaubwürdigkeitsbeurteilung vorzunehmen (Expertenbericht, S. 27). Würde sich der Gesetzgeber für eine Aufzeichnung von Hauptverhandlungen entscheiden, könnte dies die Wahrheitsfindung in der Tatsacheninstanz (mittelbar) verbessern. In der Gesamtschau werde der Abwägung zwischen der (mittelbaren) Verbesserung der Wahrheitsfindung in der Tatsacheninstanz auf der einen und dem Beschleunigungsgrundsatz sowie dem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten auf der anderen Seite eine Aufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung mittels eines durch Transkription einer Tonaufzeichnung erstellten Protokolls am besten gerecht (Expertenbericht, S. 48 f.). Gegenüber einem Wortprotokoll, dass auf der Transkription einer Tonaufzeichnung beruhe, vermag die Verfügbarkeit einer Video- oder Audioaufzeichnung nach wissenschaftlichem Stand in der Rechtspsychologie allenfalls in geringem Umfang die Wahrheitsfindung zu fördern. Forschungsergebnisse sprächen zudem dafür, dass das über eine Videoaufzeichnung wahrnehmbare Begleitverhalten für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung allenfalls von geringer Relevanz sei. Die Videoaufzeichnung sei daher wegen ihrer weitergehenden Auswirkung auf die Persönlichkeitsrechte als unverhältnismäßig abzulehnen (Expertenbericht, S. 50).

Weiter heißt es in dem Bericht der Unterarbeitsgruppe (Expertenbericht, S. 54 f.): „Es bleibt mithin festzustellen, dass gegen eine obligatorische Aufzeichnung strafgerichtlicher Hauptverhandlungen gewichtige Argumente streiten, die den Gesetzgeber in der Vergangenheit durchaus sachlich begründet zu einer entsprechenden Zurückhaltung motiviert haben und denen in einer zukünftigen Regelung Rechnung getragen werden müsste. Möchte man trotz der erheblichen Bedenken, die hiergegen nicht nur die Justizpraxis hat, sondern noch 2004 auch der Gesetzgeber hatte, dem Gedanken einer Dokumentation der Hauptverhandlung vor den Land- und Oberlandesgerichten nähertreten, so sollte eine Tonaufzeichnung eingeführt werden. Eine zusätzliche visuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung verschafft gegenüber einer reinen Audioaufzeichnung keinen rechtlichen oder tatsächlichen Mehrwert und ist mit einem zusätzlichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten sowie erheblichen Kosten verbunden. Insbesondere ist eine Videoaufzeichnung für eine hinreichend verlässliche Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ungeeignet.“

Eine Auseinandersetzung mit diesem mahnenden Votum der Expertinnen und Experten ist dem Regierungsentwurf zum DokHVG nicht zu entnehmen.

 

V. Es besteht kein Regelungsbedarf und keine Dokumentationspraxis in Europa

 

Schließlich unterstellt der Entwurf des DokHVG einen Regelungsbedarf, den es in dieser Form nicht gibt.

 

1. Es besteht kein Regelungsbedarf

Die Begründung zum DokHVG identifiziert als Problemstellung, dass derzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zur Verfügung stehe. Die Verfahrensbeteiligten müssten sich eigene Notizen als Gedächtnisstütze machen und könnten sich daher nicht immer vollumfänglich auf das Geschehen der Hauptverhandlung konzentrieren. Zudem könnten Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung entstehen (Regierungsentwurf, S. 1). Abhilfe schaffe eine digitale Inhaltsdokumentation, deren Hauptfunktion darin bestehe, den Verfahrensbeteiligten ein verlässliches, objektives und einheitliches Hilfsmittel für die Aufbereitung des Hauptverhandlungsgeschehens zur Verfügung zu stellen.

In der weiteren Begründung beruft sich der Regierungsentwurf ausdrücklich auf die Ergebnisse der im Herbst 2019 eingesetzten Expertinnen- und Expertengruppe, die er wie folgt zusammenfasst: „Nach den Ergebnissen der Expertinnen- und Expertengruppe steht fest, dass die Einführung einer technischen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sowohl rechtlich als auch technisch-organisatorisch möglich ist und erhebliche Chancen für eine noch bessere Wahrheitsfindung im Strafverfahren bietet.“ (Reg-E, S. 11).

a) Kein Expertenvotum für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafverfahren

Diese Deutung bedarf jedoch schon im Ausgangspunkt einer klarstellenden Einordnung: Der – zwischen den Expertinnen und Experten nicht abschließend abgestimmte, sondern aus den Berichten der Unterarbeitsgruppen seitens des Bundesministeriums der Justiz zusammengefasste – Bericht schlägt die Einführung einer digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung gerade nicht vor. Vielmehr heißt es darin als eine Art Fazit: „Eine technische Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung bietet für den Fall ihrer Einführung nach den in den Unterarbeitsgruppen gefundenen Ergebnissen Chancen, mit ihr sind aber auch Risiken verbunden. Die Notwendigkeit der Einführung einer technischen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung wird von den Mitgliedern der Expertinnen- und Expertengruppe allerdings unterschiedlich beurteilt.“ (Expertenbericht, S. 15)

Insoweit haben sich die Fachleute gerade nicht für einen derart folgenschweren Eingriff in das Strafverfahren ausgesprochen.

b) Keine empirisch belegten Defizite

Weitere Argumente, die geeignet wären, die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Regelungen zu belegen, enthält der Gesetzesentwurf nicht. Zwar unterstellt die Entwurfsbegründung nicht, dass die Gerichte in der Vergangenheit bei ihrer Überzeugungsbildung Inhalte von Zeugenaussagen zugrunde gelegt hätten, welche von den tatsächlichen Angaben in der Hauptverhandlung abgewichen wären. Andererseits aber werden auch keine Fälle aus der Praxis benannt, die als Referenzbeispiele für die Notwendigkeit einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung dienen könnten, insbesondere keine empirischen Belege für eine Diskrepanz zwischen Urteilsfeststellungen und Zeugenaussagen im Strafprozess.

 

2. Es besteht keine vergleichbare und vor allem keine überlegene Praxis im Ausland

Ferner verweist der Regierungsentwurf darauf, dass die Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung in Bild und Ton oder nur Ton in verschiedenen anderen europäischen Staaten inzwischen gängige Praxis sei (Reg-E, S. 14).

Dabei bleibt jedoch außer Acht, dass dort andere Justizsysteme installiert sind, die der klaren Trennung zwischen Tatsacheninstanz und Rechtsüberprüfung durch das Revisionsgericht im deutschen Strafprozessrecht nicht entsprechen. Die im Expertenbericht zutage geförderten Erkenntnisse zu diesen Unterschieden und den im Ausland gemachten (auch negativen) Erfahrungen lässt der Referentenentwurf unberücksichtigt; sie sollen in der Folge lediglich beispielhaft hervorgehoben werden.

So sind in Schweden im dreigliedrigen Instanzenzug alle Folgeinstanzen Tatsacheninstanzen. Die Videoaufzeichnung dient hier der Vermeidung von wiederholten Vernehmungen (vorrangig) zu Beweiszwecken in den Folgeinstanzen (vgl. Expertenbericht – Anlagenband – S. 137 mwN). Beim Internationalen Strafgerichtshof dient die audiovisuelle Aufzeichnung allein der Herstellung von Öffentlichkeit; nicht hingegen der Dokumentation der Hauptverhandlung, etwa als Grundlage für Urteilsberatungen oder zur Vorbereitung der Revision. Für die Dokumentation der Hauptverhandlung ist allein das verschriftete Wortprotokoll vorgesehen (vgl. Expertenbericht – Anlagenband – S. 133 mwN).

Eine spanische Kollegin schilderte im Rahmen eines Berichts für die Expertinnen- und Expertengruppe, dass Richter und Staatsanwälte sich über die Arbeit mit den Videoprotokollen beklagten, da dadurch ihre Arbeit verlangsamt würde. Stattdessen sei die Forderung nach einer schriftlichen Transkription erhoben worden. Eine automatisierte Transkription als bloßes Hilfsmittel – nicht als Dokumentationsersatz – werde vom Justizministerium gegenwärtig in zwei Bezirken pilotiert. Zudem würden Richter in Spanien trotz der audiovisuellen Aufzeichnung weiterhin den Inhalt der Hauptverhandlung selbst mitschreiben. Die spanische Kollegin berichtete, auch sie selbst fertige gewissermaßen ein eigenes Protokoll, zumal sie dadurch ihre Entscheidungen viel schneller absetzen könne (vgl. zu alledem Expertenbericht – Anlagenband – S. 136). Damit wird zwei verbreiteten Thesen der Boden entzogen: zum einen machen Videoaufzeichnungen das Fertigen eigener Mitschriften nicht entbehrlich, zum anderen dürfte die Urteilsabsetzung in längeren Verfahren durch die Aufzeichnung nicht beschleunigt werden.

Dem Expertenbericht lässt sich darüber hinaus entnehmen, „dass der Weg hin zu einem reinen Videoprotokoll in den USA bereits früh beschritten wurde, (…) seine ausschließliche Nutzung bis heute allerdings die seltene Ausnahme“ geblieben ist (Expertenbericht – Anlagenband – S. 138). Videoaufzeichnungen würden – sofern sie denn erstellt werden – zumeist in ein schriftliches Wortprotokoll übertragen. Videoprotokoll bzw. videobasierte Protokollerstellung sind ausweislich des Expertenberichts bis heute nicht gängige Praxis, obwohl in den USA bereits vor mehreren Jahrzehnten die rechtlichen Grundlagen hierfür geschaffen worden seien (Expertenbericht – Anlagenband – S. 139).

Diese Beispiele zeigen, dass die Dokumentation strafgerichtlicher Hauptverhandlungen in anderen Staaten durch Aufzeichnung in Bild und Ton oder nur in Ton für sich genommen kein belastbares und vor allem kein qualitativ aussagekräftiges Argument für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafprozess darstellt. Die Verfahrensordnungen der anderen europäischen Länder und des ICC unterscheiden sich von der StPO teilweise erheblich, insbesondere hinsichtlich der Ausgestaltungen des Unmittelbarkeitsprinzips und der Möglichkeiten zum Schutz der Zeugen etwa durch Anonymisierungen (vgl. etwa die „protective measures“ nach Rule 87 der rules of procedure and evidence des ICC) sowie der Strenge des Öffentlichkeitsprinzips („closed sessions“ des ICC). Es gilt die Besonderheiten des deutschen Strafprozessrechts ebenso in den Blick zu nehmen wie etwaige negative Erfahrungen in anderen Rechtsordnungen.

 

VI. Fazit

 

Als Fazit ist daher zum vorgelegten Regierungsentwurf eines Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes festzuhalten:

 

- Die vorgeschlagene Inhaltsdokumentation des Strafprozesses birgt erhebliche Missbrauchsrisiken und droht die Wahrheitsfindung zu erschweren sowie den Opferschutz zu gefährden. Gerade in besonders schwerwiegenden Deliktsbereichen, wie organisierter Kriminalität, in Staatsschutzverfahren oder auch in Strafverfahren wegen sexueller Gewalt ist zu befürchten, dass Tatopfer und -zeugen aus Sorge, ihre Aussage könnte den Gerichtssaal verlassen, davor zurückschrecken, vollständig und wahrheitsgemäß auszusagen.

- Dies gilt insbesondere für eine optionale audiovisuelle Dokumentation. Diese stellt nur eine Scheinlösung dar und erbringt keinen relevanten Mehrwert für die Praxis. Stattdessen hat sie einen nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriff zu Folge und führt zu einem „Dokumentations-Flickenteppich“. Auch die vom BMJ eingesetzte Expertinnen- und Expertengruppe hat sich ausdrücklich gegen eine Bild-Tonaufzeichnung ausgesprochen.

- Die vorgeschlagenen verfahrensrechtlichen Schutzmaßnahmen greifen zu kurz. Eine Koppelung von Öffentlichkeitsausschluss und Dokumentationsverzicht führt aufgrund des absoluten Revisionsgrundes in § 338 Nr. 6 StPO zu einer zu hohen Anwendungsschwelle.

- Auch der (nachgebesserte) strafrechtliche Verbreitungsschutz ist unzureichend und praktisch nicht wirksam.

- Eine Dokumentation der Hauptverhandlung führt zu erheblichen Mehrbelastungen der Justiz. Insbesondere sind Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren zu erwarten, es werden Ressourcen gebunden und eintretende Arbeitserleichterungen werden überschätzt. Auch den zu erwartenden personellen Auswirkungen auf Revisionsgerichte und Staatsanwaltschaften trägt der Regierungsentwurf nicht hinreichend Rechnung.

- Es gibt kein Expertenvotum für eine Inhaltsdokumentation im deutschen Strafverfahren und keine vergleichbare und vor allem überlegene Praxis im Ausland.