#22/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates und des Europäischen Parlaments über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Schutzmaßnahmen und die Zusammenarbeit im Bereich des Schutzes von Erwachsenen und zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung der Mitgliedstaaten, Vertragspartei des Haager Übereinkommens vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen zu werden oder zu bleiben

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund begrüßt die Stärkung der europäischen Zusammenarbeit im Bereich des Erwachsenenschutzes. Es ist sicherlich hilfreich, wenn alle Mitgliedstaaten auf einer einheitlichen Grundlage zusammenarbeiten. Für die Rechtspraxis in Deutschland wird sich durch die Verordnung für die wichtigen Fragen der internationalen Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts nichts ändern.

Angesichts der geringen Anzahl von grenzüberschreitenden Sachverhalten im Bereich des Schutzes für Erwachsene mit Einschränkungen im Verhältnis zur großen Gesamtzahl von Betreuungsfällen insgesamt, erscheint fraglich, ob es des anspruchsvoll ausgestalteten europäischen Vertretungszertifikats bedarf oder nicht auch eine (bisher kaum nachgefragte) Bescheinigung nach Art. 38 ErwSÜ ausreicht.

Hinsichtlich der vorgesehenen Schutzregister wird ein ganz erheblicher Erfüllungsaufwand für die Gerichtspraxis darin gesehen, dass eine Vielzahl von Daten in die Register eingepflegt und laufend aktualisiert werden müssten. Angesichts des angesprochenen Verhältnisses zwischen nur wenigen Fällen mit Auslandsbezug und der enormen Gesamtzahl der Betreuungen würde das einen übermäßigen Aufwand bedeuten.

Schließlich entsprechen sowohl die Ausgestaltung des Zertifikats vornehmlich als Erleichterung für den Vertreter als auch das Schutzregister nur eingeschränkt dem Bild eines im Sinne der
UN-Behindertenrechtskonvention ausgestalteten Betreuungsrechts, das die Unterstützung des Erwachsenen bei eigenen Entscheidungen in den Vordergrund stellt und jegliche Diskriminierung vermeiden soll.

Ausreichend dürften daher insoweit Schulungen der mit internationalen Betreuungssachen befassten Kolleginnen und Kollegen sein, um die auch nach dem ErwSÜ bestehenden Möglichkeiten einsetzen zu können. Zudem könnte geprüft werden, ob insbesondere die Suche nach vermissten Personen im Ausland erleichtert werden kann.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

Artikel 5 sieht vor, dass sich – vorbehaltlich einer Zuständigkeitswahl durch den Betroffenen (Artikel 6) – die Zuständigkeit nach Kapitel II des ErwSÜ richtet. Zu begrüßen ist, dass die Zuständigkeit gemäß Artikel 7 nicht ausschließlich ist und deshalb insbesondere Behörden nicht hindert, zum Schutz des Betroffenen zu handeln.

Das auf den grenzüberschreitenden Schutz Erwachsener anzuwendende Recht bestimmt sich gemäß Artikel 8 ebenfalls nach dem ErwSÜ.

Maßnahmen von Behörden anderer Mitgliedstaaten bedürfen gemäß Artikel 9 keiner Anerkennung in einem besonderen Verfahren und sind gemäß Artikel 11 ohne Vollstreckbarerklärung vollstreckbar (Abschaffung des Exequaturverfahrens).

Gemäß Kapitel VI Abschnitt 1 ist von den Mitgliedstaaten eine Zentrale Behörde zu bestimmen, die die Zusammenarbeit organisiert, koordiniert und die Akteure informiert und unterstützt.

Mit dem geplanten in Kapitel VII beschriebenen europäischen Vertretungszertifikat soll nachgewiesen werden können, dass der Vertreter aufgrund einer Maßnahme oder einer bestätigten Vertretungsmacht befugt ist, den Erwachsenen insbesondere in einer oder mehreren der folgenden Angelegenheiten zu vertreten:

a) Kontrolle und Verwaltung der Immobilien oder anderen Vermögenswerte des Erwachsenen sowie Verfügung darüber,

b) Erwerb von Immobilien oder anderen Vermögenswerten im Namen oder im Interesse des Erwachsenen,

c) Erfüllung eines von dem Erwachsenen geschlossenen Vertrags,

d) Weiterführung einer Handels- oder Geschäftstätigkeit im Interesse des Erwachsenen,

e) Wahrnehmung der Pflichten und rechtlichen Obliegenheiten des Erwachsenen,

f) Führung von Gerichtsprozessen im Namen oder im Interesse des Erwachsenen,

g) medizinische Entscheidungen, einschließlich der Erteilung und Verweigerung der Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung,

h) Entscheidungen über das persönliche Wohl und den Aufenthaltsort des Erwachsenen.

Die in diesem Katalog aufgeführten Angelegenheiten stimmen mit den in Deutschland üblichen Aufgabenbereichen für Betreuungen verständlicherweise nicht überein. Da die Gerichte bei der Ausstellung der Zertifikate aber gemäß Artikel 38 überprüfen müssten,

a) ob der Antragsteller berechtigt ist, das Zertifikat gemäß den Befugnissen, die ihm aufgrund der in dem Mitgliedstaat der ausstellenden Behörde getroffenen Maßnahme oder bestätigten Vertretungsmacht (im Folgenden „ursprüngliche Maßnahme“ oder „ursprüngliche bestätigte Vertretungsmacht“) übertragen wurden, zu beantragen,

b) ob die in dem Zertifikat zu bestätigenden Sachverhalte mit der ursprünglichen Maßnahme oder der ursprünglichen bestätigten Vertretungsmacht übereinstimmen,

c) ob die ursprüngliche Maßnahme oder bestätigte Vertretungsmacht noch gültig ist und nicht durch eine spätere Maßnahme oder bestätigte Vertretungsmacht ersetzt wurde,

müsste - ggf. nach weiteren Ermittlungen - letztlich eine Entscheidung von einer qualifizierten Person getroffen werden. Denn die dargestellten Fragestellungen erfordern gerade im Hinblick auf die verschiedenen Rechtsordnungen vertiefte Kenntnisse, die von den Geschäftsstellen der Gerichte nicht verlangt werden können. Das Ausfüllen des
16-seitigen Formulars (Anlage III) wird einen ganz erheblichen Aufwand darstellen, bei dem Fragestellungen zu beantworten sind, die für den Vertreter zu einem Großteil nicht von Belang sein werden. Eine individuelle Bescheinigung, wie sie bereits gemäß Artikel 38 ErwSÜ ausgestellt werden kann, erscheint daher weitaus effizienter.

Gemäß Artikel 45 wären Schutzregister einzurichten, in denen Informationen über Schutzmaßnahmen und wohl auch die Beglaubigung von Vorsorgevollmachten aufzunehmen wären.

Obligatorische Angaben wären dann die Angabe, dass eine Maßnahme getroffen wurde oder gegebenenfalls eine Vertretungsmacht erteilt oder bestätigt wurde, das Datum der ersten Maßnahme sowie anschließender Maßnahmen oder gegebenenfalls das Datum, an dem die Vertretungsmacht von einem Erwachsenen erteilt oder von einer zuständigen Behörde bestätigt wurde, das Datum, an dem eine Frist für die Anfechtung der Maßnahme oder Entscheidung über die Vertretungsmacht endet, sofern eine Maßnahme oder Entscheidung über eine Vertretungsmacht vorläufig anwendbar ist, gegebenenfalls das Datum des Ablaufs oder der Überprüfung der Maßnahmen oder Vertretungsmachten, die zuständige Behörde, die die Maßnahme ergriffen, geändert oder beendet oder die Vertretungsmacht registriert, bestätigt, geändert oder beendet hat sowie schließlich Name, Geburtsort und -datum des Erwachsenen und gegebenenfalls nationale Identifikationsnummer. Sinnvoll wäre dann auch von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Namen und Erreichbarkeit des Betreuers oder Bevollmächtigten gemäß Artikel 45 Abs. 4 einzutragen.

Auch für dieses für Einzelfälle hilfreiche Register gilt, dass es nicht nur einen ganz erheblichen Aufwand bedeuten würde, es einzurichten, sondern die Justiz in unverhältnismäßig großem Umfang belasten würde, weil für die Pflege des Registers viel Zeit nötig wäre. Die Vielzahl der einzutragenden Daten und – mehr noch – die Häufigkeit der notwendigen Änderungen würde einen ganz erheblichen zusätzlichen Aufwand bedeuten. Diesen könnte man nur dann rechtfertigen, wenn das Register tatsächlich auch regelmäßig in dem eingerichteten Umfang benötigt würde, was indes nicht zu erwarten ist. Zudem wird allein die bundesweite Registrierung und europaweite Abrufbarkeit der Daten von vielen Betroffenen als belastend, wenn nicht sogar als stigmatisierend empfunden werden.

 

Zusammenfassung:

Auch wenn die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit im Erwachsenenschutz uneingeschränkt begrüßt wird, erscheinen das europäische Vertretungszertifikat und insbesondere die Schutzregister als unverhältnismäßig.