Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 26.5.2023 (BR-Drs. 228/23)
Der Deutsche Richterbund unterstützt die Intention des Gesetzentwurfs, die Durchführung von Videoverhandlungen im Sinne einer modernen, bürgerfreundlichen und effizienten Justizgewährung zu fördern. Videoverhandlungen werden sich in geeigneten Fällen durchsetzen und im gerichtlichen Alltag selbstverständlich werden, wenn alle am Verfahren beteiligten Akteure – einschließlich des Gerichts – sie als ideale Lösung ansehen. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Richterinnen und Richter bewertet – trotz der vielerorten noch bestehenden erheblichen Schwierigkeiten sowohl in technischer Hinsicht als auch in Bezug auf die personelle Ausstattung – die digitale Verfahrensbearbeitung positiv und möchte die neuen Möglichkeiten nicht mehr missen. Vielerorts fehlt jedoch noch eine ausreichende technische Ausstattung und – besonders gravierend – das notwendige IT-Fachpersonal. Das Hauptproblem ist daher nicht, dass die Richterschaft sich einer digitalen Verfahrensführung verweigern würde, sondern, dass die digitale Verfahrensführung derzeit oftmals wegen technischer Schwierigkeiten und unzureichender Performanz mühsam und zeitraubend ist.
1. Oberstes Ziel muss daher sein, die technischen und personellen Rahmenbedingungen schnell so zu verbessern, dass eine Videoverhandlung in geeigneten Fällen allen Beteiligten als ideale Lösung erscheint. Dann wird sie sich im Sinne einer modernen, bürgernahen und effizienten Justizgewährung in geeigneten Fällen schnell durchsetzen.
2. Es bedarf demgegenüber keiner polarisierenden Regelungen, die einer effizienten und beschleunigten Verfahrensführung schaden. Die beste virtuelle Verfahrensführung ist diejenige, die möglichst im Konsens zwischen allen am Verfahren beteiligten Akteuren geschieht – einschließlich des Gerichts. Der Deutsche Richterbund begrüßt daher, dass der Gesetzentwurf keine Beschwerde gegen ablehnende Entscheidungen während des laufenden Verfahrens mehr vorsieht. Zu begrüßen ist ebenfalls, dass in Bezug auf Beweisaufnahmen und auf die Aufzeichnung von Zeugenaussagen keine Soll-Vorschrift mehr vorgesehen ist (vgl. zur Kritik an diesen noch im Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen im Einzelnen die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 1/23). Der Gesetzentwurf nimmt damit Anregungen des Deutschen Richterbundes in der genannten Stellungnahme auf.
3. Für die Anordnung einer Videoverhandlung ohne Beweisaufnahme sieht der Gesetzentwurf bei übereinstimmendem Parteiantrag aber weiterhin eine Soll-Vorschrift vor. Der Deutsche Richterbund lehnt dies ab und schlägt stattdessen folgende Regelung vor:
„Der Vorsitzende kann auf Antrag oder von Amts wegen in geeigneten Fällen die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für einen, mehrere oder sämtliche Verfahrensbeteiligte anordnen. Die Ablehnung eines Antrags hat das Gericht zu begründen.“
Denn auch bei mündlichen Verhandlungen ohne Beweisaufnahme sind nicht alle Verfahren gleichermaßen für eine Videoverhandlung geeignet. Auch hier müssen Chancen und Risiken einer fortschreitenden Digitalisierung des gerichtlichen Verfahrens sorgsam gegeneinander abgewogen werden. Um die Vorteile der digitalen Verfahrensführung voll ausschöpfen zu können, muss sich die Durchführung von Videoverhandlungen auf dafür geeignete Verfahren konzentrieren. Warum die Gerichte nicht in der Lage sein sollen, dies in möglichst konsensualem Zusammenwirken mit den übrigen Verfahrensbeteiligten in eigener Verantwortung zu beurteilen, erschließt sich nicht und wird in dem Gesetzentwurf auch nicht näher begründet. Der Entwurf traut den zuständigen Gerichten offenbar nicht zu, aufgrund eigenen Entschlusses die zu erledigenden Verfahren unter Nutzung der bereits jetzt weitreichenden Möglichkeiten des § 128a ZPO sachgerecht und effizient zu gestalten. Die geplanten Regelungen offenbaren ein grundlegendes und unangemessenes Misstrauen gegen eine sachgerechte gerichtliche Verfahrensleitung, der durch eine Verlagerung der Verantwortung für die Entscheidung über eine wesentliche Verfahrenshandlung (nämlich die Form der Durchführung der mündlichen Verhandlung) auf die Prozessparteien Ausdruck verliehen wird. Dies wird der Stellung der unabhängigen Justiz im gewaltengeteilten Rechtsstaat nicht gerecht. Es darf auch bezweifelt werden, dass dies der breiten Akzeptanz einer zunehmend digitalen Verfahrensführung dient.
Der Bundesrat weist in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf zu Recht darauf hin, dass die mündliche Verhandlung das Herzstück eines jeden Gerichtsprozesses ist und ihrer Gestaltung daher eine herausragende Bedeutung zukommt, nicht nur im Hinblick auf die Außenwirkung der Gerichte, sondern gerade auch zur Erreichung des Ziels eines jeden Gerichtsverfahrens, nämlich der Wahrheitsfindung im Rahmen der jeweiligen Verfahrensordnung; das Gericht müsse in seiner Entscheidung für oder gegen eine Verhandlung per Videokonferenz frei bleiben, die richterliche Verfahrensgestaltung sei kein Bestandteil der Dispositionsbefugnis der Parteien (BR-Drs. 228/23 <Beschluss>, S. 1f).
Die Verfahrensleitung ist von jeher originäre Aufgabe des Gerichts, das hierfür auch die Verantwortung trägt. Auch weiterhin muss es Aufgabe des jeweiligen Spruchkörpers bleiben zu beurteilen, ob der konkrete Einzelfall für die Durchführung einer Videoverhandlung geeignet ist. Etwa bei der Erörterung reiner Rechtsfragen oder zur weiteren Verfahrensgestaltung kann es durchaus zielführend und zur Vermeidung unnötiger Anreisen auch erstrebenswert sein, per Videokonferenztechnik zu verhandeln. Oft kommt es jedoch darauf an, sich mit allen Sinnen einen Eindruck zu verschaffen, um feine Nuancen und Zwischentöne wahrnehmen sowie jederzeit reagieren und interagieren zu können. Das Gericht kann die Verantwortung für die Entscheidung nur dann in vollem Umfang übernehmen, wenn es dem Verfahren den von ihm für notwendig gehaltenen Rahmen gibt. Dies gilt nicht nur für Beweisaufnahmen, sondern auch für die Erörterung des Verfahrensstoffs mit den Parteien. Auch hier wird oftmals intensiv um mögliche Lösungen und Aspekte auch außerhalb des Rechtlichen mit großer persönlicher Betroffenheit gerungen. Die Erfahrungen zeigen, dass auch im digitalen Zeitalter oftmals die größte Bürgernähe und Transparenz des Rechtsprechungsvorgangs gerade in einer mündlichen Verhandlung in Präsenz aller Beteiligten erzeugt wird. Die Abwägung, ob die mündliche Verhandlung zweckmäßigerweise in Präsenz oder in einem Video-Format durchzuführen ist, muss der Einschätzung des Gerichts überlassen bleiben. Es wäre ein unzulässiger Eingriff in die Prozessleitung des Gerichts, wenn es gerade in dieser Frage der Disposition der Parteien unterworfen würde. Ein massiver Autoritätsverlust richterlichen Agierens wäre die Folge. Die ZPO in ihrer bisherigen Fassung hat mit guten Gründen davon abgesehen, richterliche Prozessleitungsmaßnahmen – außerhalb solchen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten – einem eigenständigen Rechtsmittel zu unterwerfen.
4. Der Deutsche Richterbund steht der Möglichkeit einer vollvirtuellen Verhandlung, bei der sich nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern auch die Mitglieder des Gerichts außerhalb des Gerichtsgebäudes aufhalten, aufgeschlossen gegenüber. Damit eine vollvirtuelle Verhandlung im Wege einer Länderöffnungsklausel – wie nunmehr vom Gesetzentwurf vorgesehen – tatsächlich erprobt werden kann, müssen natürlich die technischen Rahmenbedingungen hierfür geschaffen werden. Bedenken bestehen dabei weiterhin dagegen, dass nach dem Gesetzentwurf lediglich eine Bild- und Tonübertragung in Richtung des öffentlich zugänglichen Raums im Gericht, aber ausdrücklich keine zwingende – bidirektionale – Übertragung von dort an die Aufenthaltsorte des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten stattfinden soll. Dass sich die oder der Vorsitzende (telefonisch?) bei einer Aufsichtsperson vor Ort erkundigen soll, ob die Übertragung funktioniert und die Öffentlichkeit gewahrt ist, erscheint wenig praxistauglich. Und auch den Parteien dürfte es nicht zumutbar sein, die Verhandlung in einen „uneinsehbaren“ Raum zu übertragen, ohne dass diese davon Kenntnis nehmen können, wer von dort die Sitzung unbemerkt verfolgt.