Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts
A. Tenor der Stellungnahme
Das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) ist ohne Zweifel eine wichtige Errungenschaft der internationalen Gemeinschaft. Ob in Ruanda, Syrien oder der Ukraine: Das Völkerstrafrecht gibt den Opfern von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen die Möglichkeit, erlittenes schwerstes Unrecht vor Gericht sowie in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen. Und das VStGB ist auch eine Erfolgsgeschichte der Deutschen Justiz, die in der Vergangenheit immer wieder eine Vorreiterrolle bei der Aufklärung und Verfolgung entsprechender Straftaten eingenommen hat.
Im Lichte nicht enden wollender kriegerischer Auseinandersetzungen ist es daher dem Grunde nach zu begrüßen, etwaige Strafbarkeitslücken im VStGB schließen, die Beteiligungsrechte von Opfern schwerster Straftaten nach dem VStGB im Strafverfahren stärken und die Breitenwirkung völkerstrafrechtlicher Prozesse verbessern zu wollen. Die vorgeschlagenen Regelungen aber reichen in Teilen zu weit. Denn insbesondere die Erweiterung der Nebenklagebefugnis droht, zumal verbunden mit einer Ausweitung des Anspruchs auf Beiordnung eines Rechtsanwalts, die Justiz zu überfordern. Im Ergebnis könnte daher eine gut gemeinte Stärkung von Opferrechten zu einer Schwächung der Justiz führen. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein starker Opferschutz nur durch eine starke Justiz gewährleistet werden kann.
Gleiches gilt für die vorgesehenen Tonaufzeichnungen oder Bild-Ton-Aufzeichnungen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken, die, wie auch schon die geplante digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (siehe hierzu die Stellungnahme 9/23 des DRB) die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu beeinträchtigen und den Opferschutz massiv zu schwächen droht.
B. Bewertung im Einzelnen
I. Die Ausweitung der Nebenklagebefugnis und des Anspruchs auf voraussetzungslose Beiordnung eines Rechtsanwalts drohen die Justiz zu überfordern.
Die Rechte der Opfer von Völkerrechtsverbrechen durch eine Erweiterung der Nebenklagebefugnis (§ 395 Abs. 2a und 4a StPO-E) und Ausweitung des Anspruchs auf Beiordnung eines Rechtsanwalts als Beistand zu stärken (§ 397 Abs. 1 Nrn. 2 und 6 StPO-E), sind ein zentrales und dem Grunde nach begrüßenswertes Ziel des Referentenentwurfs. Gerade bei den zum Teil abstrakten Tatvorwürfen des Völkerstrafrechts ist es wichtig, den Taten durch die Einbeziehung von Opfern in den Prozess ein individuelles Gesicht zu geben. Die vorgeschlagenen Regelungen aber drohen zu einer im Einzelfall unüberschaubaren Anzahl von Nebenklägern und damit zu einer vorhersehbaren Mehr- oder gar Überlastung von Strafverfahren zu führen.
1. § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E soll die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger u.a. demjenigen gewähren, der durch eine rechtswidrige Tat nach den §§ 6 bis 8 und 10 bis 12 VStGB in näher aufgeführten Individualrechten verletzt wurde. Die Frage, wer Verletzter „der Tat“ ist, ist jedoch aus folgenden Gründen im Einzelfall schwer bzw. sehr weitreichend zu beantworten:
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Völkermord (§ 6 VStGB) liegt nur eine einzige materiell-rechtliche Tat vor, wenn sich die tatbestandlichen Handlungen auf eine bestimmte, etwa durch ihren Lebensraum näher konkretisierte nationale, rassische, religiöse oder ethnische (Teil-)Gruppe beziehen und die mehreren Handlungen als ein einheitlicher örtlich und zeitlich begrenzter Lebenssachverhalt erscheinen (BGHSt 45, 64 ff.). Dies könnte im Einzelfall zur Folge haben, dass sich alle Personen, die der betroffenen nationalen, rassischen, religiösen oder ethnischen Gruppe angehören und sich zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmen Gebiet aufhielten, als Nebenkläger anschließen könnten, ohne durch die einem Angeklagten konkret vorgeworfene (Einzel-)Handlung unmittelbar verletzt worden zu sein. Die Dimension einer solchen Regelung zeigt sich deutlich am Beispiel des Völkermords, den die ausländische terroristische Vereinigung „Islamischer Staat“ ab dem 2. August 2014 auf die im Sindjar-Gebiet im Norden Iraks ansässige religiöse Minderheit der Jesiden verübte und von dem ca. 300.000 Personen betroffen waren. Sie alle könnten sich einem in Deutschland geführten Strafverfahren gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 2a bzw. Nr. 4a StPO-E anschließen – auch wenn sie von den Einzelhandlungen eines Angeklagten gar nicht unmittelbar betroffen wären. Ein Verfahren mit nur einem Bruchteil dieser Zahl von Nebenklägern wäre nicht mehr durchführbar. Daran ändert auch die beabsichtigte Änderung von § 397b StPO nicht viel. Wenn der RefE auf Seite 19 meint, dass „im Schnitt bei 500 Nebenklägerinnen und Nebenklägern jeweils circa 50 Nebenklägerinnen und Nebenkläger zu einer Gruppe zusammengefasst werden“ könnten, „so dass insgesamt 10 Beistände beigeordnet werden“, verkennt er den Umfang der Betreuungsarbeit, die ein Verletztenbeistand regelmäßig zu leisten hat.
Hinzu kommt, dass die individuelle Verletzung des Nebenklägers in seinem Recht auf religiöse Selbstbestimmung (§ 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E) oder, wie von § 7 Nr. 10 VStGB erfasst, die Entziehung oder wesentliche Einschränkung von Menschenrechten aus religiösen Gründen, sehr weitreichend erscheint und im Einzelfall (wie z. B. bei der Verfolgung der Jesiden durch Anhänger des sog. Islamischen Staates) eine unübersehbare Vielzahl von Personen betreffen könnte. Ähnliches gilt für die in § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 VStGB erfasste ungestörte seelische Entwicklung des Kindes, die über § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E zur Nebenklage berechtigen soll.
2. Die praktischen Konsequenzen der Erweiterung der Nebenklagebefugnis sind insbesondere mit Blick auf den Anspruch auf Bestellung eines Beistands erheblich. Für das Ermittlungsverfahren gilt dies schon deshalb, weil eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung gemäß § 397b StPO nur für das Straf-, nicht aber schon für das Ermittlungsverfahren vorgesehen ist (vgl. § 406h Abs. 3 Nr. 1 StPO). Dies hat zur Folge, dass jeder nebenklageberechtigte Verletzte im Ermittlungsverfahren das Recht hat, sich schon vor Erhebung der öffentlichen Klage eines Rechtsanwalts als Beistand zu bedienen oder sich durch einen solchen vertreten zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass ein Ermittlungsverfahren mit zunehmender Anzahl von Verfahrensbeteiligten und entsprechenden -anträgen (z. B. Akteneinsicht, § 406e StPO) auch zunehmend aufwendig zu führen ist.
Nicht unproblematisch erscheint auch der Übergang in das strafgerichtliche Hauptverfahren, das mit § 397b die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Vertretung mehrerer Nebenkläger vorsieht. Denn diesen dürfte es im Einzelfall schwer zu vermitteln sein, weswegen gerade sie auf ihren bereits im Ermittlungsverfahren tätigen Beistand zugunsten eines gemeinschaftlichen Rechtsanwaltes verzichten sollten. Es liegt daher nahe, dass solche Entscheidungen mit der Beschwerde der Nebenkläger, deren Rechtsanwalt nicht bestellt wurde, angegriffen werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 397b Rn. 11).
3. Im Lichte der Konsequenzen für das Ermittlungs- und Strafverfahren bedarf es daher aus Sicht der Praxis eines tatsächlichen, die Risiken überwiegenden Bedürfnisses, die Nebenklagebefugnis zu erweitern. Ob ein solches angesichts regelmäßig tateinheitlich verwirklichter Verstöße gegen das StGB, die schon nach geltender Rechtslage zum Anschluss als Nebenkläger berechtigen, besteht, ist zweifelhaft.
II. Die vorgesehenen Tonaufzeichnungen oder Bild-Ton-Aufzeichnungen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken drohen, wie auch schon die geplante digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu beeinträchtigen und den Opferschutz massiv zu schwächen.
Es ist ein erklärtes und für sich genommen nachvollziehbares Ziel, die Breitenwirkung völkerstrafrechtlicher Prozesse und Urteile zu stärken und damit der Anwendung von Völkerstrafrecht weltweit Geltung zu verschaffen. Die über den Referentenentwurf hinausgehende Ankündigung, Übersetzungen wegweisender Urteile zum Völkerstrafrecht in die englische Sprache in Auftrag zu geben, damit weltweit auch die nicht-deutschsprachige Öffentlichkeit Zugang hierzu bekommt, ist daher zu begrüßen.
Die mit dem Referentenentwurf vorgesehenen Ton- oder Bild-Ton-Aufzeichnungen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken dagegen sind mit erheblichen Risiken für das Strafverfahren verbunden. Wie der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme 9/23 eingehend ausgeführt hat, droht eine Dokumentation der Hauptverhandlung – auch eine solche zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken – im Einzelfall die Wahrheitsfindung im Strafprozess zu beeinträchtigen und den Opferschutz massiv zu schwächen.
Gerade in Fällen, in denen wie bei Kriegsverbrechen des syrischen Regimes oder auch im Rahmen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Angehörige staatlicher Organe gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden sollen, müssen Zeugen oder ihre Angehörige befürchten, Opfer von Repressalien zu werden. Dass es sich dabei keineswegs nur um eine rein theoretische Möglichkeit handelt, zeigt beispielhaft ein aktuell vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main geführtes Strafverfahren gegen einen Arzt, der angeklagt ist, Gegner des Assad-Regimes in Syrien gefoltert zu haben. In diesem Strafverfahren wurde offenbar wiederholt versucht, auf Angehörige von Zeugen in Syrien einzuwirken, und die Zeugen von einer wahrheitsgemäßen Aussage abzuhalten (vgl. „Was geschah in Klinik Nr. 608“, SPIEGEL Nr. 27, S. 48 ff.)
Die ohnehin schon bestehende Gefahr der Zeugenbeeinflussung wird durch die Aufzeichnung ihrer Aussagen erwartbar zunehmen, zumal entsprechende Aufnahmen künftig mit dem Ziel gefertigt werden, über die am Strafverfahren Beteiligten hinaus und damit nahezu unkontrolliert verbreitet werden zu können. Es liegt nahe, dass gefährdete Zeugen bereits im Ermittlungsverfahren werden abwägen müssen, ob sie angesichts einer möglichen Aufzeichnung und Verbreitung ihrer Aussage wahrheitsgemäße und der Aufklärung dienliche Angaben machen. Die mit der Aufzeichnung bezweckte Fortentwicklung des VStGB könnte sich daher in der Praxis als Rückschritt erweisen.