#17/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Gesetzentwurf zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

So genannte Massenverfahren stellen nach zutreffender Bewertung des Entwurfs eine große Belastung für die betroffenen Zivilgerichte dar. Diese Überlastung wirkt sich auf die Bearbeitungsdauer aller dort anhängigen Verfahren negativ aus.

Darüber hinaus haben die Dieselverfahren gezeigt, dass die berechtigten Erwartungen der Rechtssuchenden an zeitnaher Justizgewähr in Massenverfahren oft enttäuscht werden, weil streitentscheidende Rechtsfragen höchstrichterlich erst entschieden sind, nachdem eine Vielzahl von Verfahren den vollen Instanzenzug durchlaufen haben. Rechtssicherheit tritt damit unverhältnismäßig spät ein, obwohl zahlreiche Verfahren von der Entscheidung der gleichen Fragen abhängen.

Der Deutsche Richterbund hat daher bereits im Mai 2022 ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen, um Massenverfahren bei gleichbleibender Entscheidungsqualität effizienter zu bearbeiten. Das nun vorgeschlagene Leitentscheidungsverfahren lässt hingegen die Probleme bei der Bearbeitung von Massenverfahren ungelöst und ist daher nicht geeignet, um die Zivilgerichte spürbar zu entlasten.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Ausgangspunkt

Wie der Entwurf zutreffend ausführt, stellen Massenverfahren eine große Belastung für die betroffenen Zivilgerichte dar.

Der Deutsche Richterbund hat bereits im Mai 2022 mit seiner Initiativ-Stellungnahme Nr. 1/2022 ein Bündel von Vorschlägen vorgelegt, mit denen die Zivilgerichte in die Lage versetzt werden könnten, Massenverfahren effizienter zu bearbeiten, ohne dass dies zu Lasten der anderen anhängigen Verfahren gehen würde. Auch der Antrag der Fraktion der CDU/CSU (BT-Drs. 20/5560), zu dem am 10.05.2023 eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages stattgefunden hat, führt eine Vielzahl von Maßnahmen auf, die in ihrer Gesamtheit die betroffenen Zivilgerichte erheblich entlasten würden.

Gegenüber diesen umfassenden Vorschlägen greift das hier vorgeschlagene Leitentscheidungsverfahren erheblich zu kurz. Es lässt keine spürbare Entlastung der Zivilgerichte erwarten. Davon geht offenbar bereits der Entwurf selbst aus, da es dort unter lit. F. heißt, dass infolge der neuen Aussetzungsmöglichkeit bei den Gerichten der Länder (nur) „geringfügige Entlastungen“ zu erwarten seien.

Somit bietet der Entwurf schon im Ansatz keine ausreichende Lösung der Überlastung vieler Zivilgerichte durch Massenverfahren.

 

II. Das vorgeschlagene Leitentscheidungsverfahren

1. Der Referentenentwurf sieht drei wesentliche Komponenten vor. Erstens soll gem. § 552b ZPO Ref-E der Bundesgerichtshof in die Lage versetzt werden, ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen, wenn die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Zweitens sollen die Instanzgerichte gem. § 148 Abs. 4 ZPO Ref-E solche Verfahren, deren Entscheidung von Rechtsfragen abhängt, die Gegenstand eines Leitenscheidungsverfahrens sind, bis zu dessen Erledigung mit Zustimmung der Parteien aussetzen können. Und drittens soll der Bundesgerichtshof gem. § 565 ZPO Ref-E in die Lage versetzt werden, eine Leitentscheidung durch Beschluss auch dann zu treffen, wenn das Leitentscheidungsverfahren ohne ein mit inhaltlichen Gründen versehenes Urteil beendet wurde.

2. Lediglich der letztgenannte Punkt ist zu begrüßen, da der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht so auch dann eine für eine Vielzahl anderer Verfahren maßgebliche Leitentscheidung treffen kann, wenn das Revisionsverfahren anders, also insbesondere durch Revisionsrücknahme, beendet wurde. Die „Flucht in die Revisionsrücknahme“ zur Vermeidung einer für den Revisionsführer ungünstigen höchstrichterlichen Entscheidung wird so vermieden.

3. Anders als bei dem in der rechtspolitischen Diskussion vorgeschlagenen Vorabentscheidungsverfahren (vgl. Heese/Schumann NJW 2021, 3023; DRB-Initiativstellungnahme Nr. 1/2022) sollen nach dem nun vorgelegten Referentenentwurf die Instanzgerichte nicht in die Lage versetzt werden, ein Verfahren zur Leitentscheidung dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Stattdessen soll der Bundesgerichtshof eines der bei ihm bereits anhängigen Revisionsverfahren nach eigenem Ermessen selbst zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen können. Damit fallen Beschleunigungs- und Entlastungsfunktion eines solchen Verfahrens weitgehend fort. Die Instanzgerichte müssen weiterhin auch dann, wenn eine Vielzahl gleichzeitig anhängiger Verfahren von der Entscheidung der gleichen höchstrichterlich nicht geklärten Rechtsfragen abhängt, gleichsam als „Durchlauferhitzer“ all diese Verfahren entscheiden, ohne vorab die Klärung durch den Bundesgerichtshof herbeiführen und das Ruhen der übrigen Verfahren anordnen zu können. Auch den Bundesgerichtshof dürfte diese Lösung nicht entlasten. Der Aufwand, aus einer Vielzahl von bereits beim Bundesgerichtshof anhängigen Revisionsverfahren das „ideale“ Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen, ist nicht zu unterschätzen, da diese Bestimmung eine gründliche und vollständige Aufarbeitung der in Frage kommenden Verfahren erfordert.

4. Die vorgeschlagene Aussetzungsmöglichkeit für Folgeverfahren bei Zustimmung beider Parteien (§ 148 Abs. 4 ZPO-Ref-E) stellt keine Verbesserung dar. Diese Möglichkeit besteht schon nach bisheriger Rechtslage (§ 251 S. 1 ZPO). Gerade in Massenverfahren ist aber in der Regel mindestens eine Partei aus finanziellen und prozesstaktischen Erwägungen mit einer Aussetzung des Verfahrens nicht einverstanden. Damit wird ein "Durchprozessieren" durch alle Instanzen erzwungen, was weitere potenzielle Klägerinnen und Kläger abschrecken soll. Aus entsprechenden Erwägungen spricht sich auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 12.05.2023 zum Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG), BR-DRs. 145/23, Ziffer 13, für die Einführung einer Aussetzungsmöglichkeit für Individualverfahren aus, die nicht der Zustimmung der Parteien bedürfte. Dies sollte unterschiedslos für Individualverfahren gelten, deren Entscheidung von Rechtsfragen abhängen, die in einem Vorabentscheidungs- bzw. Leitentscheidungsverfahren höchstrichterlich entschieden werden und solchen, die in einer Verbandsklage geklärt werden.

 

III. Änderungsvorschläge

Der Deutsche Richterbund spricht sich daher dafür aus, den Referentenentwurf nochmals grundlegend zu überarbeiten.

1. Zur Entlastung der Instanzgerichte in Massenverfahren müsste das Leitentscheidungsverfahren schon im Ansatz so konzipiert sein, dass die Instanzgerichte ermächtigt werden, dem Bundesgerichtshof ein Verfahren zur Vorab- bzw. Leitentscheidung vorzulegen, das von höchstrichterlich ungeklärten Rechtsfragen abhängt, die für eine Vielzahl gleichartiger weiterer Rechtsstreite entscheidungserheblich sind. Dies hätte auch für den Bundesgerichtshof den Vorteil, dass dieser nicht aus der Vielzahl der dort anhängigen Verfahren eines aufwendig auswählen müsste. Um zu verhindern, dass dem Bundesgerichtshof ungeeignete Verfahren vorgelegt werden, könnte erwogen werden, eine Zurückverweisungsmöglichkeit des Bundesgerichtshofs wegen Ungeeignetheit im Beschlusswege einzurichten, etwa für Fälle, in denen der Sachverhalt noch weiterer Aufklärung bedarf. Alternativ könnte auch erwogen werden, die Vorlagemöglichkeit nur den Berufungsgerichten, in der Regel also den Oberlandesgerichten bzw. dem Kammergericht, zu ermöglichen.

2. Sollen die Instanzgerichte bei der Bearbeitung von Massenverfahren tatsächlich spürbar entlastet werden, so müssten diese in die Lage versetzt werden, bei Anhängigkeit eines Leitentscheidungsverfahrens Folgeverfahren gerade auch ohne Zustimmung der Parteien auszusetzen.

3. Darüber hinaus sollten die Instanzgerichte in die Lage versetzt werden, sämtliche dort anhängigen Folgeerfahren, deren Entscheidung einem Leitentscheidungsverfahren folgt, auch ohne Zustimmung der Parteien schriftlich zu entscheiden. Um dem Mündlichkeitsgrundsatz Geltung zu verschaffen, könnte dies so ausgestaltet werden, dass im Falle der schriftlichen Entscheidung durch das erstinstanzliche Gericht die Berufungsgerichte eine mündliche Verhandlung durchzuführen haben, da diese bei entsprechenden Verfahrensfehlern der erstinstanzlichen Gerichte nach Maßgabe des § 538 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit der Zurückverweisung haben. § 538 Abs. 2 S. 1 ZPO könnte auch dahingehend angepasst werden, dass in diesen Fällen die Zurückverweisung auch ohne Antrag der Partei möglich wäre. Für die Vielzahl der von den erstinstanzlichen Gerichten zu entscheidenden Massenverfahren wäre bei diesem Konzept eine erhebliche Entlastungswirkung zu verzeichnen.

 

IV. Weitere Reformerfordernisse

Der Deutsche Richterbund erinnert ergänzend an die weiteren Vorschläge aus der DRB-Initiativstellungnahme Nr. 1/2022, die im Referentenentwurf keine Entsprechung finden. Insbesondere wird nochmals darauf hingewiesen, dass in der gerichtlichen Praxis gerade der durch „copy & paste“ extrem angewachsene Umfang von Schriftsätzen in Massenverfahren auf oft mehrere hundert Seiten pro Schriftsatz zu einer Blockade der betroffenen Zivilgerichte führt. Es würde die Zivilgerichte erheblich entlasten, wenn der maximale Umfang von Schriftsätzen begrenzt werden könnte. Regelungen über die Begrenzung des Umfangs von Schriftsätzen wurden in den vergangenen Jahren etwa in Irland, Israel und den Niederlanden, aber auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen. Dies könnte etwa, wie im Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion BT-DRs. 20/5560 vorgeschlagen, auf einfachem Wege durch eine entsprechende Ergänzung des § 139 ZPO erreicht werden.