#16/19

Stellungnahme zum Vorschlag für eine Verordnung über Europäische Herausgabeanordnungen und Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafsachen; zuletzt: Allgemeine Ausrichtung des Rates der Europäischen Union vom 11. Juni 2019 (10206/19)

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund begrüßt die Bemühungen, die Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel im Strafverfahren unionsweit zu regeln. Sie tragen dem Bedürfnis der Strafverfolgungspraxis Rechnung, möglichst schnell und vor allem ohne Datenverlust Erkenntnisse über Telekommunikationsbeteiligte, -daten und -inhalte zu erlangen.

Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Beschleunigung und Vereinfachung des Datenzugriffs mit rechtsstaatlichen Einbußen und Risiken „erkauft“ wird. Denn durch den unmittelbaren Zugriff auf ausländische Diensteanbieter durch den Anordnungsstaat droht zugleich ein Verzicht auf rechtsstaatliche Kontrolle im Vollstreckungsstaat. In dieser Gemengelage zwischen Vorteilen und Risiken eines vereinfachten unionsweiten Datenzugriffs gilt es, die richtige und hinnehmbare Balance zu finden.

Hier bedarf es der weiteren Nachjustierung, um insbesondere den Anwendungsbereich der Europäischen Herausgabeanordnung (EPOC) und der Europäischen Sicherungsanordnung (EPOC-PR) klarer zu bestimmen und dem Vollstreckungsstaat stärker als bislang vorgesehen eine eigene Prüfung und Kontrolle einer solchen Anordnung zu ermöglichen.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Zum Anwendungsbereich der EPOC und EPOC-PR:

Der vorgesehene Anwendungsbereich der Europäischen Sicherungs- und Herausgabeanordnung ist weitreichend; soweit es die Sicherung von Daten sowie die Herausgabe von Teilnehmer- und Zugangsdaten betrifft, sogar nahezu schrankenlos. Denn in diesen Fällen setzt ein Zugriff lediglich voraus, dass die Sicherung- bzw. Herausgabe verhältnismäßig ist und in einer vergleichbaren innerstaatlichen Situation für dieselbe Straftat eine ähnliche Maßnahme zur Verfügung stände.

Auch die Beschränkung der Herausgabe von Transaktions- und Inhaltsdaten auf Straftaten, die im Anordnungsstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, würde in der Praxis keine nennenswerte Begrenzung des Anwendungsbereichs darstellen. Zwar wären danach nach deutschem Recht Straftatbestände wie zum Beispiel Beleidigung, Üble Nachrede oder auch Verleumdung (§§ 185 ff. StGB) von der grenzüberschreitenden Herausgabe von Transaktions- und Inhaltsdaten ausgeschlossen. Inwieweit dies für andere Mitgliedsstaaten, die aus deutscher Sicht „Anordnungsstaaten“ darstellen, in gleicher Weise gilt, ist jedoch völlig offen, weil es eine Harmonisierung von Straftaten und
-rahmen innerhalb der Europäischen Union nicht gibt. Mit der EPOC/EPOC-PR werden daher im Einzelfall auch grenzüberschreitend Beweismittel erhoben werden können, die im Wege der „klassischen Rechtshilfe“ nicht erlangt werden könnten, weil die im ersuchenden Staat („Anordnungsstaat“ im Sinne der EPOC/EPOC-PR) verfolgte Tat im ersuchten Staat („Vollstreckungsstaat“ im Sinne der EPOC/EPOC-PR) überhaupt keine Straftat darstellt. Dieser weitreichende Verzicht auf eine beiderseitige Strafbarkeit wiegt umso schwerer, als mit dem breiten Anwendungsbereich der Europäischen Sicherungs- und Herausgabeanordnung eine innerstaatliche Prüfung der Rechtmäßigkeit durch ein Gericht des Vollstreckungsstaats in weiten Teilen aufgegeben wird.

Dem vereinfachten und beschleunigten unionsweiten Datenzugriff ist daher im Interesse einer rechtsstaatlichen Balance ein Gegengewicht gegenüberzustellen, das sicherstellt, dass die Maßnahme nur unter den Voraussetzungen erfolgen kann, die auch im Vollstreckungsstaat gelten. Denkbar und wünschenswert wäre, wie bei einer Vielzahl europäischer Rechtshilfeinstrumente, die Einigung auf einen Straftatenkatalog, der die beiderseitige Strafbarkeit der darin genannten Taten sicherstellt und zugleich festlegt, für welche „Qualität“ von Straftaten die Anordnung zur Herausgabe von Inhaltsdaten zulässig sein soll, ohne dass auf das „unbestimmte“ und unionsweit uneinheitliche Kriterium einer gesetzlich zulässigen Höchststrafe zurückgegriffen werden muss.

 

II. Zum Notifikationsverfahren der EPOC für Inhaltsdaten:

Angesichts des grundsätzlichen Verzichts auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung durch den Vollstreckungsstaat ist die mit der Allgemeinen Ausrichtung des Rates vom 30. November 2018 vorgesehene Einführung eines Notifikationsverfahrens für Inhaltsdaten ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Dieser sollte jedoch auch in Richtung von Transaktionsdaten gegangen und ein Notifikationsverfahren daher auch für diese Datenkategorie vorgesehenen werden. Denn diese sind zum Beispiel geeignet, über insbesondere Standortdaten ein konkretes Bewegungsbild des/der Betroffenen zu zeichnen. Auch andere Verbindungsdaten können in der Gesamtschau Aufschluss über insbesondere Lebensgewohnheiten von Betroffenen geben und stellen daher einen intensiven Eingriff in die Persönlichkeitssphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen dar.

 

III. Zum Konsultationsverfahren der EPOC bei Transaktionsdaten:

Das mit den Allgemeinen Ausrichtungen vom 30. November 2018 und 11. Juni 2019 vorgesehene Konsultationsverfahren für die Herausgabe von Transaktionsdaten in Fällen, in denen die Anordnungsbehörde Grund zu der Annahme hat, dass die Person, deren Daten angefordert werden, ihren Wohnsitz in einem anderen Hoheitsgebiet hat, ist für sich genommen nicht ausreichend, um einen gebotenen Schutz der Betroffenen zu erreichen. Denn es greift nur dann, wenn der Anordnungsstaat darüber hinaus berechtigten Grund zu der Annahme hat, dass die betreffenden Daten nach dem Recht des Vollstreckungsstaats „privilegiert“ und besonders geschützt sein könnten. Im Ergebnis wird diese gerade im Hinblick auf Aspekte der Meinungs- und Pressefreiheit sehr sensible Prüfung damit dem Vollstreckungsstaat entzogen und auf den Anordnungsstaat sowie den privaten Diensteanbieter übertragen, der hierfür oft nicht über hinreichende Informationen verfügen dürfte.

Wirksam wäre ein Konsultationsverfahren indes nur, wenn – wie im Falle der Notifikation bei Inhaltsdaten – bereits der Wohnsitz der vom Datenzugriff betroffenen Person außerhalb des Anordnungsstaats Anlass zur Konsultation gäbe, wobei es sinnvoll erscheint, eine solche Konsultation auch im Falle der Herausgabe von Inhaltsdaten vorzusehen. Denn obgleich es ein anschließendes Notifikationsverfahren gibt, diente es der Verfahrensbeschleunigung, wenn das Vorliegen anordnungsausschließender Gründe bereits vor Erlass der Anordnung geprüft wird.

 

IV. Zur Bindung an geltend gemachte Einwände im Notifikations- und Konsultationsverfahren:

Soweit die Allgemeine Ausrichtung vom 30. November 2018 vorsieht, dass Immunitäten und andere Vorrechte, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats gewährt werden, sowie Vorschriften zur Bestimmung und Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Bezug auf die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung je nach Datenkategorie in einem Notifikationsverfahren (Inhaltsdaten) oder einem Konsultationsverfahren (Transaktionsdaten) geltend gemacht werden können, bringt der bisherige Verordnungsentwurf nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass der Anordnungsstaat verpflichtet ist, die im Notifikationsverfahren vorgebrachten Einwände zu berücksichtigen. Das „Risiko“ eines unionsweiten Datenzugriffs aber ist nur dann hinnehmbar, wenn der Vollstreckungsstaat seine Einwände im Sinne eines „harten Widerspruchsrechts“ geltend machen kann.

 

V. Zum Grundsatz der Spezialität:

Die Allgemeine Ausrichtung des Rates vom 30. November 2018 sieht vor, dass die angeforderten Daten u.a. nur dann für andere Zwecke verwendet werden dürfen, für die sie eingeholt worden sind, wenn sie für Verfahren verwendet werden, für die eine Herausgabeanordnung hätte erlassen werden können. Für den Fall einer solchen „Zweit- oder Anschlussnutzung“ erscheint es sachgerecht und geboten, ein erneutes Notifikationsverfahren durchzuführen. Denn nur so ist sichergestellt, dass der Vollstreckungsstaat im Lichte anderer Tatvorwürfe z.B. Aspekte der Meinungsfreiheit und Immunität prüfen und gegebenenfalls einwenden kann.

 

VI. Zur Dauer der Datensicherung:

Aus Sicht der Strafverfolgungspraxis wäre es wünschenswert, die Sicherungsdauer über 60 Tage hinaus zu verlängern oder aber jedenfalls eine nochmalige Sicherung für weitere 60 Tage zu ermöglichen, um nicht Herausgabeanordnungen zu „provozieren“, bevor die Beweiserheblichkeit bestimmter Daten in laufenden Ermittlungen beurteilt werden kann.