#14/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages zum Gesetzentwurf der LINKEN zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein (BT-Drs. 20/2081)

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund spricht sich für eine Anpassung des § 265a Abs. 1 Alt. 3 StGB aus. Der Straftatbestand soll dergestalt eingeschränkt werden, dass die Beförderungserschleichung nur noch strafbar sein soll, wenn Zugangsbarrieren oder -kontrollen umgangen oder überwunden werden. Wer ohne ein solches manipulatives Verhalten einfach in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigt, erscheint nicht strafwürdig.

In solchen Fällen reicht die zivilrechtliche Inanspruchnahme durch die Verkehrsunternehmen – etwa in Form erhöhter Beförderungsentgelte – aus. In erster Linie sind die Verkehrsbetriebe gehalten, vorbeugend gegen das Schwarzfahren einzuschreiten und entsprechende Bemühungen zu intensivieren.

Die gänzliche Streichung der Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung lehnt der Deutsche Richterbund dagegen ab. Anderenfalls würde auch straflos bleiben, wer Kontrollmechanismen umgeht. Dies ist aber mit einer erhöhten kriminellen Energie verbunden, so dass die Straflosigkeit im Vergleich zu anderen Vermögensdelikten nicht sachgerecht erscheint.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Geschichtlicher Hintergrund

Eingeführt wurde der Tatbestand der Leistungserschleichung im Jahr 1935 als Auffangtatbestand zum Betrug. Die Notwendigkeit für die Schaffung des Straftatbestandes der Leistungserschleichung lag in dem Wegfall menschlich-individueller Kontrollen infolge der fortschreitenden Automatisierung bei der Erbringung von Massenleistungen. Für das Betrugsstrafrecht fehlte es in diesen Bereichen regelmäßig bereits an einer Täuschungshandlung. Diese Strafbarkeitslücken sollte der neu eingeführte Tatbestand des § 265a StGB schließen (vgl. LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., § 265a Rn. 1 f.).

 

II. Auslegung des § 265a StGB

Umstritten ist die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Nutzung des Beförderungsmittels ohne Fahrkarte auch dann ein „Erschleichen“ darstellt, wenn keinerlei Sicherungs- oder Kontrollvorkehrungen überwunden werden müssen.

In der Literatur wird das Tatbestandsmerkmal vielfach eng ausgelegt. Danach setzt § 265a Abs. 1 Alt. 3 StGB voraus, dass der Täter Sicherungsvorkehrungen, die das Entrichten des Beförderungsentgelts sicherstellen sollen, umgeht oder ausschaltet (etwa Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl., § 265a Rn. 8, 11; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 265a Rn. 5e; LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., § 265a Rn. 36). Die schlichte Nutzung eines Verkehrsmittels ohne Fahrkarte sei schon nach dem Wortsinn kein „Erschleichen“, das vielmehr ein heimliches bzw. listiges Vorgehen voraussetze (vgl. MK/Hefendehl, StGB, 4. Aufl., § 265a Rn. 169).

Die Rechtsprechung hingegen legt den Tatbestand der Beförderungserschleichung weit aus. Nach der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß bestätigten Auslegung des Bundesgerichtshofs reicht es aus, wenn der Täter sich bei der Benutzung des Verkehrsmittels mit dem Anschein umgibt, die nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen (BGHSt 53, 122, 124). Der Wortlaut der Norm lasse diese weite Auslegung zu; der Begriff des Erschleichens enthalte allenfalls ein täuschungsähnliches Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt werde (aaO). Danach greift der Tatbestand in nahezu allen Fällen, in denen ein Verkehrsmittel ohne Besitz einer gültigen Fahrkarte genutzt wird.

 

III. Bedeutung der Leistungserschleichung in der Praxis

Nach der Strafverfolgungsstatistik (Tab. 2.1) wurden im Jahr 2021 43.281 Personen wegen Erschleichens von Leistungen nach § 265a StGB abgeurteilt; rechtskräftig verurteilt wurden 38.477 Personen. Trotz des – vermutlich auch durch die Corona-Pandemie bedingten – erheblichen Rückgangs der Zahlen handelt es sich damit bei der Leistungserschleichung nach wie vor um ein Massendelikt. Da die übrigen Tatbestände des § 265a StGB eher ein Randdasein führen, dürften die Zahlen bezogen auf den Tatbestand der Beförderungserschleichung nur geringfügig darunter liegen; dies bestätigt auch ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik 2021 (Tab. 01 Fälle), wonach die Tatverdächtigen der Beförderungserschleichung über 98% der Tatverdächtigen wegen Leistungserschleichung insgesamt ausmachen.

Trotz dieser recht hohen Zahl der Abgeurteilten handelt es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich werden weitaus mehr Personen ohne Ticket im öffentlichen Personenverkehr angetroffen; allein im Bundesland Berlin sollen dies etwa im Jahr 2021 durchschnittlich ca. 50.000 Personen pro Monat gewesen sein. Die große Diskrepanz entsteht u. a. dadurch, dass die Beförderungserschleichung ein Antragsdelikt ist und von den Verkehrsbetrieben in der Regel nur Wiederholungstaten zur Anzeige gebracht werden. Außerdem wird ein großer Teil der Verfahren bereits von den Staatsanwaltschaften nach Opportunitätsgesichtspunkten eingestellt.

Die durch die einzelnen Beförderungserschleichungen verursachten Schäden sind überwiegend gering und fallen in den Bereich der Bagatellkriminalität; im Jahr 2021 lag die Schadenshöhe in 72,5% der erfassten Fälle unter 15 Euro (PKS 2021 Tab. 07). 

Bei den wegen des Delikts verhängten Sanktionen dominiert die Geldstrafe; diese wurde nach der Strafverfolgungsstatistik 2021 (Tab. 2.3) gegen ca. 95% der gem. § 265a StGB Verurteilten verhängt, eine Freiheitsstrafe dagegen nur gegen unter 5% der Verurteilten. Auswertungen auf Länderebene zeigen zudem, dass innerhalb der Geldstrafen solche mit Tagessatzhöhen im unteren Bereich dominieren. Dies deutet darauf hin, dass die Mehrzahl der gem. § 265a StGB Verurteilten über niedrige Einkommen verfügt.

Infolgedessen kommt es relativ häufig dazu, dass gem. § 265a StGB Verurteilte die Geldstrafe nicht zahlen und gegen sie eine Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet wird. Zwar werden die wegen dieses Delikts Inhaftierten seit dem Jahr 2017 in der Strafvollzugsstatistik nicht mehr gesondert ausgewiesen; frühere Strafvollzugsstatistiken bzw. entsprechende Untersuchungen zeigen aber, dass ihr Anteil an den zu einer Ersatzfreiheitsstrafe Verurteilten fast ein Viertel beträgt (MK/Hefendehl, StGB, 4. Aufl., § 265a Rn. 15).

 

IV. Reformbedarf

Sowohl die Rechtslage als auch die Praxis sind unbefriedigend. Daher sieht auch der Deutsche Richterbund einen Reformbedarf im Hinblick auf § 265a Abs. 1 Alt. 3 StGB.

1. ultima-ratio-Prinzip

Dahinstehen kann, ob die weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals des „Erschleichens“ einer Beförderung durch die Rechtsprechung dogmatisch zwingend ist. Jedenfalls führt diese Auslegung dazu, dass ein völlig unauffälliges Verhalten genügt, um den Straftatbestand zu verwirklichen. Die Tatbegehung erfordert allenfalls eine äußerst geringe kriminelle Energie. Zugleich wird nur ein geringer Schaden durch den einzelnen Schwarzfahrer beim Verkehrsunternehmen verursacht. Infolgedessen ist es äußerst fraglich, ob an der geltenden Rechtslage mit Blick auf das ultima-Ratio-Prinzip festzuhalten ist.

2. Aufwand der Strafverfolgung

Die Strafverfolgung im Bereich der Beförderungserschleichung ist teuer. Sie belastet Staatsanwaltschaften und Gerichte, aber auch die Justizvollzugsanstalten, in denen die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt wird. Dagegen haben die Verkehrsbetriebe Kosten eingespart, indem sie die Kontrollen verringert haben.

3. Fragwürdigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe

Da die Straftat der Beförderungserschleichung typischerweise von Menschen begangen wird, die über wenig Geld verfügen, kommt es – wie oben aufgezeigt – relativ häufig zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe. Kurze Freiheitsstrafen sind aber generell problematisch, da sie auf der einen Seite – etwa durch den Verlust der Arbeitsstelle oder der Wohnung – eine entsozialisierende Wirkung haben, auf der anderen Seite aber kaum zur Resozialisierung der Täter beitragen, da die Haftzeit für die Teilnahme an Behandlungsangeboten regelmäßig nicht ausreicht.

 

V. Mögliche Reformen

1. Gänzliche Streichung der Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung

Die LINKE fordert in ihrem Gesetzentwurf die gänzliche Streichung der Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung. Das würde bedeuten, dass auch straflos bleibt, wer Kontrollmechanismen umgeht. Damit würde auch solches Verhalten straflos, das eine höhere kriminelle Energie voraussetzt. Dies ist aber im Vergleich zu anderen Vermögensdelikten nicht sachgerecht, zumal gerade im Fernverkehr durchaus höhere Schäden denkbar sind.

2. Eingrenzung der Tatbestandsalternative

Vorzugswürdig erscheint es deshalb, die Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung nicht gänzlich zu streichen, sondern einschränkend zu konkretisieren. So könnte die Tatbestandsvariante auf die Fälle begrenzt werden, in denen im weiteren Sinne Kontrollmechanismen umgangen werden. Dies können mechanische Kontrollen wie etwa Drehkreuze sein, deren Installation in Verbindung mit moderner Laser- oder Video-Technologie durchaus erschwinglich erscheint und die im Ausland üblich sind (vgl. Sasse, NJ 2019, 59, 61).

Nicht erfasst werden sollte dagegen das „einfache Schwarzfahren“ ohne Kontrollumgehung im Wiederholungsfall. Denn dies würde letztlich zu einer Fortführung der aktuellen Praxis führen, weil bereits heute Strafanzeigen in der Regel erst im Wiederholungsfall erstattet werden. Außerdem müsste dann eine bundesweite Datei über Beförderungserschleichungen geführt werden, um den Wiederholungsfall rechtssicher feststellen zu können. Dies erscheint aber aus datenschutzrechtlichen Gründen fragwürdig und wäre zudem mit einem hohen Aufwand verbunden.

3. Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit

Der Deutsche Richterbund spricht sich ferner dagegen aus, jene Fälle, in denen die Strafbarkeit entfallen soll, zur bloßen Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Dies wäre unpraktikabel, da dann eine Behörde geschaffen werden müsste (oder einer bestehenden Behörde die zusätzliche Aufgabe übertragen werden müsste), um die Einhaltung der zivilrechtlichen Vorgaben zu kontrollieren und Verstöße durch Bußgeldbescheide zu sanktionieren. Zudem würden Staatsanwaltschaften und Gerichte bei einem Einspruch dennoch mit diesen Verfahren beschäftigt werden. Auch wäre eine Erledigung dieser Verfahren durch Zahlungsauflagen – etwa nachträgliches Bezahlen des erhöhten Beförderungsentgeltes – nach § 153a StPO nicht mehr möglich, weil diese Norm im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht anwendbar ist. Außerdem bliebe das Problem, dass im Wesentlichen Menschen mit Bußgeldern belegt würden, die sie aufgrund ihres niedrigen Einkommens ohnehin nicht bezahlen können. Diesen würde im Vollstreckungsverfahren Erzwingungshaft drohen, die jedoch nicht zu einem Wegfall der Geldbuße führt.

 

VI. Fazit

Der Deutsche Richterbund spricht sich dafür aus, die Beförderungserschleichung auf Fälle zu beschränken, in denen Kontrollmechanismen umgangen werden. Ergänzt werden könnte die Reform durch Sozialmaßnahmen, die bedürftigen Menschen die Teilnahme am öffentlichen Nahverkehr ermöglichen.