#1/2023

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten 


A. Tenor der Stellungnahme

 

Der Deutsche Richterbund unterstützt grundsätzlich die Intention des Referentenentwurfs, die Durchführung von Videoverhandlungen im Sinne einer modernen, bürgerfreundlichen und effizienten Justizgewährung zu fördern. 

Wir lehnen allerdings die geplante Soll-Vorschrift und die Möglichkeit der sofortigen Beschwerde gegen die Ablehnung von Anträgen auf Videoverhandlung entschieden ab. Dadurch werden ohne Not seit Langem bewährte Grundprinzipien des Zivilprozesses und der anderen Verfahrensordnungen über Bord geworfen (Prozessleitung und Verantwortung für das die Endentscheidung vorbereitende Verfahren durch das Gericht; Anfechtbarkeit von vorbereitenden Verfahrenshandlungen nur im Rahmen von Rechtsmitteln gegen die Endentscheidung), ohne dass dem ein erkennbarer Nutzen für die wirkungsvolle Förderung von Videoverhandlungen gegenüberstünde. Sie wirken dadurch im Hinblick auf das angestrebte Ziel kontraproduktiv. 

Die vorgesehenen Regelungen sind außerdem viel zu kompliziert und dadurch fehleranfällig, so dass sie einer effektiven Beschleunigung des Verfahrens entgegenstehen. Das erklärte Ziel der Regelungen, die Begründungsanforderungen für die Ablehnung von Anträgen auf Videoverhandlungen durch das Gericht zu erhöhen, kann überdies durch eine Soll-Vorschrift nicht erreicht werden. Denn eine Soll-Vorschrift erhöht nicht die Begründungsanforderungen, sondern schränkt den Anwendungsbereich der Ermessensausübung selbst auf atypische Ausnahmefälle ein. Geeignet wäre demgegenüber eine Kann-Vorschrift – ggf. mit einer konkreten Regelung von Begründungsanforderungen, die eine pflichtgemäße Ermessenausübung durch das Gericht sicherstellt. Die Einhaltung dieser Vorgaben wäre im Rahmen von Rechtsmitteln gegen die Endentscheidung anfechtbar.


B. Bewertung im Einzelnen 

 

Der Deutsche Richterbund unterstützt grundsätzlich die Intention des Referentenentwurfs, den Einsatz von Videokonferenztechnik und damit eine moderne, digitale und bürgernahe Justiz in der Zivilgerichtsbarkeit sowie in den Fachgerichtsbarkeiten weiter zu fördern. Der Referentenentwurf beabsichtigt, die Leistungsfähigkeit der Justiz durch Stärkung einer schnellen, kostengünstigen, ressourcenschonenden und nachhaltigen Verfahrensdurchführung zu steigern. Diesem Ziel werden die geplanten Regelungen aber nicht in allen Punkten gerecht. Vor allem in zwei Punkten – nämlich der Einführung einer Soll-Vorschrift bei übereinstimmendem Parteiantrag sowie einer sofortigen Beschwerde bei Ablehnung – schießen die geplanten Regelungen deutlich über das angestrebte Ziel hinaus und wirken dadurch geradezu kontraproduktiv. Videoverhandlungen werden sich in geeigneten Fällen durchsetzen und im gerichtlichen Alltag selbstverständlich werden, wenn alle am Verfahren beteiligten Akteure – einschließlich des Gerichts – sie als ideale Lösung ansehen. 

Die ganz überwiegende Mehrzahl der Richterinnen und Richter bewertet – trotz der vielerorten noch bestehenden erheblichen Schwierigkeiten sowohl in technischer Hinsicht als auch in Bezug auf die personelle Ausstattung – die digitale Verfahrensbearbeitung positiv und möchte die neuen Möglichkeiten nicht mehr missen (vgl. z. B. Rebehn, DRiZ 2021, 90; Schupp, DRiZ 2021, 66; Fries, GVRZ 2020, 27). Vielerorts fehlt jedoch noch eine ausreichende technische Ausstattung und – besonders gravierend – das notwendige IT-Fachpersonal. Das Hauptproblem ist daher nicht, dass die Richterschaft sich einer digitalen Verfahrensführung verweigern würde, sondern, dass die digitale Verfahrensführung derzeit oftmals wegen technischer Schwierigkeiten und unzureichender Performanz mühsam und zeitraubend ist (vgl hierzu aus Anwaltssicht auch Bülau/Mogendorf, Mehr Mut zum virtuellen Zivilprozess, in: FAZ vom 4.1.2023). Der Fokus sollte daher nicht auf polarisierende Regelungen gelegt werden, die einer effizienten und beschleunigten Verfahrensführung schaden. Die beste virtuelle Verfahrensführung ist diejenige, die möglichst im Konsens zwischen allen am Verfahren beteiligten Akteuren geschieht – einschließlich des Gerichts. Oberstes Ziel muss daher sein, die technischen und personellen Rahmenbedingungen schnell so zu verbessern, dass eine Videoverhandlung in geeigneten Fällen allen Beteiligten als ideale Lösung erscheint. Dann wird sie sich im Sinne einer modernen, bürgernahen und effizienten Justizgewährung in geeigneten Fällen schnell durchsetzen. Die geplante Soll-Vorschrift und eine sofortige Beschwerde leisten hingegen einer Frontstellung zwischen den Prozessparteien und dem Gericht Vorschub, schaden einem Konsens und wirken der Akzeptanz der Regelungen entgegen.

Die geplanten Regelungen widersprechen grundlegenden Prinzipen des Zivilprozessrechts und auch der anderen Verfahrensordnungen. Danach obliegt die Verfahrensleitung dem erkennenden Gericht und ist nicht isoliert anfechtbar, sondern erst zusammen mit der Endentscheidung. Dort findet auch eine Überprüfung auf Verfahrensfehler statt. In den geplanten Vorschriften ist demgegenüber ein unangemessenes – den Verfahrensordnungen bisher fremdes – grundsätzliches Misstrauen gegen die richterliche Verfahrensleitung angelegt, das in dieser Form auch nicht ansatzweise gerechtfertigt ist. Es ist mit Bedeutung und Funktion einer unabhängigen Justiz im gewaltengeteilten Rechtsstaat nicht vereinbar.

Um den Einsatz von Videoverhandlungen in der gerichtlichen Praxis effektiv zu fördern und einer derzeit teilweise noch zu beobachtenden unterschiedlichen Einsatzhäufigkeit wirksam zu begegnen, bedarf es – neben einer erheblichen Verbesserung der technischen und personellen Ausstattung vieler Gerichte – einer Konzentration auf geeignete Fälle. Im Zivilprozess und den anderen Verfahrensordnungen ist es Aufgabe der Gerichte, über die Geeignetheit von Verfahrenshandlungen zu entscheiden. Daneben ist es zur Förderung einer einheitlichen Praxis sicherlich sachgerecht, durch Konkretisierung der gesetzlichen Regelungen einen klaren rechtlichen Rahmen vorzugeben. Dies schafft Rechtssicherheit und erleichtert sowohl den Gerichten als auch den Prozessparteien den Umgang mit entsprechenden Anträgen oder richterlichen Anordnungen. Um den Gerichten erhöhte Begründungsanforderungen zu stellen, ist eine Soll-Vorschrift aber ungeeignet. Denn diese erhöht nicht die Begründungsanforderungen, sondern beschränkt den Anwendungsbereich der Ermessensausübung insgesamt auf atypische Ausnahmefälle.

Wir lehnen eine Soll-Vorschrift (§ 128a Absatz 2 Satz 2 ZPO-E) und ein Beschwerderecht (§ 128a Absatz 7 Satz 1 ZPO-E) daher entschieden ab. Wir befürworten demgegenüber eine Regelung, die es in die Verantwortung des Gerichts stellt, im Einzelfall eine begründete Entscheidung über die Durchführung einer Video-Verhandlung zu treffen. Eine effiziente und beschleunigte Verfahrensführung wird unter Berücksichtigung des rechtsstaatlich gebotenen Vorrangs konsensualer Streitbeilegung (vgl. § 278 Absatz 1 ZPO und hierzu BT-Drs. 14/4722, S. 62) wirkungsvoller dadurch gefördert, dass dem Gericht die Anordnung der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung in geeigneten Fällen ermöglicht wird. 

Wir schlagen als § 128a Absatz 2 ZPO folgende Regelung vor:

„Der Vorsitzende kann auf Antrag oder von Amts wegen in geeigneten Fällen die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für einen, mehrere oder sämtliche Verfahrensbeteiligte anordnen. Die Ablehnung eines Antrags hat das Gericht zu begründen.“

§ 128a Absatz 7 Satz 1 ZPO-E sollte gestrichen werden.


1. Zu § 128a Absatz 2 Satz 2 und Absatz 7 Satz 1 ZPO-E (Soll-Vorschrift und Beschwerde):

Die geplante Soll-Vorschrift mit Beschwerdemöglichkeit stellt einen Fremdkörper im Zivilprozessrecht und den übrigen Verfahrensordnungen dar. Sie ist nicht geeignet, den effektiven Einsatz und die schnelle Verbreitung von Videoverhandlungen in der gerichtlichen Praxis wirksam zu fördern. Denn sie setzt nicht am eigentlichen Problem an. Sie unterstellt vielmehr (ohne belastbare Grundlage) eine verbreitete Verweigerungshaltung der Richterschaft, die in dieser Form nicht existiert.

a) Dass Gerichte Anträge auf Videoverhandlung von Prozessparteien flächendeckend oder auch nur in nennenswertem Umfang ohne sachliche Begründung ablehnen, kann aus der Praxis nicht bestätigt werden. Im Gegenteil werden Videoverhandlungen (insbesondere seit der Corona-Pandemie) in der gerichtlichen Praxis bereits in großem Umfang eingesetzt und sind zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel für eine effektive Verfahrensführung geworden. Das stellt auch die Begründung des Referentenentwurfs nicht in Abrede (vgl. S. 1). Die ganz überwiegende Mehrzahl der Richterinnen und Richter steht einer digitalen Verfahrensführung grundsätzlich positiv gegenüber und möchte die neuen Möglichkeiten nicht mehr missen. Um den Einsatz von Videoverhandlungen in geeigneten Fällen weiter zu fördern und auf eine möglichst einheitliche Praxis hinzuwirken, ist aber eine technische und personelle Ausstattung erforderlich, die derzeit noch nicht flächendeckend vorhanden ist. Damit Videoverhandlungen zu einem selbstverständlichen Teil des Gerichtsalltags werden können, ist vielerorts eine deutliche Aufstockung der technischen Ausstattung und des zu deren Betrieb notwendigen Personals notwendig. Die hierdurch entstehenden Kosten treffen vor allem die Länder und sind durch die im Gesetzentwurf genannten Beträge auch nicht ansatzweise abgebildet. Während einige Gerichte bereits über eine sehr gute Ausstattung verfügen, gibt es immer noch viele Gerichte, an denen keine ausreichende oder überhaupt noch keine Ausstattung zur Durchführung von Videoverhandlungen vorhanden ist.

Der Gesetzentwurf verbindet mit den vorgesehenen Regelungen das Ziel, die Ziviljustiz „moderner, digitaler, bürgernäher, schneller, kostengünstiger und nachhaltiger“ zu machen. Diesen Zielen verschließt sich auch der DRB nicht. Allerdings können diese Ziele nicht durch eine Digitalität um ihrer selbst willen erreicht werden. Vielmehr müssen Chancen und Risiken einer fortschreitenden Digitalisierung des gerichtlichen Verfahrens sorgsam gegeneinander abgewogen werden. Um die Vorteile der digitalen Verfahrensführung voll ausschöpfen zu können, muss sich die Durchführung von Videoverhandlungen auf dafür geeignete Verfahren konzentrieren. Warum die Gerichte nicht in der Lage sein sollen, dies in möglichst konsensualem Zusammenwirken mit den übrigen Verfahrensbeteiligten in eigener Verantwortung zu beurteilen, erschließt sich nicht und wird in dem Gesetzentwurf auch nicht näher begründet. Der Entwurf traut den zuständigen Gerichten offenbar nicht zu, aufgrund eigenen Entschlusses die zu erledigenden Verfahren unter Nutzung der bereits jetzt weitreichenden Möglichkeiten des § 128a ZPO sachgerecht und effizient zu gestalten. Die geplanten Regelungen offenbaren ein grundlegendes und unangemessenes Misstrauen gegen eine sachgerechte gerichtliche Verfahrensleitung, der durch eine Verlagerung der Verantwortung für die Entscheidung über eine wesentliche Verfahrenshandlung (nämlich die Form der Durchführung der mündlichen Verhandlung) auf die Prozessparteien Ausdruck verliehen wird. Dies wird der Stellung der unabhängigen Justiz im gewaltengeteilten Rechtsstaat nicht gerecht. Es darf auch bezweifelt werden, dass dies der breiten Akzeptanz einer zunehmend digitalen Verfahrensführung dient.

b) Nicht jeder Fall ist für die Durchführung einer Videoverhandlung   gleichermaßen geeignet. Die Grundentscheidung der ZPO für eine regelhaft in Präsenz der Parteien und des Gerichts stattfindende Verhandlung hat sich – auch in Ansehung der neuen technischen Möglichkeiten und der zunehmenden Verbreitung digitaler Kommunikation im Alltagsleben – im Grundsatz bewährt. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten bieten demgegenüber eigene Vorteile, die im Sinne einer effizienten Verfahrensführung in geeigneten Fällen voll ausgeschöpft werden sollten. Dies zu beurteilen ist in erster Linie Aufgabe des Gerichts, dem die Verfahrensleitung obliegt. Die Verfahrensleitung ist von jeher originäre Aufgabe des Gerichts, das hierfür auch die Verantwortung trägt. Auch weiterhin muss es Aufgabe des konkreten Spruchkörpers bleiben zu beurteilen, ob der konkrete Einzelfall für die Durchführung einer Videoverhandlung geeignet ist. Etwa bei der Erörterung reiner Rechtsfragen oder zur weiteren Verfahrensgestaltung kann es durchaus zielführend und zur Vermeidung unnötiger Anreisen auch erstrebenswert sein, per Videokonferenztechnik zu verhandeln. Oft kommt es jedoch darauf an, sich einen Eindruck zu verschaffen, um feine Nuancen und Zwischentöne wahrnehmen sowie jederzeit reagieren und interagieren zu können. Das Gericht kann die Verantwortung für die Entscheidung – insbesondere bei Beweisaufnahmen (§ 284 Abs. 2 ZPO-E) – nur dann in vollem Umfang übernehmen, wenn es dem Verfahren den von ihm für notwendig gehaltenen Rahmen gibt. Zwar sind Videoverhandlungen für die Durchführung von Beweisaufnahmen nicht generell ungeeignet. Es kann vielmehr sachgerecht sein, etwa sachverständige Zeugen oder im Ausland oder weit entfernt ansässige Zeugen per Videoverhandlung zu vernehmen. Die abschließende Entscheidung, ob es für eine sachgerechte Beweiserhebung notwendig ist, den Zeugen persönlich zu vernehmen, muss aber – nicht nur in atypischen Ausnahmefällen – beim Gericht verbleiben. Es wäre mit dem Anspruch der dritten Staatsgewalt im gewaltengeteilten Rechtsstaat unvereinbar, wenn sich das Gericht zu einer abschließenden Beweiswürdigung nicht in der Lage sähe, weil es etwa die Glaubwürdigkeit eines Zeugen wegen der durch die Videoübertragung eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten nicht endgültig beurteilen könnte (und dies dann auch so im Urteil niederlegen müsste). Dass die vorgesehenen Kommunikationsmöglichkeiten ausreichend sind, um eine sachwidrige Beeinflussung von Zeugen (etwa von weiteren, unerkannt im Raum befindlichen Personen) festzustellen und ggf. zu unterbinden, darf bezweifelt werden. Der Aufenthalt „an einer vom Gericht näher zu bestimmenden Gerichtsstelle“ (§ 284 Absatz 2 Satz 3 ZPO-E) erlaubt jedenfalls dem erkennenden Gericht keine Beurteilung aus eigener Anschauung und ist überdies auch nicht der gesetzliche Regelfall. Problematisch erscheint hier auch, dass anders als bei einem ersuchten Richter, das erkennende Gericht den Termin bestimmt, ein fremdes Gericht aber jederzeit Räumlichkeiten in potentiell unbegrenztem Umfang zur Verfügung stellen muss. Wie das praktisch funktionieren soll, ist unklar.

In Güteverhandlungen und Erörterungen wird oftmals intensiv um mögliche Lösungen und Aspekte auch außerhalb des Rechtlichen mit großer persönlicher Betroffenheit gerungen. In Beweisaufnahmen kommt es auf persönliche Eindrücke, Nachfragen und Interaktionen an, die über Videotechnik selbst im Falle ihres reibungslosen Funktionierens nicht in gleicher Weise gewährleistet werden können und deren Einsatz dabei daher nur in geeigneten Fällen sinnvoll und gerechtfertigt erscheint, zumal die damit verbundene zusätzliche Belastung und Herausforderung insbesondere etwa auch für die Zeugen nicht verkannt werden darf.

Das erkennende Gericht kann bei der Beurteilung der Frage, ob der Rahmen eines gemeinsamen Verhandelns in einem Gerichtssaal im konkreten Verfahren angemessen und geeignet ist, um die besondere Bedeutung und damit für alle Beteiligten einhergehende Verantwortung eines gerichtlichen Verfahrens bewusst und ersichtlich zu machen, nicht ausgesperrt werden. Dies gilt gerade auch in Abgrenzung zu anderweitigen Zusammentreffen, Gesprächen und Erörterungen. Die Erfahrungen zeigen, dass auch im digitalen Zeitalter oftmals die größte Bürgernähe und Transparenz des Rechtsprechungsvorgangs gerade in einer mündlichen Verhandlung in Präsenz aller Beteiligten erzeugt wird. Die Abwägung, ob die mündliche Verhandlung zweckmäßigerweise in Präsenz oder in einem Video-Format durchzuführen ist, muss der Einschätzung des Gerichts überlassen bleiben. Es wäre ein unzulässiger Eingriff in die Prozessleitung des Gerichts, wenn es gerade in dieser Frage der Disposition der Parteien unterworfen würde. Ein massiver Autoritätsverlust richterlichen Agierens wäre die Folge. Die ZPO in ihrer bisherigen Fassung hat mit guten Gründen davon abgesehen, richterliche Prozessleitungsmaßnahmen – außerhalb solchen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten – einem eigenständigen Rechtsmittel zu unterwerfen.

Eine Soll-Vorschrift würde demgegenüber bewirken, dass das Gericht nur in atypischen Ausnahmefällen von einem übereinstimmenden Antrag auf Durchführung einer Videoverhandlung abweichen dürfte. Etwa bei Beweisaufnahmen oder in Fällen, in denen das Gericht einen persönlichen Eindruck von den oder einzelnen Verfahrensbeteiligten für notwendig hält, oder bei einem komplexen oder komplizierten Prozessstoff, wäre das richterliche Ermessen durch eine Soll-Vorschrift unsachgemäß stark eingeschränkt. Es handelt sich hierbei nicht nur um atypische Ausnahmefälle. Beweisaufnahmen sowie komplexe und komplizierte Prozessstoffe gehören vielmehr zum ganz normalen Gerichtsalltag und erfordern eine verstärkte Aufmerksamkeit aller am Verfahren beteiligten Akteure – auch und gerade des Gerichts. 
Dass die Begründung des Referentenentwurfs in einem übereinstimmenden Parteiantrag ein „starkes Indiz dafür (sieht), dass die Verhandlung grundsätzlich für eine Bild- und Tonübertragung geeignet ist“ (S. 36), überzeugt in dieser Allgemeinheit nicht. Es ist sicherlich richtig, dass das Gericht bei einem übereinstimmenden Parteiantrag – wie es in der Begründung des Referentenentwurfs weiter heißt – „besonders sorgfältig abwägen und (…) begründen muss, warum es (…) doch zu einer ablehnenden Entscheidung kommt“. Dies gilt aber nicht nur in atypischen Ausnahmefällen. Dem wird nur eine Regelung gerecht, die die Entscheidung in allen Fällen in die Verantwortung und das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellt. Eine Soll-Vorschrift ist hier nicht das richtige Instrument, denn sie erhöht nicht (wie in der Begründung des Referentenwurfs unterstellt) die Begründungsanforderungen, sondern schränkt den Anwendungsbereich der Ermessensausübung insgesamt ein.

Die Prozessleitung durch das Gericht dient nicht zuletzt auch dem Schutz der Rechte (insbesondere Persönlichkeitsrechte) aller an der Verhandlung teilnehmenden Prozessbeteiligten. Dieser Verantwortung kann das Gericht nicht voll gerecht werden, wenn es keinen Einfluss auf die Art der Durchführung der mündlichen Verhandlung mehr hat.

c) Die geplante Regelung widerspricht Grundprinzipien des Zivilprozesses und der übrigen Verfahrensordnungen und ist mit der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar. 

Die Verfahrensleitung obliegt im deutschen Zivilprozessrecht und auch in den übrigen Gerichtszweigen dem Gericht, das dafür als Teil der dritten Staatsgewalt auch die Verantwortung zu tragen hat. Die Vorbereitung der Entscheidung und damit zusammenhängende Verfahrensgestaltung gehört daher auch zum Kernbereich richterlicher Unabhängigkeit. Damit ist es unvereinbar, die Verantwortung für entscheidungsvorbereitende Verfahrensschritte (von Ausnahmen abgesehen, wie etwa Entscheidungen über Befangenheitsanträge) den Prozessparteien oder Rechtsmittelgerichten zu übertragen und damit dem unmittelbaren Zugriff des erkennenden Gerichts zu entziehen. 

Die Vorstellung, dass dem verhandlungsführenden Richter von dritter Seite (seien es Anwälte, sei es das Beschwerdegericht) vorgeschrieben werden könnte, entgegen der von ihm im konkreten Fall für notwendig erachteten Weise zu verhandeln, ist hiermit unvereinbar. Die diesbezügliche Entscheidung fällt in die ureigene Kompetenz des entscheidenden Richters, dem die Verhandlungsleitung obliegt und der sie entsprechend zu gestalten hat. Gleichzeitig stellt die vorgesehene sofortige Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung auch einen Bruch mit allen bisherigen Prozessrechtsgrundsätzen dar, dass Verfahrensentscheidungen im Vorfeld der Sachentscheidung einer isolierten Anfechtung grundsätzlich entzogen sind. Dies berücksichtigt etwa auch § 128 Absatz 2 Satz 1 ZPO, wonach es selbst bei übereinstimmendem Antrag der Parteien auf Durchführung eines schriftlichen Verfahrens im Ermessen des Gerichts steht, ob es eine mündliche Verhandlung für entbehrlich hält und eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren als ausreichend ansieht. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, welche Umstände und Gründe es rechtfertigen sollen, hiervon gerade im Zusammenhang mit der Frage der Durchführung einer Videoverhandlung abzuweichen.

Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift ist ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die richterliche Verfahrensleitung, die einen Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit darstellt. Gleiches gilt für die Anfechtbarkeit der ablehnenden Entscheidung im Wege der Beschwerde. Die richterliche Unabhängigkeit ist hierbei kein Privileg, nach Gutdünken oder gar ohne sachliche Gründe zu entscheiden, sondern Korrelat der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz sowie der Verantwortung für die gerichtliche Entscheidung. Es ist dem Gerichtsverfahren daher seit jeher immanent, dass das Gericht über die Entscheidung vorbereitende Handlungen selbst und in eigener Verantwortung entscheidet und dass erst die Endentscheidung zur Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht steht. 

Würde die Verantwortung für die Verfahrensführung auf das Beschwerdegericht ausgelagert, könnte das erkennende Gericht nicht mehr die volle Verantwortung für die Entscheidung übernehmen. Aus gutem Grund sind richterliche Verfahrenshandlungen in der bisherigen Ausgestaltung der Prozessleitung daher nicht gesondert anfechtbar. Sie stehen vielmehr zusammen mit dem Rechtsmittel gegen die Hauptsache auf dem Prüfstand der Rechtskontrolle durch die Rechtsmittelgerichte. Hier findet auch eine Überprüfung auf Verfahrensfehler statt. Bereits jetzt ist die Ermessenentscheidung des Gerichts über einen Antrag auf Durchführung einer Videoverhandlung daher justiziabel (vgl. z. B. BVerwG vom 4.6.2021 - 5 B 22/20 D = Buchholz 300  § 198 GVG Nr 13 = juris RdNr 12; BSG vom 29. März 2022, B 8SO 1/22 BH, RdNr. 8). 

d) Auch im Hinblick auf den Vorrang konsensualer Streitbeilegung stellt die Soll-Vorschrift einen Fremdkörper dar. 

Der Vorrang konsensualer Streitbeilegung gehört zu den Grundpfeilern aller Verfahrensordnungen (vgl. für den Zivilprozess § 278 ZPO). Sie dient nicht nur dazu, lang dauernde und ausufernde Prozesse zu vermeiden; eine gütliche Streitbeilegung dient vor allem dem Rechtsfrieden nachhaltiger, als dies eine streitige Entscheidung kann (vgl. BT-Drs 14/4722, S. 62), weshalb die einverständliche Konfliktlösung auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung ist (BVerfG NJW-RR 2007, 1073; Zöller-Greger, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 278 RdNr. 1). 

Ohne den persönlichen Austausch lässt sich eine einvernehmliche Lösungserarbeitung durch die Parteien selbst anstelle einer richterlichen Entscheidung, sei es im Rahmen einer Güteverhandlung, sei es im Rahmen einer Mediation, schwerer umsetzen. Erfahrungen, die auch und gerade auf Rückmeldungen aus der Anwaltschaft beruhen, zeigen, dass die Chancen, insbesondere schwierige und umfangreiche Verfahren im allseitigen Interesse einem Vergleich zuzuführen, in einer herkömmlichen mündlichen Verhandlung unter Anwesenheit aller Beteiligten im Gerichtssaal um ein Vielfaches höher sind als bei einer Videoverhandlung. Der Grund hierfür liegt nach unserer Überzeugung darin, dass die Bereitschaft, verbindlich-konstruktiv am Zustandekommen konsensualer Lösungen mitzuwirken, im unmittelbaren persönlichen Kontakt ungleich größer ist, als in der vergleichsweise unpersönlich-distanzierten Atmosphäre einer Videoverhandlung. Gerade dem Gericht als neutraler Instanz kommt bei einer solchen konsensualen Lösungssuche eine wichtige Funktion zu. Ob ein Verfahren hierfür geeignet ist, sollte daher nicht unter Ausschluss des Gerichts entschieden werden. Denn dann würden ein Großteil des in einer konsensualen Streitbeilegung für den Rechtsfrieden liegenden Potentials ungenutzt bleiben. 

e) Hinzu tritt, dass der Entwurf (verwiesen sei hier insbesondere auf die Abs. 2-4 zu § 128a ZPO) mit Blick auf die Verfahrensleitung ein komplexes, in der Praxis schwer handhabbares und aufwendiges System von Anordnungen, Ausnahmen, Gestattungen und Belehrungen unter Fristsetzung vorsieht, dessen Sinnhaftigkeit sich dem erfahrenen Zivilrichter nicht erschließt. Die vorgesehene Beschwerdemöglichkeit wird außerdem nicht nur unnötigen bürokratischen Aufwand, sondern auch erhebliche zeitliche Verzögerungen im Verfahrensablauf erzeugen. Denn entgegen dem Ziel der Neuregelung, zu einer Verfahrensbeschleunigung beizutragen, wird insbesondere eine Beschwerdemöglichkeit zur Verlegung von Terminen und damit zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen. Die Verfahrensvorschriften sind insgesamt viel zu kompliziert, dadurch kaum zu durchdringen und deswegen sehr fehleranfällig. Verfahrensbeschleunigung und Effizienz bleiben so auf der Strecke. Die beabsichtigten Regelungen überfrachten das Verfahren über die Behandlung eines allseitigen Antrags auf Videoverhandlung mit einer bürokratischen und formalistischen Überregulierung, die den Zweck einer Verfahrensbeschleunigung konterkariert. Die Regelungen sollten daher deutlich vereinfacht werden (vgl. hierzu auch unten 2. zur vollvirtuellen Verhandlung).

f) Die geplanten Regelungen sind in der vorliegenden Form weiter geeignet, das Ansehen der Justiz und das Vertrauen der Bürger in die Justiz zu gefährden. Allerdings schaden Videoverhandlungen nicht grundsätzlich dem Ansehen der Justiz. Im Gegenteil ist die Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten zur Digitalisierung des Gerichtsverfahrens ein wichtiger Beitrag zu einer modernen und effizienten Justizgewährung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Das Potential, das die heute verfügbare Technik für eine bürgerfreundliche und flexible Verfahrensgestaltung bietet, sollte optimal genutzt werden, worauf die Begründung des Referentenentwurfs auch zu Recht hinweist. Es darf nicht der Eindruck einer rückständigen Justiz entstehen, die sich gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen verschließt und zum Nachteil der rechtsuchenden Bürger an überholten Verfahrensweisen festhält.

Vermittelt die Justiz jedoch den Eindruck, den neuen technischen Möglichkeiten hilflos gegenüberzustehen und nicht in der Lage zu sein, sie in eigener Verantwortung sachgerecht zu nutzen, wird dies zu einem massiven Autoritätsverlust der Gerichte führen, der der Funktion der dritten Staatsgewalt nicht gerecht wird. Gerichtsverfahren müssen in jedem Verfahrensstadium der vollen Kontrolle des jeweiligen Spruchkörpers unterliegen; sie können nicht gleichsam im Vorbeigehen oder nebenbei erledigt werden. Einer angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten einer sachgerechten Verfahrensleitung und über eine Videoübertragung nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehenden sitzungspolizeilichen Maßnahmen hilflos wirkenden Justiz wird es an der nötigen Autorität fehlen. Die Außenwirkung der Justiz wird Schaden nehmen, wenn der Zivilprozess zum Video-Meeting degradiert wird, in dem die Richter nur Zaungäste sind und keinen bestimmenden Einfluss mehr auf die Verfahrensleitung haben.


2. Zu § 193 Absatz 1 GVG-E (Vollvirtuelle Verhandlung):

Der Deutsche Richterbund hält die nach dem Referentenentwurf vorgesehene Möglichkeit, wonach sich nicht nur Verfahrensbeteiligte, sondern auch Mitglieder des Spruchkörpers an anderen Orten als dem Sitzungszimmer aufhalten und per Bild- und Tonübertragung an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können, für eine im Ausgangspunkt konsequente Weiterentwicklung der Videoverhandlung. Die Videoverhandlung kann nur dann ein Erfolgsmodell werden und sich als selbstverständlicher Teil des Gerichtsalltags etablieren, wenn die Richter, denen nach der ZPO die materielle und formelle Prozessleitung obliegt, in flexibler Weise und in eigener Verantwortung die mündliche Verhandlung in geeigneten Fällen als Videoverhandlung durchführen können. Hierzu gehört auch die Möglichkeit der Durchführung als vollvirtuelle Verhandlung.

Es bestehen in diesem Zusammenhang auch keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass das Gericht die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung gegenüber den Verfahrensbeteiligten nicht nur gestatten, sondern auch anordnen kann. Der Deutsche Richterbund hat bereits im Zusammenhang mit der Bewältigung von Massenverfahren darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, eine Videoverhandlung verpflichtend anzuordnen, in bestimmten Verfahrenskonstellationen zur Ressourcenschonung und besseren Planbarkeit hilfreich sein kann (vgl. DRB-Stellungnahme Nr. 1/2022 zu Massenverfahren; Vorschläge zur besseren Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz, Stand 13.05.2022 – abrufbar auf www.drb.de). Dabei soll es nach der Begründung des Referentenentwurfs als milderes Mittel auch weiterhin möglich sein, eine Videoteilnahme nicht anzuordnen, sondern lediglich zu gestatten, auch wenn die Möglichkeit einer bloßen Gestattung im Gesetzentwurf nicht mehr ausdrücklich geregelt ist.

Das Zusammenspiel der Anordnung einer Videoteilnahme und einer nach    § 128a Absatz 3 ZPO-E vorgesehenen Möglichkeit eines „opt out“, wonach Verfahrensbeteiligte auf fristgerechten Antrag hin von der Anordnung einer Teilnahme per Videoverhandlung auszunehmen sind, dürfte allerdings zu Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung und auch zu Akzeptanzproblemen führen. Erscheint eine Partei entgegen der Anordnung zur Videoteilnahme und ohne fristgerecht einen „opt out“-Antrag gestellt zu haben persönlich im Sitzungsaal, müsste sie – trotz ihrer Anwesenheit – als säumig betrachtet werden. Anderenfalls liefe das Instrument der Anordnung leer und es würde der Unterschied zwischen Anordnung und Gestattung einer Videoteilnahme eingeebnet. Dass ein schlichtes Erscheinen eine Säumnis nicht ausschließt, ist der ZPO indes nicht fremd.

Missverständlich formuliert ist § 128a Absatz 5 Satz 1 ZPO-E. Eine vollvirtuelle Verhandlung soll es möglich machen, dass auch die oder der Vorsitzende die Verhandlung nicht mehr aus dem Sitzungszimmer, sondern per Video von einem anderen Ort aus leitet. Diese Möglichkeit einer vollvirtuellen Verhandlung dürfte dann – so auch die Begründung des Entwurfs – nicht davon abhängen, ob ein Verfahrensbeteiligter entgegen der Anordnung unangekündigt im Sitzungsaal erscheint. Der Wortlaut des § 128a Absatz 5 Satz 1 ZPO-E („Nehmen sämtliche Verfahrensbeteiligte und die übrigen Mitglieder des Spruchkörpers per Bild- und Tonübertragung an der mündlichen Verhandlung teil, …“) könnte indes so verstanden werden, dass ein unangekündigtes Erscheinen die Möglichkeit der Durchführung einer vollvirtuellen Verhandlung ausschließt. Klarer und vorzugswürdig wäre demgegenüber die Formulierung: „Ist angeordnet, dass sämtliche Verfahrensbeteiligte … per Bild- und Tonübertragung an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, …“.

Wird die mündliche Verhandlung als vollvirtuelle Verhandlung durchgeführt, ist die Verhandlung gemäß § 128 Absatz 5 Satz 3 ZPO-E an einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht in Bild und Ton zu übertragen, wobei es sich bei dem Raum nicht um einen Sitzungssaal handeln muss. Es bestehen keine grundsätzlichen Einwände dagegen, die Öffentlichkeit der Verhandlung auf diese Weise herzustellen und es dadurch sogar zu ermöglichen, zeitgleich mehrere unterschiedliche Sitzungen in einen solchen Raum zu übertragen. Bedenken bestehen allerdings dagegen, dass die Übertragung in diesen Raum – anders als die Übertragung im Verhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht – nicht bidirektional, sondern lediglich in eine Richtung stattfinden soll. Die Begründung des Referentenentwurfs weist ausdrücklich darauf hin, dass keine Bild- und Tonübertragung aus dem öffentlichen Raum an die Aufenthaltsorte des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten stattfindet. Im Ergebnis können daher weder das Gericht noch die Verfahrensbeteiligten erfahren, wer die Verhandlung an diesem Ort verfolgt. Das Gericht kann sich daher auch nicht durch eigene Wahrnehmung davon überzeugen, dass eine Teilnahmemöglichkeit an diesem Ort gewährleistet ist, insbesondere dass die Übertragung an diesen Ort funktioniert und dass der Raum zugänglich ist. Gleichwohl soll das Gericht gemäß § 160 Absatz 1 Nummer 6 ZPO-E ausdrücklich die Feststellung in das Protokoll aufnehmen, wonach in den Fällen des § 128a Absatz 5   Satz 1 ZPO-E die Öffentlichkeit nach § 128a Absatz 5 Satz 3 ZPO-E – also durch Übertragung in den öffentlich zugänglichen Raum – hergestellt wurde. Auch den Verfahrensbeteiligten, insbesondere Parteien und Zeugen, dürfte es nicht zumutbar sein, die Verhandlung in einen „uneinsehbaren“ Raum zu übertragen, ohne hierbei zu ermöglichen, dass diese davon Kenntnis nehmen können, wer dort die Verhandlung verfolgt. Problematisch erscheint dabei nicht zuletzt, dass auf diese Weise Personen, die als Zeugen in Betracht kommen, die Verhandlung unbemerkt verfolgen könnten.

Vor dem Hintergrund der geschilderten Besonderheiten einer vollvirtuellen Verhandlung erscheint die Annahme des Entwurfs, wonach kein(!) finanzieller Erfüllungsaufwand zu erwarten sei, realitätsfern. Die Begründung, wonach die erforderliche technische Infrastruktur bereits vorhanden sei und der Entwurf lediglich die bereits vorhandenen Möglichkeiten zum Einsatz von Videokonferenztechnik in Gerichtsverfahren erweitere, greift zu kurz. Selbst in Ländern, in denen eine Ausstattung zur Durchführung von Videoverhandlungen auf Grundlage des aktuellen § 128a ZPO verbreitet vorhanden ist, könnte mit dieser Ausstattung eine vollvirtuelle Verhandlung nicht durchgeführt werden. Zum einen steigt die Anzahl der Personen, die gleichzeitig an einer Videokonferenz teilnehmen, wenn auch den Mitgliedern des Spruchkörpers gestattet wird, sich einzeln von anderen Orten aus per Video zuzuschalten. Die verbreitet verwendete Videokonferenz-Software Skype for Business zeigt aus technischen Gründen etwa nur fünf Videokonferenzteilnehmer gleichzeitig an. Dies ist unvereinbar mit der Notwendigkeit, dass sich alle Verfahrensbeteiligten und alle Mitglieder des Spruchkörpers zu jeder Zeit sehen müssen. Nicht zu folgen ist insoweit der Begründung des Entwurfs, wonach es genüge, wenn für jeden Videokonferenzteilnehmer lediglich die Möglichkeit bestehe, sich jeden Verfahrensbeteiligten und alle Mitglieder des Spruchkörpers jederzeit anzeigen zu lassen, was aber nicht die durchgehende gleichzeitige Anzeige aller Verfahrensbeteiligten und des Gerichts auf einem einheitlichen Bildschirm voraussetze. Eine Videokonferenz, in der nicht alle Teilnehmer gleichzeitig angezeigt werden, entfernt sich gravierend vom Leitbild einer mündlichen Verhandlung. Würden einzelne Teilnehmer einer Videokonferenz aus technischen Gründen vorübergehend ausgeblendet, wäre es für die anderen Teilnehmer unmöglich, deren nonverbale Kommunikation, etwa Gestik und Mimik, wahrzunehmen. Solche Defizite dürfen nicht hingenommen werden. Schon aus diesem Grund entstehen neue Anforderungen an Hard- und Software. Zum anderen entsteht erheblicher technischer und personeller Aufwand für die Einrichtung der Übertragungsräume für vollvirtuelle Verhandlungen, und zwar nochmals mehr, wenn auch eine bidirektionale Bild- und Ton-Übertragung durchgeführt wird.


3. Zu § 160a ZPO-E (Aufzeichnung von Aussagen):

Bereits nach der geltenden Regelung in § 160a ZPO ist es möglich, Zeugenaussagen u.a. entweder unmittelbar mit einem Tonaufnahmegerät oder als Diktat durch ein Mitglied des Spruchkörpers aufzuzeichnen. Welche Art der Aufzeichnung am zweckmäßigsten erscheint, entscheidet die oder der Vorsitzende. Gegen eine technikoffene Neufassung in § 160a Absatz 1 Satz 1 ZPO-E, die auch eine Aufzeichnung in Bild und Ton ermöglicht, bestehen keine Bedenken.

Der Gesetzentwurf sieht in § 160a Absatz 1 Satz 2 ZPO-E allerdings vor, dass Zeugenaussagen in Verfahren mit einem Streitwert oberhalb von 5.000 € auf Antrag einer Partei oder eines Nebenintervenienten unmittelbar in Ton oder in Bild und Ton aufgezeichnet werden sollen. Die Aufnahme einer derartigen Regelung mit einem intendierten Ermessen ist – in gleicher Weise wie auch in § 128a Absatz 2 ZPO-E bei der Anordnung der Videoverhandlung – abzulehnen. Die Entscheidung darüber, ob und wie eine Zeugenaussage aufzuzeichnen ist, unterfällt der originären Verhandlungsleitung des Gerichts. Gegen eine solche Entscheidung gibt es keinen Rechtsbehelf; auch nach der Neuregelung soll es keinen Rechtsbehelf geben. Umso mehr erscheint ein Antragsrecht in Gestalt einer Soll-Vorschrift als Fremdkörper. Hinzu kommt, dass die Wertgrenze von 5.000 € – mit der nach der Gesetzesbegründung sichergestellt werden soll, dass der Aufwand des Gerichts in einem wirtschaftlichen Verhältnis zum Wert der Sache stehen soll – in vielen Fällen kein sachgerechtes Kriterium für eine Entscheidung über eine unmittelbare Aufzeichnung darstellt. Eine Entscheidung über eine Aufzeichnung von Zeugenaussagen im Wege eines intendierten Ermessens in die Hände der Parteien zu legen, erscheint auch deswegen höchst problematisch, weil der Antrag auf Aufzeichnung einer Aussage als Druckmittel gegenüber einem Zeugen missbraucht werden könnte.

§ 160 Absatz 2 ZPO-E befasst sich damit, inwieweit vorläufige technische Protokollaufzeichnungen in ein verschriftlichtes Protokoll zu übernehmen sind. Der vorliegende Regelungsvorschlag birgt dabei die Gefahr, dass durch zukünftig regelmäßig zu erfolgende Transkriptionen von unter Umständen mehrere Stunden umfassenden Bild- und Tonaufzeichnungen erhebliche personelle Ressourcen bei den Gerichten gebunden werden. Denn gemäß § 160a Absatz 2 Satz 3 ZPO-E muss das Protokoll um den (vollständigen) Inhalt der vorläufigen Aufzeichnung ergänzt werden, wenn eine Partei dies bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens beantragt. Eine Transkription kann trotz entsprechenden Antrags gemäß § 160a Absatz 2 Satz 4 ZPO-E nur dann unterbleiben, wenn zusätzlich zur unmittelbaren Aufzeichnung auch das „wesentliche Ergebnis“ der Aussage vorläufig aufgezeichnet worden ist – also zusätzlich ein klassisches Diktat erfolgt ist. Dann muss nur dieses in das schriftliche Protokoll aufgenommen werden. Eine fast identische Regelung – Transkription der unmittelbaren Aufzeichnung auf Antrag, dies allerdings nicht, falls zugleich ein zusammenfassendes Diktat erfolgt ist – ist zwar bereits im derzeit geltenden § 160a Absatz 2 ZPO enthalten. Diese Regelung fristet allerdings schon aufgrund des Umstands, dass unmittelbare Tonaufzeichnungen von Aussagen noch eine seltene Ausnahme darstellen, ein Schattendasein. Mit einer Zunahme von Videoverhandlungen wird sich aber vermehrt die Frage nach der unmittelbaren Aufzeichnung von Aussagen und einer möglichen Transkription für das schriftliche Protokoll stellen.

Die Begründung des Referentenentwurfs, wonach eine erhebliche Mehrbelastung der Gerichte aufgrund des nur eingeschränkt bestehenden Anspruchs der Parteien auf Transkription nicht zu befürchten sei, greift dabei zu kurz. Denn da der Antrag auf Transkription nach dem Entwurf bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens gestellt werden kann, könnte das Gericht einer befürchteten Mehrbelastung nur dadurch entgehen, dass es im Falle einer unmittelbaren Aufzeichnung einer Aussage – gewissermaßen vorsorglich – gleichzeitig immer auch ein Diktat der Aussage vornimmt. Dass eine Mehrbelastung nur durch eine derartige vorsorgliche Doppelung vermieden werden kann, ist geradezu absurd. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag von Müller (e-justice 2022, 10, 13) erwägenswert, wonach eine Partei eine Transkription nur bis zum Beginn der unmittelbaren Aufzeichnung beantragen kann. Das Gericht kann dann in Kenntnis der praktischen Folgen entscheiden, ob die Aussage unmittelbar aufgezeichnet oder als Diktat aufgenommen wird.


4. Besonderheiten der Prozessordnungen

a) Zu Recht enthält der Referentenentwurf für die Sozialgerichtsbarkeit eine eigenständige Regelung zur Videoverhandlung in § 110a SGG und trägt dadurch den Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens angemessen Rechnung. Die Begründung des Referentenentwurfs verweist zutreffend auf die besondere Rolle und Bedeutung der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger. In Bezug auf das sozialgerichtliche Verfahren sollten die geplanten Regelungen daher nur in einzelnen Punkten nachgeschärft werden, um der Struktur des sozialgerichtlichen Verfahrens vollständig gerecht zu werden. Wegen der Einzelheiten verweisen wir auf die Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) Nr. 2/22, die wir in der Anlage nochmals beifügen.

b) Arbeitsgerichtliches Verfahren 

Der Referentenentwurf trägt den Besonderheiten der Arbeitsgerichtsbarkeit keine Rechnung. Für das arbeitsgerichtliche Verfahren wäre eine vollständige Übernahme der beabsichtigten Neuregelungen zur Videoverhandlung in §128a ZPO-E zu weitgehend. Von der darin vorgesehenen Anordnungsmöglichkeit einer Videoverhandlung sollte ebenso abgesehen werden wie von der Möglichkeit einer vollvirtuellen Verhandlung. Wir regen an, stattdessen eine dem § 110a SGG vergleichbare eigenständige Regelung in das Arbeitsgerichtsgesetz aufzunehmen. 

Die Rolle und die Bedeutung der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger ist in der Arbeitsgerichtsbarkeit dieselbe wie in der Sozialgerichtsbarkeit. In den arbeitsgerichtlichen Verfahren treten gleichermaßen gerichtsunerfahrene Verfahrensbeteiligte auf, für die es ohne besondere Verfahrenshandlungen möglich bleiben muss, das eigene Anliegen der oder dem Vorsitzenden, den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern und der Gegenseite vorzutragen. Dies muss durch einen möglichst leichten Zugang zu einer mündlichen Verhandlung in Präsenz gewährleistet werden und gilt insbesondere vor dem Hintergrund des  § 11 Absatz 1 Satz 1 ArbGG, nach dem die Parteien vor dem Arbeitsgericht den Rechtsstreit selbst führen können. Zudem handelt es sich insbesondere bei den Bestandsschutzstreitigkeiten um für die Bürger existenzielle Verfahren (vgl. die zutreffenden Ausführungen zur Sozialgerichtsbarkeit, S. 25 des Referentenentwurfs).

Ebenso ist die Anwesenheit des gesamten Spruchkörpers in Präsenz bei der mündlichen Verhandlung erforderlich, um sich gemeinsam einen Eindruck verschaffen, feine Nuancen und Zwischentöne wahrnehmen und jederzeit reagieren und interagieren zu können. Insoweit gilt es zu bedenken, dass der Spruchkörper aus einem Vorsitzenden und jeweils einem ehrenamtlichen Richter von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite besteht. Es ist für die Akzeptanz arbeitsgerichtlicher Urteile von enormer Bedeutung, dass die Spruchkörper von den Parteien als Einheit wahrgenommen werden. Dies sehen wir gefährdet, wenn die Mitglieder der Spruchkörper sich an unterschiedlichen Orten aufhalten. Auch besteht gerade bei ehrenamtlichen Richtern die Gefahr, dass diese sich dann nicht mehr in ausreichendem Maße einbringen können.

Von der Arbeitsgerichtsbarkeit werden die grundsätzlichen Bedenken gegen die Ermessensreduzierung bei übereinstimmenden Anträgen der Parteien auf Durchführung einer Videoverhandlung sowie die Anfechtbarkeit bei Antragsablehnung geteilt. Diese beabsichtigten Regelungen stehen dem arbeitsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz des § 61a ArbGG entgegen. Vor allem in Bestandsstreitigkeiten ist es sowohl für Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber von existenzieller Bedeutung, eine schnelle Entscheidung zu erlangen. Mit diesem Beschleunigungsgrundsatz lässt sich ein Beschwerderecht gegen ablehnende Entscheidungen auf Durchführung einer Videokonferenz und den damit verbundenen Verzögerungen des Verfahrens nicht vereinbaren. 

Dass sich eigenständige Regelungen für die Arbeitsgerichtsbarkeit empfehlen, zeigt auch die beabsichtigte Regelung in § 160a Absatz 1 Satz 2 ZPO-E. Die darin enthaltene Streitwertgrenze von fünftausend Euro ist dem arbeitsgerichtlichen Verfahren wesensfremd. Anders als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden keine Gerichtskostenvorschüsse entrichtet. Folglich ergehen vor Abschluss des Verfahrens in aller Regel auch keine Entscheidungen zum Streitwert, so dass sich im Falle einer Beweisaufnahme oftmals nicht rechtssicher feststellen ließe, ob die Voraussetzungen des       § 160a Absatz 1 Satz 2 ZPO-E erfüllt wären.

Abschließend bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die derzeitige technische Ausstattung der Sitzungssäle in der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht dazu geeignet ist, mündliche Verhandlungen regelmäßig als virtuelle Sitzungen abzuhalten. Viele Sitzungssäle sind noch gar nicht mit einer entsprechenden Ausstattung versehen und für die z.T. nur in geringem Umfang vorhandenen mobilen Videokonferenzgeräte müsste an den Gerichten der Zugang festgelegt werden, wobei fraglich ist, nach welchen Kriterien eine Priorisierung erfolgen könnte.

Ergänzend verweisen wir auf die Stellungnahme des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA) vom 9.1.2023, die wir ebenfalls in der Anlage nochmals beifügen.

c) Familiengerichtliches Verfahren 

Gemäß § 170 FamFG sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht öffentlich. Das gilt gleichermaßen für Familienstreitsachen  (§ 112 FamFG), in denen § 128a ZPO (und künftig ggf. auch § 284 Abs. 2  ZPO-E) über § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG anwendbar ist, wie für die übrigen Familiensachen, in denen § 32 Abs. 3 FamFG auf § 128a FamFG verweist. Das Gericht müsste also sicherstellen, dass der Beteiligte einer Videokonferenz an seinem Übertragungsort keinen Dritten gestattet, der Verhandlung oder Beweisaufnahme – sei es körperlich oder durch technische Mittel – beizuwohnen. Die Zulassung der Öffentlichkeit ist zwar kein absoluter Verfahrensmangel, kann aber gleichwohl die Aufhebung etwa mangels hinreichender Sachaufklärung rechtfertigen, wenn sich ein Beteiligter etwa vor Zuschauern weniger offen äußert (vgl z. B. OLG München B. v. 10.10.2005 – 31 Wx 068/05 zu einer Nachlasssache). Vor allem dient die Nichtöffentlichkeit aber dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beteiligten, die sich insbesondere insoweit sicher fühlen sollen, dass unbeteiligte Familienangehörige oder etwa neue Partner bei den Verhandlungen nicht zuhören oder zuschauen können. Die Einhaltung der Nichtöffentlichkeit ließe sich nur realisieren, wenn Gerichtspersonal vor Ort ist, die Anhörung also in einem Gerichtsgebäude stattfindet. Eine Ausnahme kann allenfalls dann gelten, wenn die Anhörung oder Vernehmung an einem Ort vorgenommen wird, an dem von Berufs oder Amts wegen zuverlässige Personen (wie Rechtsanwälte oder Notare) das Hausrecht ausüben (vgl etwa Abramenko in: Prütting/Helms, FamFG, § 32 Termin, Rn. 32).

Abgesehen davon, dass sich der Gesetzentwurf nicht dazu verhält, wie eine entsprechende Anwendung des § 128a ZPO im Rahmen des § 32 Abs. 3 FamFG erfolgen könnte, lässt sich dem § 32 Abs. 3 FamFG aber die hilfreiche Formulierung entnehmen, dass eine Erörterung im Wege der Videokonferenz nur dann erfolgen soll, wenn es sich um geeignete Fälle handelt. Für diese Frage der Geeignetheit spielt neben den oben genannten der Aspekt der Nichtöffentlichkeit eine erhebliche Rolle. Es sollte dem Gericht bzw. dem Vorsitzenden überlassen bleiben, die Geeignetheit festzustellen. Unterlaufen dabei Fehler, können diese im Rahmen der Anfechtung der Endentscheidung von den Obergerichten korrigiert werden.

d) Finanzgerichtliches Verfahren

Auch das finanzgerichtliche Verfahren hat Besonderheiten, denen durch die Regelungen zur Videokonferenz Rechnung getragen werden. Wegen der Einzelheiten verweisen wir auf die Stellungnahme des Bundes Deutscher Finanzrichterinnen und Finanzrichter.