Dringender Appell: Schutz für den Rechtsstaat in Israel!

Israel sieht sich derzeit der größten Herausforderung für seine demokratische Verfasstheit seit seiner Gründung vor 75 Jahren gegenüber. Die rechts-religiöse Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu strebt einen weitgehenden Umbau des Rechtsstaates an, der einem Abbau rechtsstaatlicher Strukturen gleichkommt. Dies führte zur größten Protestbewegung seit Gründung des Staates Israel, die seit Januar dieses Jahres immer breitere Unterstützung in der Gesellschaft erfährt.

Tiefgreifende Eingriffe in die Zuständigkeit und Besetzung von Gerichten, die Abschaffung unabhängiger Kontrollinstanzen der Exekutive und die Aufhebung der Selbstverwaltung der Anwaltschaft zielen darauf ab, wesentliche Schutzmechanismen einer liberalen Demokratie außer Kraft zu setzen. Weitere Eingriffe in Minderheiten-, Gleichheits- und Frauenrechte stehen zu befürchten.  

In der ersten Jahreshälfte hat die Regierung hierzu bereits eine Reihe von Gesetzentwürfen vorgelegt. Ein am 24. Juli 2023 von der Knesset beschlossenes Gesetz beschneidet künftig die Kompetenzen des Supreme Court bei der Überprüfung von Entscheidungen der Regierung und der Exekutive ganz erheblich. Für den Herbst wurde nun eine Reihe weiterer Gesetzesinitiativen angekündigt, die sich gegen Institutionen des Rechtsstaates richten, denen für die Aufrechterhaltung der staatlichen Gewaltenteilung eine herausragende Funktion zukommt. Hierzu zählen die Gerichtsbarkeit, die Unabhängigkeit der Rechtsberater der Ministerien und der Regierung sowie die Anwaltskammer.

 

Eingriff in die Unabhängigkeit der Judikative

Vehement verfolgt die Regierung ihr Ziel weiter, das Verfahren zur Wahl von Richterinnen und Richtern unter ihre Kontrolle zu bringen. Bisher werden alle Richterstellen in Israel von einer Richterwahlkommission besetzt. Dieser Kommission gehören neun Mitglieder an:

- zwei Vertreter der Knesset (Koalition und Opposition)

- zwei Minister (darunter der Justizminister)

- zwei Vertreter der israelischen Anwaltskammer

- drei Richter des Supreme Court.

Die bisherige Zusammensetzung der Richterwahlkommission gewährleistet ein erhebliches Mitspracherecht der Richter- und Anwaltschaft bei sämtlichen Entscheidungen. In der Vergangenheit waren Regierungen immer wieder dazu gezwungen, im Wege der Verständigung mit den anderen Ausschussmitgliedern Kompromisse einzugehen.

Dies will die Koalition nun ändern. Ziel ist es, insbesondere am Supreme Court Stellen unter Umgehung von Richter- und Anwaltschaft neu und vor allem regierungsfreundlich zu besetzen. Der Richterwahlkommission sollen künftig 11 oder noch mehr Mitglieder angehören, darunter sogenannte „Vertreter der Öffentlichkeit“, die vom Justizminister in alleiniger Verantwortung und nach eigenem Gutdünken ernannt werden. Die Anwaltschaft soll in der Kommission nicht mehr vertreten sein.

Dieser Gesetzentwurf stellt die Unabhängigkeit der Richter und damit den Rechtsstaat in Frage.

 

Eingriff in die Unabhängigkeit der Rechtsberater

Israel verfügt über ein besonderes System der vorgeschalteten Überprüfung von Entscheidungen der Regierung und der Ministerien durch weisungsunabhängige Rechtsberater („Legal Advisors“). Den Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern, die fachlich allein der Generalstaatsanwältin als oberster Rechtsberaterin der Regierung verantwortlich sind, kommt die Aufgabe zu, in Rechtsgutachten Entscheidungen der Ministerien bzw. der Regierung vorab auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Die Gutachten der Rechtsberaterinnen und Rechtsberater gelten als verbindlich.

Die Koalition plant, diesen Gutachten nur noch Empfehlungscharakter zuzubilligen und ihnen die Rechtsverbindlichkeit zu nehmen. Die Beraterinnen und Berater sollen zudem ihre unabhängige Stellung verlieren.

Ein derartiges Vorhaben würde eine unabhängige Kontrollinstanz, der im israelischen Rechtsstaat eine herausgehobene Position zukommt, ausschalten.

 

Eingriff in die Unabhängigkeit der anwaltlichen Selbstverwaltung

Die israelische Anwaltschaft ist selbstverwaltet verfasst durch die Israel Bar Association. Sie organisiert als unabhängiges statutarisches Selbstverwaltungsorgan mit Ausnahme der Richterschaft alle Juristinnen und Juristen mit der Befähigung zum Richteramt, auch wenn sie im öffentlichen Dienst tätig sind. Die Israel Bar Association ist in der Richterwahlkommission vertreten und auch zuständig für die Prüfung und Zulassung zur Anwaltschaft. Die Anwaltschaft ist in Israel anerkannter Teil der staatlichen Gewaltenteilung.

Die Koalition hat in der Knesset einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Anwaltskammer durch einen „Anwaltsrat“ ersetzen soll, der ebenfalls allein vom Justizminister ernannt werden soll. Dieser „Anwaltsrat“ soll auch berufsrechtliche und disziplinarische Verfahren übernehmen.

Die Auflösung der Israel Bar Association als autonome Selbstverwaltung der Anwaltschaft stellt einen massiven Eingriff in die rechtsstaatlichen Strukturen Israels dar.

 

Appell zum Erhalt rechtsstaatlicher Strukturen

Die unterzeichnenden Organisationen sind angesichts dieser Entwicklungen alarmiert und in höchster Sorge um den Fortbestand des Rechtsstaats und der Demokratie in Israel. Der Versuch, dem Justizministerium in vielen Bereichen Alleinentscheidungsbefugnis unter Ausschluss der Richter- und Anwaltschaft einzuräumen, stellt eine Abkehr von rechtsstaatlichen Strukturen sowie eine faktische Abschaffung der Gewaltenteilung dar.

Als Freunde Israels erklären wir uns solidarisch mit den Anwältinnen und Anwälten, den Richterinnen und Richtern, Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern in Israel, die gegen den von der Regierung beabsichtigten Umbau von Justiz und Verwaltung protestieren.

Wir stehen fest an der Seite derjenigen, die sich für den Rechtsstaat und die Demokratie in Israel einsetzen.

 

Brigitte Zypries, Präsidentin - Deutsch-Israelische Juristenvereinigung e. V. 

Rechtsanwältin Dr. Vera Hofmann, Präsidentin - Rechtsanwaltskammer Berlin

Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident - Bundesrechtsanwaltskammer

Vizepräsidentin des Landgerichts Andrea Titz, Vorsitzende - Deutscher Richterbund, Bund der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte e.V.

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Joachim Lüblinghoff, Vorsitzender - Deutscher Richterbund, Bund der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte e.V.

 

Ansprechpartner

Bild von Matthias Schröter Matthias Schröter Pressesprecher
Telefon030 / 206125-12 Fax 030/ 206125-25 E-Mail schroeter@drb.de