#9/2024

Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf zur Änderung des Zuständigkeitsstreitwerts der Amtsgerichte, zum Ausbau der Spezialisierung der Justiz in Zivilsachen sowie zur Änderung weiterer prozessualer Regelungen

 

A. Tenor der Stellungnahme

 

Gegen die vorgesehene Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes auf 8.000 €, die die Anpassung an die Geldwertentwicklung der letzten 30 Jahre und die Stärkung der Amtsgerichte in Zivilsachen bezweckt, bestehen nach überwiegender Auffassung der von uns vertretenen Mitglieder keine grundsätzlichen Bedenken.

Gleiches gilt für die beabsichtigte streitwertunabhängige Zuweisung weiterer Sachgebiete an die Amtsgerichte und die Landgerichte. Zu begrüßen ist das damit grundsätzlich verfolgte Ziel der Spezialisierung und Verbesserung einer effizienten Verfahrensführung.

Die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes und die damit einhergehende Verschiebung der gerichtlichen Zuständigkeit darf allerdings nicht dazu führen, dass hieraus eine Reduzierung des insgesamt – über alle Gerichte hinweg – erforderlichen Personalbedarfs gefolgert wird. Denn die Verfahren, die zukünftig in der Eingangsinstanz statt am Landgericht am Amtsgericht verhandelt würden, bleiben in ihrer Komplexität die gleichen, auch wenn das Personalbedarfsberechnungssystem PEBB§Y den Amtsgerichten deutlich weniger Zeit zur Erledigung zuweist als den bislang zuständigen Landgerichten.

Daher ist es im Zuge der Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes unabdingbar, dass das aktuelle Personalbedarfsberechnungssystem an die Gesetzesänderung sachgerecht angepasst wird. Dies gilt sowohl für die Amtsgerichte, aber auch für die Landgerichte und Oberlandesgerichte, deren Personalbedarf nach wie vor auf der Grundlage der PEBB§Y-Fortschreibung 2014 und der damals ermittelten Basiszahlen berechnet wird. Ohne eine Neubewertung der Zivilverfahren der Gerichte in den verschiedenen Instanzen droht der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine massive Absenkung des rechnerischen Personalbedarfs, der nicht gerechtfertigt ist, weil die Verfahren identisch und unverändert komplex bleiben. Eine Umsetzung des Gesetzesvorhabens ist daher nur vertretbar, wenn gleichzeitig eine sachgerechte Anpassung der Personalbedarfsberechnung für die Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte erfolgt.

Angesichts der gesetzgeberischen Zielsetzung ist nicht nachvollziehbar, dass die ursprünglichen Überlegungen zur gleichzeitigen Erhöhung der Berufungs- und Beschwerdewertgrenzen sowie der Wertgrenze für das vereinfachte Verfahren gemäß § 495a ZPO keine Berücksichtigung gefunden haben. Der Gesetzesentwurf sollte daher unbedingt entsprechend ergänzt werden.

 

B. Bewertung im Einzelnen

 

I. Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes nur bei einer gleichzeitigen Anpassung des Personalbedarfsberechnungs-systems für alle Zivilgerichte

Gegen die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes bestehen nach überwiegender Einschätzung der von uns vertretenen Mitglieder keine grundsätzlichen Bedenken, auch wenn nicht ausreichend klar geworden ist, auf welcher Grundlage der Wert von 8.000 € zustande gekommen ist. Nach wie vor sind laut der Entwurfsbegründung die konkreten personalwirtschaftlichen Auswirkungen einer Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes auf 8.000 € nicht zuverlässig ermittelt worden.

Nach vereinzelten Schätzungen verschiedener Gerichte bewegen sich die Verschiebungen von den Landgerichten zu den Amtsgerichten im Bereich von 6 % bis ca. 20 % der Verfahren. Für Nordrhein-Westfalen ist ausweislich eines gemeinsamen Berichts der dortigen Oberlandesgerichte bei einer Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes auf 8.000 € ein massiver Rückgang von insgesamt 84 Richterstellen für die ordentliche Gerichtsbarkeit in NRW prognostisch ermittelt worden, ohne dass sich an den Verfahren und deren Komplexität irgendetwas verändern würde. Vergleicht man die aktuellen Basiszahlen der Landgerichte für die Verfahren, die künftig von den Amtsgerichten mit einem Streitwert bis zu 8.000 € bearbeitet werden sollen, so wird deutlich, dass eine Neubewertung unabdingbar ist. Beispielsweise wird aktuell ein Bau- und Architektenverfahren beim Landgericht mit einer Basiszahl von 1193 Minuten bzw. wegen einer höheren Kammerquote mit einem Zuschlag von 5 % mit 1235 Minuten bewertet. Ein vergleichbares Verfahren beim Amtsgericht würde ohne eine Neubewertung nur mit 322 Minuten bewertet. Ein Verkehrsunfall beim Landgericht wird mit 747 bzw. 785 Minuten bewertet; beim Amtsgericht mit nur 232 Minuten. Für sonstige Zivilsachen bei den Landgerichten fallen aktuell nach PEBB§Y 569 Minuten an, beim Amtsgericht nur 152 Minuten.

Diese Beispiele machen eines ganz deutlich: Das Reformvorhaben bringt massive personalwirtschaftliche Auswirkungen mit sich, die zu einem rein rechnerischen – nicht hingegen realen – und damit nur vermeintlich niedrigeren Personalbedarf in der Justiz insgesamt bei erhöhter Arbeitslast an den Amtsgerichten führen. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht sachgerecht sein kann. Darüber hinaus dürfte als Folge der Verschiebung der Streitwertgrenze auch der Personalbedarf bei den Oberlandesgerichten zurückgehen, wodurch Beförderungsstellen entfallen. Dies wird sich zwangsläufig auf die Attraktivität des Richterberufs auswirken.

Vor diesem Hintergrund muss eine Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes zwingend mit einer gleichzeitigen angemessenen personellen Aufstockung der Amtsgerichte einhergehen. Gleichzeitig ist allerdings auch eine sachgerechte Neubewertung der amtsgerichtlichen PEBB§Y-Produkte für die Zivilverfahren erforderlich, die den Amtsgerichten künftig mit einem Streitwert zwischen 5.000 € und 8.000 € und - soweit es die Nachbarschaftssachen betrifft - streitwertunabhängig zugewiesen werden sollen.

Diese Verfahren können nicht auf der Grundlage von Basiszahlen bewertet werden, die im Rahmen der letzten PEBB§Y-Erhebung 2014 bei den Amtsgerichten als durchschnittliche Bearbeitungszeiten ermittelt worden sind. Durch den Zuwachs von aufwändigeren Verfahren mit höheren Streitwerten ändern sich zwangsläufig die Verfahrensmixe, auf deren Grundlage 2014 die durchschnittlichen Bearbeitungszeiten ermittelt worden sind. Dass es zu Veränderungen des Personalbedarfs auch im Hinblick auf die Veränderung der Bearbeitungsdauer für Verfahren vor dem Amtsgericht bei höheren Streitwerten kommen wird, ist ausweislich der Entwurfsbegründung als grundsätzliches Problem erkannt worden.

Allerdings ist eine entsprechende Neubewertung der Verfahren nicht nur bei den Amtsgerichten, sondern auch bei den Landgerichten und Oberlandesgerichten veranlasst. Durch die Verlagerung der Zuständigkeiten fallen bei diesen Gerichten die eher unterdurchschnittlich aufwändigen Verfahren weg und damit die Verfahrensstruktur, auf deren Grundlage im Rahmen der letzten Fortschreibung die entsprechenden Basiszahlen ermittelt wurde. Zutreffend weist der gemeinsame Bericht der Präsidenten der Oberlandesgerichte in NRW darauf hin, dass ohne eine entsprechende Anpassung und Neubewertung der jeweiligen Produkte die Personalausstattung sämtlicher Gerichte qualitativ und quantitativ nicht mehr ihrem jeweiligen tatsächlichen Arbeitsanfall entsprechen würde. Dieser Befund wird auch nicht durch die Zuweisung der vorgesehenen streitwertunabhängigen Zuständigkeiten an die Landgerichte und Amtsgerichte nennenswert ausgeglichen. Die Presse-, Vergabe- und Heilbehandlungsverfahren unterhalb eines Streitwertes von 5.000 € betreffen verhältnismäßig wenige Verfahren und dürften daher nur zu geringfügigen Verschiebungen führen.

Ohne eine Neubewertung der PEBB§Y-Zahlen insgesamt droht eine nicht gerechtfertigte massive Absenkung des rechnerischen Personalbedarfs bei unveränderter Komplexität der Verfahren. Eine Umsetzung des Gesetzesvorhabens ist daher nur vertretbar, wenn gleichzeitig eine sachgerechte Anpassung der Personalbedarfsberechnung für die Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Kommission der Landesjustizverwaltungen für Personalbedarfsberechnung mit der Prüfung der Ermittlung der Veränderung des durchschnittlichen Bearbeitungsaufwandes für die Fallbearbeitung der Amts-, Land- und Oberlandesgerichte beauftragt worden ist. Da das Gesetz erst zum 1.1.2026 in Kraft treten soll, bleibt bis dahin genügend Zeit für eine sachgerechte und gleichzeitige Anpassung der Personalbedarfsberechnung der Zivilverfahren. Ein Abwarten bis zur Vorlage der Ergebnisse der frühestens für 2027 geplanten PEBB§Y-Neuerhebung ist nicht zumutbar.

 

II. Neue streitwertunabhängige Zuständigkeiten, § 23 b) Nr. 2 GVG-E und § 71 Abs. 2 Nr. 7-9 GVG-E

Die Auswahl der Sachgebiete, bei denen eine streitwertunabhängige Zuweisung an die Amts- bzw. Landgerichte erfolgen soll, wird als sachgerecht eingeschätzt und grundsätzlich begrüßt. Die Bündelung der Nachbarschaftsstreitigkeiten bei den Amtsgerichten beendet die nach Auffassung einiger Gerichte als „unwürdig“ anzusehenden Auseinandersetzungen um den Zuständigkeitsstreitwert für diese Verfahren. Allerdings sollte bedacht werden, dass die Bearbeitung von Nachbarschaftsstreitigkeiten, in die Gewerbebetriebe involviert sind, den am Amtsgericht üblichen Rahmen sprengen könnten. In Anlehnung an die streitwertunabhängige Zuweisung der Zuständigkeit für die Mietrechtsstreitigkeiten bietet sich eine Lösung dahingehend an, gewerbliche Nachbarschaftsstreitigkeiten von der Zuweisung auszunehmen.

Die streitwertunabhängige Zuweisung der Streitigkeiten über Ansprüche aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen sowie im Internet (Nr. 7), über Vergabe öffentlicher Aufträge oder Konzessionen (Nr. 8) und aus Heilbehandlungen (Nr. 9) an die Landgerichte wird ebenfalls für sinnvoll erachtet. Für Vergabesachen wird darüber hinaus auch eine Konzentration bei einem Landgericht für mehrere Bezirke angeregt, so wie es auch bei den Oberlandesgerichten erfolgt.

Diese streitwertunabhängigen Zuweisungen dürften sich auf die im Zuge der Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes vorzunehmende Anpassung der Personalbedarfsberechnung nur marginal auswirken.

 

III. Ergänzung des Gesetzesentwurfs um die Anhebung der Berufungs- und Beschwerdewertgrenzen sowie der Wertgrenze für Verfahren nach § 495a ZPO

Im Zuge der Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes sollten ebenfalls die Rechtsmittelwertgrenzen (Berufung und Beschwerde) sowie der für das vereinfachte Verfahren maßgebliche Streitwert moderat angepasst werden. Diese Anpassung ist sachgerecht, da die inflationsbedingte Geldentwertung der letzten Jahrzehnte hierfür in gleicher Weise gilt. Die durch die Anhebung des Zuständigkeitsstreitwertes eintretenden personellen Auswirkungen würden ohne eine entsprechende Anpassung unnötig verschärft, ohne dass hierfür ein unabweisbares Bedürfnis besteht. Auch die Belastung für die Landgerichte durch die zu erwartende Zunahme der Berufungsverfahren würde durch eine entsprechende Anhebung der Wertgrenzen abgemildert.

 

IV. Änderung der Verfahrensordnungen, § 102 ZPO-E, § 84 a FamFG-E, § 163 VWGO-E und § 146 FO sowie Anpassung des § 10 EGGVG-E

Die den Gerichten durch die Neuregelungen in den angeführten Verfahrensordnungen ermöglichte künftige Änderung der Kostenentscheidung von Amts wegen für den Fall einer nachträglichen Änderung des Streit- oder Verfahrenswertes ist zu begrüßen. Gleiches gilt für die in § 10 EGGVG-E vorgesehene Klarstellung, dass sich eine Abordnung von Richterinnen und Richtern an ein oberstes Landesgericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach den für die Oberlandesgerichte geltenden Regeln bestimmt.