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Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zu Änderungen beim Tatbestand der Beförderungserschleichung, § 265a StGB - Öffentliche Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Bundestages am 7.11.2018

A. Tenor der Stellungnahme

Der Deutsche Richterbund spricht sich für eine Anpassung des § 265a Strafgesetzbuch aus. Der Straftatbestand soll eingeschränkt werden.

Die Beförderungserschleichung soll nur noch strafbar sein, wenn Zugangsbarrieren- oder -kontrollen umgangen oder überwunden werden. Wer einfach in einen Bus oder eine Straßenbahn einsteigt, ohne irgendeine Form der Täuschung zu begehen oder einen Schutz gegen Schwarzfahrten zu umgehen, ist nicht strafwürdig. Es reichen zivilrechtliche Ansprüche der Verkehrsunternehmen aus - wie das erhöhte Beförderungsentgelt.

In erster Linie bleiben die Verkehrsbetriebe gefordert, vorbeugend mehr gegen Schwarzfahren zu tun – so wie das auch in der Vergangenheit war. Wirksame Zugangskontrollen der Unternehmen sind der beste Weg, um Schwarzfahrten mit Bahnen und Bussen effektiver zu verhindern. Denn derzeit ist die Gefahr des Entdecktwerdens im öffentlichen Nahverkehr eher gering.

B. Bewertung im Einzelnen

1. Auslegung des § 265a StGB

Umstritten ist die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Nutzung des Beförderungsmittels ohne Fahrkarte auch dann ein „Erschleichen“ darstellt, wenn keinerlei Sicherungs- oder Kontrollvorkehrungen überwunden werden müssen.

In der Literatur wird das Tatbestandsmerkmal vielfach eng ausgelegt. So setzt Perron in Schönke/Schröder, § 265a Rdnr. 8, 11, voraus, dass der Täter Kontrollmaßnahmen umgeht oder ausschaltet. Das Ausnutzen des Fehlens einer Kontrolle unterfalle nicht dem Wortlaut des „Erschleichens“ (ähnlich etwa Tiedemann in Leipziger Kommentar, § 265a Rdnr. 45 ff.).

Die Rechtsprechung hingegen legt den Tatbestand weit aus. Nach der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß gehaltenen Auslegung des Bundesgerichtshofs reicht es aus, wenn der Täter sich bei der Benutzung des Verkehrsmittels mit dem Anschein umgibt, die nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Damit greift der Tatbestand in praktisch fast allen Fällen, in denen ein Verkehrsmittel ohne Besitz einer gültigen Fahrkarte genutzt wird. Nach BGHSt53, 122, 124 setzt der Wortlaut der Norm weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Der Begriff der Erschleichung enthalte allenfalls ein täuschungsähnliches Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird.

2. Praktische Folgen

a) Massendelikt

Nach der Strafverfolgungsstatistik wurden im Jahr 2014 74.624 Personen wegen Erschleichens von Leistungen nach § 265a StGB abgeurteilt. Rechtskräftig verurteilt wurden 61.412 Personen. Da die übrigen Tatbestände des § 265a StGB eher ein Randdasein führen, dürften die Zahlen bezogen auf den Tatbestand der Beförderungserschleichung nur geringfügig darunter liegen.

b) Der weitaus größte Teil bleibt ohne strafrechtliche Konsequenzen

Trotz dieser hohen Zahl der Aburteilungen landet nur ein geringer Prozentsatz der angetroffenen Schwarzfahrer vor Gericht. So sind allein in Berlin im öffentlichen Nahverkehr im Jahr 2017 540 000 Schwarzfahrer erwischt worden. Die Diskrepanz entsteht u.a. dadurch, dass die Beförderungserschleichung ein Antragsdelikt ist und von den Verkehrsbetrieben in der Regel nur Wiederholungstaten zur Anzeige gebracht werden. Außerdem wird etwa ein Drittel der Fälle von den Staatsanwaltschaften nach Opportunitätsgesichtspunkten eingestellt.

c) Art der Verurteilung

In ca. 90 Prozent der Verurteilungen ergeht eine Geldstrafe. In knapp unter 10 Prozent der Fälle wird eine Freiheitsstrafe verhängt. In NRW werden in knapp einem Drittel der Fälle 16 bis 30 Tagessätze und in knapp der Hälfte der Fälle 31 bis 90 Tagessätze verhängt. Ebenfalls in NRW haben die Tagessätze in ca. 60 % der Fälle eine Höhe von 5 bis 10 Euro. In knapp einem Drittel der Fälle betragen die Tagessätze 10 bis 25 Euro. Höhere Tagessätze werden in weniger als 10 % der Fälle verhängt. Der Anteil der geringen Tagessatzhöhen steigt mit der Höhe der Tagessätze. Bei 91 bis 180 Tagessätzen beträgt die Tagessatzhöhe in ca. 70 % der Fälle 5 bis 10 Euro. Die niedrigen Tagessatzhöhen deuten darauf hin, dass die Mehrzahl der Schwarzfahrer über niedrige Einkommen verfügt. Mutmaßlich Wiederholungstäter unterfallen noch häufiger der untersten Einkommensgruppe.

d) Vollstreckung

Ein großer Anteil der zu einer Geldstrafe Verurteilten zahlt die Geldstrafe nicht, so dass eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wird. In Berlin verbüßten am 11. Januar 2018 104 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Erschleichens von Leistungen. Von den insgesamt 1.015 wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe in NRW Inhaftierten, die zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 13. April 2017 aus der Ersatzfreiheitsstrafe entlassen worden sind,  hatten 238 die Ersatzfreiheitsstrafe wegen einer Verurteilung nach § 265a StGB verbüßt. Das ist fast ein Viertel der zu einer Ersatzfreiheitsstrafe Verurteilten.

3. Reformbedarf

Sowohl die Rechtslage als auch die Praxis sind unbefriedigend. Daher sieht auch der Deutsche Richterbund einen Reformbedarf.

a) ultima-ratio-Prinzip

Dahinstehen kann, ob die sehr weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Erschleichens durch die Rechtsprechung überzeugend ist oder nicht. Denn eine Änderung der Rechtsprechung ist nicht in Sicht, so dass wir von ihr ausgehen müssen. In dieser Auslegung des Tatbestandsmerkmals genügt ein völlig unauffälliges Verhalten, um den Tatbestand zu verwirklichen. Die Gefahr des Entdecktwerdens ist im öffentlichen Nahverkehr eher gering. Ebenfalls gering ist der durch den einzelnen Schwarzfahrer verursachte Schaden beim Verkehrsunternehmen. Das heißt, dass die Tatbegehung allenfalls eine äußerst geringe kriminelle Energie erfordert. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das ultima-ratio-Prinzip sprechen deshalb für eine Reform der Gesetzeslage.

b) Aufwand der Strafverfolgung

Die Strafverfolgung von Schwarzfahrern ist teuer. Sie belastet Staatsanwaltschaften und Gerichte, aber auch die Justizvollzugsanstalten, in denen die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt wird. Dagegen haben die Verkehrsbetriebe Kosten eingespart, indem sie die Kontrollen verringert haben.

c) Fragwürdigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe

Da die Straftat des Schwarzfahrens typischerweise von Menschen begangen wird, die über wenig Geld verfügen, kommt es relativ häufig zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe, weil die verhängte Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Kurze Freiheitsstrafen sind aber generell fragwürdig; sie tragen kaum zur Resozialisierung der Täter bei. Hier sollte allgemein über eine Ausweitung von Programmen wie „Schwitzen statt Sitzen“ nachgedacht werden.

4. Mögliche Reformen

a) Gänzliche Streichung der Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung

Die Linke fordert in ihrem Gesetzentwurf die gänzliche Streichung der Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung. Das würde bedeuten, dass auch straflos bleibt, wer Kontrollmechanismen umgeht oder wer etwa im Zug den Eindruck vermittelt, nicht zugestiegen zu sein, wenn der Kontrolleur die Fahrscheine von allen neu Zugestiegenen sehen möchte. Damit würde auch solches Verhalten straflos, das eine höhere kriminelle Energie voraussetzt.

b) Eingrenzung der Tatbestandsalternative

Vorzugswürdig erscheint es deshalb, die Tatbestandsalternative der Beförderungserschleichung nicht gänzlich zu streichen, sondern einschränkend zu konkretisieren. So könnte die Tatbestandsvariante auf die Fälle begrenzt werden, in denen im weiteren Sinne Kontrollmechanismen umgangen werden. Dies können mechanische Kontrollen wie Drehkreuze sein. Das kann die Verpflichtung sein, im Bus vorne einzusteigen und dem Busfahrer die Fahrkarte vorzuzeigen. Das kann aber auch die regelmäßige Kontrolle von Neuzugestiegenen im Zug sein, der man sich etwa durch das Verlassen seines Platzes entzieht.

Hinzukommen könnte die Strafbarkeit des „einfachen Schwarzfahrens“ ohne Kontrollumgehung im Wiederholungsfall. Dagegen spricht, dass dies kaum zu einer Änderung der Praxis führen würde, weil bereits heute Strafanzeigen in der Regel erst im Wiederholungsfall erstattet werden. Außerdem müsste dann eine bundesweite Datei über Schwarzfahrer geführt werden, um den Wiederholungsfall rechtssicher feststellen zu können. Dies erscheint aus datenschutzrechtlichen Gründen fragwürdig, wäre aber auch mit einem hohen Aufwand verbunden.

c) Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit

Die Fälle, in denen die Strafbarkeit entfallen soll, könnten zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden.

Dafür spricht, dass der öffentliche Verkehr zur Daseinsvorsorge gehört und ein allgemeines Interesse daran besteht, dass die Nutzer des öffentlichen Verkehrs die fälligen Nutzungsentgelte bezahlen.

Zudem hätten Kontrolleure mehr Rückhalt, wenn das Schwarzfahren a auch öffentlich-rechtlich sanktioniert wäre.

Dem ultima-ratio-Prinzip würde entsprochen werden, ohne dass sich der Staat ganz der Sanktionierung des Schwarzfahrens entzieht.

Ein Herabstufen zur Ordnungswidrigkeit wäre jedoch unpraktikabel, da dann eine Behörde geschaffen werden müsste (oder einer bestehenden Behörde die zusätzliche Aufgabe übertragen werden müsste), um die Einhaltung der zivilrechtlichen Vorgaben zu kontrollieren und Verstöße durch Bußgeldbescheide zu sanktionieren. Zudem würden Staatsanwaltschaften und Gerichte bei einem Einspruch dennoch mit diesen Verfahren beschäftigt werden. Auch wäre eine Erledigung dieser Verfahren durch Zahlungsauflagen (nachträgliches Bezahlen des erhöhten Beförderungsentgeltes) nach § 153a StPO nicht mehr möglich, weil diese Norm im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht anwendbar ist.

Außerdem bliebe das Problem, dass im Wesentlichen Menschen mit Bußgeldern belegt würden, die sie aufgrund ihres niedrigen Einkommens ohnehin nicht bezahlen können.