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zur Konsultation der Europäischen Kommission zur Unschuldsvermutung

 

Der Deutsche Richterbund (DRB) ist der mit Abstand größte Berufsverband der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Deutschland. Über seine 25 Mitgliedsvereine gehören ihm mehr als 15.000 Richter und Staatsanwälte an. Im DRB sind Richterinnen und Richter aller Gerichtszweige sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte organisiert. Die vom Deutschen Richterbund verfolgten Ziele sind:
- die Förderung der Gesetzgebung, der Rechtspflege und der Rechtswissenschaft;
- die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und der unparteiischen Rechtsprechung;
- die Förderung der beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Belange der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte.
Entsprechend setzen sich der Deutsche Richterbund und seine Mitgliedsvereine gleichermaßen für die Sicherung und den Ausbau des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaats wie für die unmittelbaren beruflichen und sozialen Probleme der Richter und Staatsanwälte ein. Sie vertreten die Interessen der Mitglieder gegenüber Dienstherren, Parlamenten und Öffentlichkeit und nehmen durch regelmäßige Stellungnahmen zu rechts- und berufspolitisch wichtigen Gesetzesvorhaben maßgeblich Einfluss auf die Gesetzgebung in Bund und Ländern.

Der Deutsche Richterbund hält die Form der Konsultation zur Unschuldsvermutung über einen ausschließlich auf Englisch abrufbaren Online-Fragebogen, der von einer Consulting-Firma erarbeitet und ausgewertet wird, für unangemessen, um wichtige rechtspolitische Themen auf europäischer Ebene vorzubereiten. Er erlaubt sich daher, seine Antworten zur Konsultation Unschuldsvermutung vom März 2013 direkt an die Europäische Kommission, Generaldirektion Justiz, zu senden.

Für den Deutschen Richterbund ist die Unschuldsvermutung, wie sie in Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention und Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich festgeschrieben wurde und wie sie sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz ergibt, unverzichtbarer Bestandteil rechtsstaatlicher Strafverfolgung. Er begrüßt es daher, wenn auch durch die Europäische Kommission die Bedeutung der Unschuldsvermutung betont wird. Da die Unschuldsvermutung über die oben genannten Regelungen in EMRK und EU-Grundrechte-Charta bereits fester und unbestrittener Bestandteil europäischen Verfassungsrechts ist, ist die Notwendigkeit der vorliegenden Konsultation nicht erkennbar und zu bezweifeln, ob die durch sie gewonnenen Ergebnisse die Diskussion zur Harmonisierung von Beschuldigtenrechten auf europäischer Ebene zielführend befruchten können.
 
Zweifel am Inhalt und dem Ziel der Konsultation ergeben sich auch aus der im Fragebogen angelegten Vermengung von Fragen zur Unschuldsvermutung mit solchen zu anderen prozessualen Beschuldigtenrechten. Dies lässt auf eine Verkennung der Reichweite der Unschuldsvermutung und dadurch hervorgerufene fehlende Klarheit in der Aufgabenstellung schließen. Es ist daher erneut hervorzuheben, dass die Unschuldsvermutung über Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1 der EU-Grundrechte-Charta geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten der Union ist. Defizite in diesem Bereich sind daher keine Defizite im Bereich der europäischen Gesetzgebung, sondern ausschließlich solche des Vollzuges der Vorgaben der EMRK und der Charta in einzelnen Mitgliedstaaten. Die Umsetzung des europäischen Grundrechts der Unschuldsvermutung in nationale Gesetzgebung und der Vollzug der Rechtsprechung des EGMR ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Sofern sie dieser Aufgabe nicht nachkommen, ist es Aufgabe der Rechtsprechung des EGMR und des EuGH, Eingriffe in die Unschuldsvermutung im Einzelfall zu erkennen und abzuurteilen. Es ist nicht Aufgabe europäischer Gesetzgebung,  die Ausgestaltung der Unschuldsvermutung in den Mitgliedstaaten im Einzelnen zu harmonisieren. Dies wäre mit dem Subsidiaritätsgedanken unvereinbar.

Die in den Fragen zu den Sektionen 3-9 aufgeworfenen Fragen betreffen hingegen Bereiche der Beschuldigtenrechte, die bisher auf europäischer Ebene nicht oder kaum geregelt sind. Defizite in diesem Bereich könnten daher auch zu einem Harmonisierungsbedarf führen. Der Weg dorthin muss über die in der roadmap on procedural rights in criminal proceedings von 2009, die dort vorgeschlagenen Instrumente und die Fortschreibung der roadmap führen. Im Rahmen der Fortschreibung sind wissenschaftliche und politische Vorarbeiten unter Einbeziehung der Praxis unabdingbar. Eine umfassende Erhebung über die notwendige Fortschreibung der roadmap kann nicht über eine Konsultation zur Unschuldsvermutung erfolgen. Die vorliegende Konsultation ist daher von nur geringem Wert und darf insbesondere nicht dazu missbraucht werden, als Grundlage für die – notwendigen - Beratungen über die Fortschreibung der roadmap zu dienen.

Hinzu kommt, dass es aus Sicht des Deutschen Richterbundes fraglich erscheint, ob das gewählte Verfahren der Online-Konsultation, von einer Consulting-Firma ausschließlich auf Englisch mit einer Frist zur Stellungnahme von knapp einem Monat durchgeführt, überhaupt geeignet ist, eine Bestandsaufnahme zu erbringen, welcher der Bedeutung der Unschuldsvermutung und der Beschuldigtenrechte für das Strafverfahren gerecht wird.

Dennoch sollen einige Punkte zur Unschuldsvermutung aus Sicht des Deutschen Richterbundes angesprochen werden:

Zu Sektion 1 des Fragebogens, allgemeine Reichweite und Bedeutung:
In Deutschland genießen die Unschuldsvermutung neben der Bindung der Rechtsprechung und Verwaltung an die EMRK und – soweit einschlägig – die EU-Grundrechte-Charta Verfassungsrang.
Dabei bedeutet die Unschuldsvermutung, auch in Umsetzung der Vorgaben der EMRK, dass jede Maßnahme, die die Schuld eines Beschuldigten voraussetzt, bis zu deren Feststellung in einem justizförmigen Verfahren zu unterbleiben hat. Sie verbietet keine Strafverfolgungsmaßnahmen, sofern diese der Klärung des Sachverhaltes dienen und nicht endgültig sind. Die Schuld des Beschuldigten muss, in Nachfolge der Entscheidung Minelli vs Schweiz (ECHR 8660/79 vom 25. März 1983) in einem rechtsstaatlich fairen Verfahren festgestellt werden, in welchem der Beschuldigte sich verteidigen kann.
Die Unschuldsvermutung würde jedoch überspannt, wenn in sie die konkrete Ausgestaltung einzelner Verfahrensrechte hineingelesen würde. Auch in der Minelli-Entscheidung hat der EGMR nur festgestellt, dass die Unschuldsvermutung verletzt würde, sofern der Beschuldigte als schuldig gefunden wird, ohne dass er „seine Verteidigungsrechte“ hatte ausüben können (Rdnr. 37). Konkrete, ins Einzelne gehende Beschuldigtenrechte hat er dabei nicht angesprochen. Dies deckt sich auch mit Art. 6 EMRK, der in Absatz 3 einzelne Beschuldigtenrechte aufzählt. Dies wäre überflüssig, wenn die Unschuldsvermutung des Absatzes 2 diese Beschuldigtenrechte in ihrer konkreten Ausformung mit umspannen würde.
Auf dieser Ansicht fußt auch das deutsche Recht. Die in Sektion 2-9 des Fragebogens angesprochenen Beschuldigtenrechte sind daher nur indirekt Ausfluss der Unschuldsvermutung und stellen eigene Rechte dar.
Bei Verletzung der Unschuldsvermutung steht dem Betroffenen die Möglichkeit offen, dies im gegen ihn laufenden Strafverfahren zu rügen oder Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Letztere kommen insbesondere dann in Betracht, wenn vor einer rechtskräftigen Verurteilung durch Äußerungen der Eindruck erweckt wurde, seine Schuld stehe bereits fest.  Solche Äußerungen durch öffentliche Organe sind selten und meist nicht beabsichtigt, kommen aber vor.

Einfluss auf die Anerkennung von justiziellen Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten hat die Unschuldsvermutung oder deren Verletzung nicht. Probleme bei der gegenseitigen Anerkennung entstehen durch die Missachtung von konkreten Beschuldigtenrechten im Verfahren oder beim Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip.

Zu Sektion 2 des Fragebogens, das Recht, nicht als schuldig angesehen zu werden:
Neben dem bereits erwähnten Problem der Veröffentlichung von angeblicher Schuld eines Betroffenen vor dessen Verurteilung spielt die Unschuldsvermutung bei der Frage eine Rolle, ob beim Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung eine noch nicht rechtskräftige Vor- oder Nachverurteilung berücksichtigt werden kann (vgl. die hierzu ergangene Rechtsprechung, etwa des Bundesverfassungsgerichts in NJW 2005, S. 817).

Die Sektion 3-9 des Fragebogens betreffen, wie bereits oben erwähnt, Beschuldigtenrechte im Strafverfahren und damit nur in ihrer Gesamtheit die Unschuldsvermutung. Antworten zu den dort aufgeworfenen sehr komplexen Fragen sind im Rahmen dieser Online-Anhörung für den Deutschen Richterbund nicht möglich.

Zu Sektion 7 des Fragebogens, Untersuchungshaft:
Erwähnt werden soll hier nur die Selbstverständlichkeit, dass die Unschuldsvermutung der Untersuchungshaft grundsätzlich nicht entgegensteht. Untersuchungshaft setzt nicht die Schuld eines Betroffenen voraus, sondern nur den Verdacht einer Straftat und kann ein notwendiges Mittel zur Verfahrenssicherung und damit Klärung des Schuldvorwurfs sein. Dabei lässt das Bundesverfassungsgericht den Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen – auch wegen der Unschuldsvermutung – zwar nur ausnahmsweise zu, hält Untersuchungshaft dann jedoch für möglich, wenn der Freiheitsentzug zur Sicherung des Strafverfahrens notwendig und verhältnismäßig ist (BVerfG 2 BvR 1164/12 Beschluss vom 14. November 2012). Dieses Gebot wird in Deutschland beachtet.

Sektion 10 des Fragebogens, Aufgaben für die Gesetzgebung auf europäischer Ebene:
Wie oben bereits erwähnt, sieht der Deutsche Richterbund die Notwendigkeit, Beschuldigtenrechte im Strafverfahren zu harmonisieren. Dabei muss ein Ausgleich zwischen den jeweils bereits bestehenden Rechten von Beschuldigten in den einzelnen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der Aufgabe, gemeinsame europäische Standards zu entwickeln und in den Mitgliedstaaten durchzusetzen, gefunden werden. Es ist daher kaum möglich, hinsichtlich einzelner Beschuldigtenrechte ein Tätigwerden der Union per Mausklick zu fordern, bei  anderen hingegen nicht. Da die Harmonisierung von Beschuldigtenrechten zu erheblichen Eingriffen in die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten führt – und führen soll –, kann die Diskussion hierüber kaum isoliert für einzelne Beschuldigtenrechte geführt werden.
Die Fortentwicklung der Beschuldigtenrechte auf europäischer Ebene ist notwendig, die hierbei aufgeworfenen Fragen sind jedoch komplex und bedürfen genauer rechtswissenschaftlicher und praktischer Analysen. Der Deutsche Richterbund würde sich der Mitarbeit an solchen Analysen in geeigneter Form nicht verschließen, sieht die vorliegende Konsultation jedoch nicht als brauchbare Basis hierfür an.

gez. Dr. Peter Schneiderhan, Mitglied des DRB-Präsidiums