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zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (BT-Drs. 18/9416)

Hier: erweitertes Berichterstattergespräch im Deutschen Bundestag am 17.1.2017

 

Der Deutsche Richterbund unterstützt die Intention des Gesetzentwurfs, den Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologie auch im Bereich des Strafverfahrens zu ermöglichen. Der Fokus sollte dabei vor allem auf der Nutzung der Vorteile für die Verfahrensführung und der funktionsgerechten Unterstützung der täglichen Arbeit der Anwender in den Gerichten und Staatsanwaltschaften liegen. Zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit der Struktur der E-Akte sind bislang ungeklärt; bereits jetzt – erstmals für den Strafprozess – bundeseinheitlich eine Pflicht zur Führung von E-Akten zu regeln, erscheint daher verfrüht. Die geplante Regelung des Akteneinsichtsrechts für nicht verteidigte Beschuldigte und nicht anwaltlich vertretene Privatkläger ist zu weitgehend (vgl. im Einzelnen zu 5.).

1. Gegen die Einführung von E-Akten im Strafverfahren bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Bislang fehlen allerdings weitgehend praktische Erfahrungen mit einer elektronischen Aktenführung im Strafrecht. Die bisher durchgeführten Modellprojekte und Pilotprojekte (z.B. zum „eIP“ in Bayern, VIS-Justiz in Baden-Württemberg oder e2A in Nordrhein-Westfalen) betreffen ausschließlich das Zivilrecht; Erweiterungen auf die Fachgerichtsbarkeiten (etwa Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit) sind geplant. Ob die in dem vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen zum Strafprozess praxisgerecht sind oder einer Erweiterung oder Änderung bedürfen, kann wegen der fehlenden praktischen Erfahrungen derzeit nicht abschließend beurteilt werden.
In dieser Situation dürfte es nicht sachgerecht sein, den Strafprozess für die erstmalige bundeseinheitliche Verpflichtung zur E-Aktenführung herauszugreifen. Es sollte vorerst dabei bleiben, Modellprojekte oder Pilotverfahren zu ermöglichen. In Bezug auf erfahrungsgemäß erst dort auftretende Probleme müssen (auch) für das Strafverfahren realistische Verfahren zur Behebung entwickelt werden. Einem Gesetzentwurf sollte insoweit zumindest eine belastbare Prognose zugrunde gelegt werden. Es sollte nach unserer Überzeugung gemeinsam mit den Bundesländern ein Entwicklungs- und Zeitplan für die Einführung der E-Akten aufgestellt und eine belastbare Simulation der Einführungsphase auf Grundlage von Pilotprojekten zugrunde gelegt werden. Wegen der bislang fehlenden praktischen Erfahrung ist dies bei dem vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht der Fall.

2. Im Zusammenhang mit der E-Akte sind bislang zahlreiche Problembereiche ungeklärt.

a) Was der Gesetzentwurf etwa unter einer „elektronischen Akte“ versteht, ist nicht definiert, sondern wird beschrieben als „ein definiertes System elektronisch gespeicherter Daten“ (Begründung zu § 32 StPO-E). Dies ist im Hinblick auf die schnell fortschreitende Entwicklung der Informationstechnik grundsätzlich sachgerecht. Allerdings wird dadurch umso wichtiger, dass Bund und Länder bei den für ihre jeweiligen Bereiche zu erlassenden Regelungen von gleichen Voraussetzungen ausgehen. Die Diskussion, was genau eine E-Akte ist und wie sie konzipiert sein soll, ist aber noch in vollem Gang. Sie wird momentan geprägt von den zur Umsetzung des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 von den Bundesländern eingeleiteten Schritten. Unklar ist im Hinblick auf die oben zitierte Beschreibung einer E-Akte in der Begründung des Gesetzentwurfs insbesondere, ob die künftige E-Akte im Strafprozess ein elek-tronisches Abbild der bisherigen Papierakte und der in ihr dokumentierten Informationen sein soll, oder der Umfang des Akteninhalts erweitert werden soll, etwa um Metadaten und Zusatzinformationen. Bedeutung hätte dies insbesondere für den Umfang der Akteneinsicht: Umfasst die Einsicht die vollständige E-Akte, oder welche Teile?

b) Beispielhaft sei weiter etwa nur darauf hingewiesen, dass ein ausreichender Schutz des Beratungsgeheimnisses einschließlich des Schutzes vorbereitender Texte wie z. B. Voten vor dem unberechtigten Zugriff Dritter in dem vorliegenden Gesetzentwurf bislang keinen Niederschlag gefunden hat. Auch bestehen keine praktischen Erfahrungen, wie mit dem absehbaren

Problem umzugehen ist, dass nach Anbringung der Signaturen aller beteiligter Richter eines Kollegialgerichts an eine Entscheidung keinerlei Veränderungen am Dokument mehr vorgenommen werden können, d. h. auch keine anschließend noch entdeckten Rechtschreibfehler mehr korrigiert werden können. 

3. Die flächendeckende Umstellung des Strafverfahrens auf elektronische Arbeitsgrundlagen ist ein ambitioniertes Vorhaben, das nur gelingen kann, wenn es gründlich vorbereitet und sorgfältig durchgeführt wird und wenn hierbei alle Beteiligten intensiv und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Insbesondere ist zwingend erforderlich, der Entwicklung der E-Akten vollständige Verfahrensabläufe zugrunde zu legen (d. h. von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens etwa bei der Polizei oder der Steuerfahndung bis hin zur Revisionsinstanz und der Strafvollstreckung) und der Konzeption möglichst umfassend praktische Erfahrungen aus den unterschiedlichen Bereichen und Verfahrensstadien zugrunde zu legen. Zu Recht weist die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 32 Abs. 3 StPO-E (S. 44) daher auf das Erfordernis einheitlicher technischer Standards und insbesondere die Einbeziehung bereits bestehender polizeilicher IT-Systeme hin.

4. Die Ermächtigung zur bundeseinheitlichen Festlegung von Standards für die Aktenübermittlung durch Rechtsverordnung der Bundesregierung nach § 32 Abs. 3 StPO-E begrüßen wir ausdrücklich. Die Festlegungen müssen zusammen mit den von den Ländern nach § 32 Abs. 2 StPO-E für die Aktenführung zu regelnden Rahmenbedingungen und auch den technischen Rahmenbedingungen für die Übermittlung elektronischer Dokumente nach § 32a Abs. 2 Satz 2 StPO entwickelt werden. Die Verordnungsermächtigungen für die Übermittlung – etwa in § 32a Abs. 2 Satz 2, § 32b Abs. 5 StPO, § 130a Abs. 2 ZPO-E – sollten – wie vom Bundesrat gefordert (Nr. 3, 5, 9, 11 und 14 der Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drs. 18/9416 S. 89, 90, 93, 94, 97) – um die ausdrückliche Ermächtigung ergänzt werden, die Verpflichtung zur Übermittlung strukturierter Datensätze vorzuschreiben. Dadurch könnten Strukturdaten vorgegeben werden, die eine automatische Erfassung und Qualifizierung eingehender Dokumente und deren Inhalte (z. B. Aktenzeichen, Schriftsatz, bestimmte Anträge, Rubrumsdaten etc.) in der E-Akte ermöglichen. Die Erfahrungen in den bereits zum Zivilprozess laufenden Pilotverfahren haben gezeigt, dass durch die andernfalls notwendige händische Erfassung dieser Strukturdaten umfangreiche zeitliche und personelle Kapazitäten gebunden würden, die einen praktischen Nutzen der E-Aktenführung insgesamt in Frage stellen würden.
Von der Notwendigkeit, die Übermittlung von Metadaten vorzugeben, geht zu Recht auch die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung aus (BT-Drs. 18/9416 S. 104). Aus Sicht des Deutschen Richterbunds spricht nichts dagegen, die Verordnungsermächtigung zur Klarstellung entsprechend zu ergänzen.

5. Gegen die geplante Regelung eines uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts für nicht verteidigte Beschuldigte (§ 147 Abs. 4, Abs. 6 Satz 2 und Abs. 7 StPO-E) und anwaltlich nicht vertretene Privatkläger (§ 385 Abs. 3 StPO-E), Verletzte (§ 406e Abs. 3 StPO-E) und Betroffene (§ 49 Abs. 1 und 2 Satz 2 OWiG) bestehen erhebliche Bedenken. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verlangt keine derartige Ausdehnung des Akteneinsichtsrechts. Wenn sich der Beschuldigte ohne vollständige Akteneinsicht nicht ausreichend verteidigen kann, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Bislang muss von Personen ohne Rechtsbeistand zunächst grundsätzlich vorgebracht werden, in welche Aktenteile sie Einsicht nehmen möchten, sodass konkret geprüft werden muss, ob diese beschränkte Einsicht gewährt werden kann. Vor jeder Gewährung der künftig grundsätzlich unbeschränkten Akteneinsicht müsste hingegen geprüft werden, ob dem Antragsteller Akteneinsicht in bestimmte Teile der Akte verwehrt werden kann oder muss; alle Aktenteile müssten etwa auf Anschriften von Zeugen (vgl. § 200 StPO) oder sonstige schützenswerte oder geheimhaltungsbedürftige (insbesondere personenbezogene) Angaben durchsucht werden. Dies würde zu einem erheblich erhöhten Zeit- und Arbeitsaufwand führen, der mit dem vorhandenen Personal nicht zu bewältigen wäre. Auch das mit der geplanten Regelung verbundene Risiko einer Entprofessionalisierung der Verteidigung könnte eine nicht unerhebliche Mehrbelastung gerade der Amtsgerichte zur Folge haben. Schließlich würde auch die Verhinderung der Verbreitung des Akteninhalts etwa im Internet (wie sie der Gesetzentwurf ebenfalls anstrebt, vgl. § 32f Abs. 3 StPO-E) in weite Ferne gerückt.

6. Wir weisen darauf hin, dass durch die geplante Beschränkung des Datenabgleichs (§ 498 Abs. 2 StPO-E) auf zuvor individualisierte Akten wichtige Ermittlungsansätze abgeschnitten werden könnten, ohne dass dies durch datenschutzrechtliche Vorgaben zwingend geboten wäre. Es würde etwa die Zuordnung von Serientaten eines bestimmten Täters unverhältnismäßig erschwert. Der Bundesrat schlägt hier eine Beschränkung auf die jeweilige Strafverfolgungsbehörde vor (BT-Drs. 18/9416, S. 94 zu Nr. 10). Dieser Vorschlag sollte aus unserer Sicht ebenso ernsthaft erwogen werden, wie eine Ausdehnung auf einen überregionalen Datenabgleich.
Durch die technischen Möglichkeiten eines Datenabgleichs werden Strafverfolgungsbehörden erstmals in die Lage versetzt, auch überörtlich agierende Straftäter in angemessener Weise zu verfolgen. Derzeit scheitern vielfach noch erfolgreiche Ermittlungen daran, dass die – namentlich nicht bekannten – Täter in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Behörde weiterziehen und die Ermittlungsbehörden keine Kenntnis von den Ermittlungen der anderen Behörden haben.

7. Der Deutsche Richterbund unterstützt die Forderung des Bundesrats, die Einsicht in die elektronische Akte im Wege der Bereitstellung des Inhalts zum Abruf an Gebühren zu knüpfen, um einen kostendeckenden Betrieb des derzeit entwickelten Akteneinsichtsportals sicherzustellen.