# 30/12

Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen (Stand: 18.11.2012)

Der Deutsche Richterbund (DRB) bedankt sich für die Übersendung des oben genannten Referentenentwurfs (RefE) und nimmt hierzu wie folgt Stellung:

1. Bereits in unserer Stellungnahme vom Juli 2012 Nr. 22/12 zum damaligen Diskussionsentwurf (DiskE) hatten wir zum Ausdruck gebracht, dass der DRB die Intention des Gesetzentwurfs, den Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologie auch im Bereich des Strafverfahrens zu ermöglichen, unterstützt und die Bedeutung der Nutzung der Vorteile für die Verfahrensführung und die funktionsgerechte Unterstützung der täglichen Arbeit der Anwender in den Gerichten und Staatsanwaltschaften unterstrichen. Ergänzend verweisen wir auf unsere Stellungnahme Nr. 28/12 zum Referentenentwurf des BMJ eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom November 2012 und unsere Stellungnahme Nr. 4/12 zur E-Justice-Bundesratsinitiative vom Februar 2012.

2. Wir begrüßen, dass bereits einige unserer Anmerkungen aus der Stellungnahme Nr. 22/12 im aktuellen Gesetzentwurf aufgegriffen wurden. Die Streichung der Ausnahme bei „unverhältnismäßigem technischem Aufwand“ im neuen § 32d Abs. 1 StPO-E (früher § 32b Abs. 1 StPO-E) ist sachgerecht. Durch die für Beweismittel eingeführte Kann-Regelung (§ 32d Abs. 1 Satz 2 StPO-E) wird eine Entscheidung im Einzelfall ermöglicht (worauf auch in der Begründung auf S. 64 näher eingegangen wird). Zu begrüßen ist auch, dass die Regelungen in § 32a StPO-E an § 130a ZPO-E des Referentenentwurfs des BMJ zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten angeglichen wurden.
Auch die Einführung einer Verordnungsermächtigung zur bundeseinheitlichen Festlegung der Übermittlungsstandards für die Aktenübermittlung in § 32 Abs. 3 StPO-E durch Rechtsverordnung unter Zustimmung des Bundesrats ist sachgerecht. Auf diese Weise sind die Justizverwaltungen der Länder ausreichend eingebunden. Die Festlegung durch Rechtsverordnung trägt darüber hinaus verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung. Hierbei sind alle relevanten Erkenntnisse – insbesondere von fachkundigen Gremien – zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung der Beschlüsse des IT-Planungsrates sollte hierbei aber nicht herausgehoben werden. Ansonsten müsste – worauf wir bereits in unserer Stellungnahme Nr. 22/12 hingewiesen hatten – zumindest gleichberechtigt auch der E-Justice-Rat aufgenommen werden, der eigens u. a. hierfür eingerichtet wurde.
Insbesondere die folgenden Punkte geben aber Veranlassung zu einer erneuten Stellungnahme:

3. Wenn im Anschreiben zum vorliegenden Gesetzentwurf ausgeführt wird, dass es Aufgabe des Gesetzentwurfs sei, „den rechtlichen Rahmen für die elektronische Aktenführung zu schaffen, nicht aber die technische und organisatorische Umsetzung im Einzelnen zu regeln“, muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Umsetzung des rechtlichen Rahmens der elektronischen Aktenführung wesentlich von den vorhandenen technischen Möglichkeiten abhängt. Die technische Machbarkeit muss bei der Normierung daher zwingend berücksichtigt werden. Die sich bei der flächendeckenden Umstellung auf – führende – elektronische Akten in einem so sensiblen Bereich wie dem Strafprozess stellenden zahlreichen technischen Probleme müssen vor Einführung einer gesetzlichen Regelung auf der Grundlage von Pflichtenheften gelöst werden, die die Bedürfnisse der Anwender, d. h. insbesondere der Polizeibeamten, Staatsanwälte und Richter, aber auch der übrigen in der Justiz Beschäftigten wiedergeben. In Bezug auf erfahrungsgemäß erst während der Einführungsphase auftretender Probleme müssen belastbare Prognosen und realistische Verfahren zur Behebung entwickelt werden. Ohne diese Vorarbeiten, die Eingang in die gesetzlichen Regelungen finden sollten und deren Durchführung – soweit sie schon abgeschlossen ist – in der Gesetzesbegründung niedergelegt werden sollten, dürfte das ambitionierte Projekt einer flächendeckenden Einführung von E-Akten im Strafprozess keine realistischen Umsetzungschancen haben.

4. Bereits mit unserer Stellungnahme Nr. 22/12 hatten wir darauf hingewiesen, dass die veranschlagten Kosten auf der Grundlage lediglich der Anschaffungskosten für Arbeitsplatzrechner den tatsächlichen Anforderungen an die flächendeckende Einführung von E-Akten in keiner Weise gerecht werden. Im aktuellen RefE wurden die im DiskE veranschlagten Kosten sogar noch einmal nach unten korrigiert. Der RefE hat sich damit weiter von einer realitätsnahen Abschätzung des entstehenden Kostenaufwands entfernt. Die Begründung widerspricht sich auch selbst, wenn sie im Folgenden auf die besonderen Erfordernisse eines E-Akten-Arbeitsplatzes, Kosten für die Ausstattung der Sitzungssäle usw. eingeht. Die im Zuge der flächendeckenden Einführung der elektronischen Aktenführung und des elektronischen Rechtsverkehrs entstehenden Datenmengen können mit den derzeit vorhandenen Mitteln (auch in Bezug auf das EGVP) nicht bewältigt werden. Hierfür und für technische Vorkehrungen gegen die Manipulation von Akteninhalten werden nicht unerhebliche finanzielle Mittel aufgewendet werden müssen.
Wir verweisen daher noch einmal ausdrücklich auf die Darlegungen in unserer Stellungnahme Nr. 22/12. Eine Deckung der entstehenden Investitionskosten zulasten der Personalhaushalte würde das gesamte Projekt in Frage stellen. Ein so ambitioniertes Projekts wie die flächendeckende Umstellung auf elektronische Aktenführung kann nur mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden, wenn es auf einer realistischen Planung beruht. Dies ist derzeit in Bezug auf die in der Begründung veranschlagten Kosten nicht der Fall.

5. Bereits in unserer Stellungnahme Nr. 28/12 zum Referentenentwurf des BMJ eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten unter Punkt 3 hatten wir auf die Bedeutung von Pilotierungen hingewiesen. Dies gilt in verstärktem Maße für die Einführung von elektronischen Akten. Die Erfahrungen bei den bisherigen Projekten im Zusammenhang mit dem elektronischen Rechtsverkehr und der Umstellung auf elektronische Aktenführung (z. B. beim Mahnverfahren oder beim Grundbuch) haben gezeigt, dass die Durchführung von Modellprojekten im Echtbetrieb und Probeläufe in den jeweiligen konkreten Staatsanwaltschaften und Gerichten zwingend erforderlich sind, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Gerade im Strafprozess kann das Risiko unvorhergesehener technischer Schwierigkeiten, die den Dienstbetrieb erheblich beeinträchtigen ko?nnen, nicht hingenommen werden.

6. Unsere Kritik an der Verpflichtung zur Sicherstellung, „dass Unbefugte im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen ko?nnen“ in § 32e Abs. 3 StPO-E (vgl. unsere Stellungnahme Nr. 22/12 unter Ziffer 8 zu § 32d Abs. 3 der Vorfassung), wurde nicht berücksichtigt. Ergänzend zu unserer Stellungnahme Nr. 22/12 ist darauf hinzuweisen, dass die derzeitige Formulierung – unabhängig von der tatsächlichen Unmöglichkeit ihrer Einhaltung – auch anfällig ist für die Geltendmachung von Schadensersatz- und Unterlassungsansprüchen (etwa von in den Akten erfassten Zeugen oder sonstigen Betroffenen) bei – ggf. angeblichen – Verstößen gegen die in § 32e Abs. 3 StPO-E geregelte Verpflichtung. Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der jüngeren Vergangenheit – nicht nur in Einzelfällen – der Inhalt bestimmter  Verfahrensakten sogar in den Medien veröffentlicht wurde, z. T. sogar bevor die übrigen Verfahrensbeteiligten überhaupt selbst Kenntnis davon hatten. Der Hinweis in der Begründung auf S. 71, dass die Sicherstellung durch "geeignete Konfiguration der Hard- oder Software" (wessen Hard- oder Software?) oder durch Wiedergabe einer Kopie erfolgen soll, ist vor diesem Hintergrund wenig realitätsnah.

7. Gegen die Regelung der Akteneinsicht für nicht verteidigte Beschuldigte (§ 147 Abs. 4 StPO-E) und Verletzte (§ 406e Abs. 3 StPO-E) bestehen aus unserer Sicht erhebliche Bedenken. Bislang muss von Personen ohne Rechtsbeistand zunächst grundsätzlich vorgebracht werden, in welche Aktenteile sie Einsicht nehmen möchten, so dass konkret geprüft werden muss, ob diese beschränkte Einsicht gewährt werden kann. Künftig würde sich dieser Grundsatz umdrehen: Vor jeder Gewährung der grundsätzlich unbeschränkten Akteneinsicht müsste von den Staatsanwaltschaften/Gerichten geprüft werden, ob dem konkreten Antragsteller Akteneinsicht in bestimmte Teile der Akte verwehrt werden kann oder muss (§ 147 Abs. 4 und § 406e StPO-E); alle Aktenteile müssten etwa auf Anschriften von Zeugen (vgl. § 200 StPO) oder sonstige schützenswerte oder geheimhaltungsbedürftige (insbesondere personenbezogene) Angaben durchsucht werden. Insbesondere in Verfahren mit umfangreichen Akten oder in Fällen, in denen der Beschuldigte oder Verletzte selbst Akteneinsicht beantragt,  bevor er einen Verteidiger bzw. Beistand hat, würde dies zu einem erheblich erhöhten Zeit- und Arbeitsaufwand führen, der mit dem vorhandenen Personal nicht zu bewältigen wäre.
Auch die Verhinderung der Verbreitung des Akteninhalts – z. B. im Internet – rückt so in noch weitere Ferne. Zumindest aber müsste die Strafbarkeit einer solchen Verbreitung angemessen neu geregelt werden. Auch vor diesem Hintergrund dürfte die Forderung nach der Sicherstellung, "dass Unbefugten im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen können", noch weniger Aussichten auf Umsetzung haben.
Wir bitten daher auch um Überprüfung, ob die Akteneinsicht durch nicht verteidigte Beschuldigte und Verletzte auf justizeigene Terminals beschränkt werden kann. Außerdem müsste in die gesetzliche Regelung der Akteneinsicht aufgenommen werden, dass die Einsicht bei der elektronischen Akte lediglich in – mit der bei der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht geführten Akte identische – Kopien erfolgen darf. Andernfalls wäre das Risiko von Manipulationen nicht zu beherrschen.

8. § 229 StPO sollte ergänzt werden für Fälle, in denen die Hauptverhandlung nicht fortgesetzt werden kann, weil auf die elektronische Akte aus technischen Gründen vorübergehend nicht zugegriffen werden kann, z. B. weil das Rechenzentrum ausgefallen ist.

9. Hinsichtlich der künftig vorgesehenen Zustellung gegen automatisierte Eingangsbestätigung verweisen wir auf unsere Stellungnahme Nr. 28/12 unter Punkt 9. Insbesondere bei der Gewährung von Akteneinsicht dürfte ein Interesse der Verteidiger (bzw. Beistände) daran bestehen, dass von der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht gesetzte Fristen erst nach tatsächlicher Kenntnisnahme von der Fristsetzung durch den Verteidiger (Beistand) zu laufen beginnen.

10. Auch in Bezug auf die Notwendigkeit von Pilotierungen verweisen wir auf unsere Stellungnahme Nr. 22/12 (insbesondere unter Punkt 1.a. und 2.).

11. Schließlich müssen die Regelungen zur Barrierefreiheit erweitert werden. Auch hierzu verweisen wir auf unsere Stellungnahme Nr. 28/12 unter Punkt 4.

gez. Dr. Bernhard Joachim Scholz, Mitglied des DRB-Präsidiums